Die Realität wird für diese Regierung zum Spiegelkabinett, in dem sie sich selbst, die eigenen Gedanken und Ideologeme immer wieder sieht. Ist es noch Einbildungskraft oder schon ernsthafte Sichtbeschränkung, Genie oder Wahnsinn? Im Grunde ist es aber weniger die Regierung, die in diesem Spiegelsaal feststeckt, als der Bürger, der immer unzureichender über Vorgänge im eigenen Land und an den eigenen Grenzen informiert wird.
Die in Berlin regierende „Fortschrittskoalition“ hat es binnen weniger Wochen geschafft, die illegale, meist auf Asyl gestützte Migration nach Deutschland abzuschaffen, sie praktisch zum Verschwinden zu bringen. Wie gelang ihr das? Durch Umdeklaration. Dass die eigenen Begriffe einem da schon mal durcheinandergeraten, zeigte die jüngste parlamentarische Frage des Abgeordneten Harald Weyel (AfD) beziehungsweise die zugehörige Antwort des Bundesinnenministeriums (BMI).
Allerdings ist das vielleicht die geringste Sorge, die der Umgang mit dieser Flucht- und Migrationskrise auslöst. Denn eines macht viel mehr Sorge: Die Wirklichkeit wird in diesen Tagen radikal umdeklariert.
Schon jetzt könnten es weitaus mehr als 250.000 sein
In den ersten vier Wochen des Ukraine-Kriegs, vom 24. Februar bis zum 24. März, kamen in Deutschland 253.157 Flüchtlinge mit Ukraine-Bezug an, von denen allerdings – laut internen Zahlen der Bundespolizei – nur 240.587 die ukrainische Staatsangehörigkeit hatten. Die Bundespolizei stellte also insgesamt 12.570 Drittstaater in vier Wochen fest, die zwar laut Sprachregelung einen „Ukraine-Bezug“ aufwiesen, aber keine Ukrainer waren. Das sind rund fünf Prozent aller „Geflüchteten“. Höchst unwahrscheinlich ist, dass es zehn Tage zuvor nur ein Fünftel dieser Zahl waren. Übrigens: Ginge es ein ganzes Jahr in dieser Dynamik weiter, wären insgesamt 164.000 Nicht-Ukrainer nach Deutschland gekommen.
Allein die Bundespolizeidirektion Berlin stellte in einem vergleichbaren Vier-Wochen-Zeitraum 4.618 Drittstaater fest, die allermeisten fielen den Beamten in Frankfurt (Oder), also direkt an der polnischen Grenze auf. An den Berliner Bahnhöfen waren es dagegen nur insgesamt 60 Drittstaater, was dann doch erstaunt, aber auch wieder nicht erstaunen kann: Es gibt ja nun einmal keine Bundespolizisten, die am Hauptbahnhof systematisch kontrollieren, wer ankommt. Sie sind dort nicht gewollt.
Einführung des „Ukraine-Bezugs“ kehrte die Beweislast um
So viel zu den Fakten, soweit sie für uns dank Feststellungen greifbar sind. Das viel Gravierendere an der heutigen Lage ist etwas anderes: Migranten ohne „Ukraine-Bezug“ kommen in diesem internen Zahlenwerk der Bundespolizei zurzeit gar nicht mehr vor. Sie sind so abgeschafft worden wie die Grippe in Zeiten von Corona, ganz nach dem Motto: Wir kennen keine Nationen mehr, nur noch „Geflüchtete“ mit „Ukraine-Bezug“.
Das ist der eigentliche Skandal hinter dem Zahlengewirr oder den Zahlentricksereien des Innenministeriums. Die illegale Migration, die Deutschland nach wie vor trifft, ist heute zur Gänze in das Kontingent „Drittstaatsangehörige mit einem Bezug zur Ukraine“ eingegangen. Schon allein das zeigt eine Verwilderung des Denkens, die allerdings von oben gewollt scheint. Oben ist in diesem Fall Alt-Moabit, der Sitz des Bundesinnenministeriums. Neben der legitimen Flucht der Ukrainer erlebt Deutschland in diesen Wochen vielleicht den größten Ansturm illegaler Migranten seit Jahren – und niemand darf es bemerken.
Die „Beweislast“ wurde gewissermaßen umgekehrt. Die Großzügigkeit des Innenministeriums lässt alle Migranten mindestens fürs Erste zu „Drittstaatern mit Ukraine-Bezug“ werden, was eine Zumutung ebenso für die echten Ukrainer wie auch für die deutschen Bürger ist. Eine Zumutung ist es darüber hinaus auch für den dienstleistenden Bundespolizisten, von dem die genannten Beweise nun gefordert werden, damit er eine Strafanzeige stellen kann, wie er es eigentlich müsste.
Man konnte all das wissen, seit Nancy Faeser betonte, dass der Flüchtlingsschutz nicht nur für Ukrainer gelten würde, sondern ausdrücklich auch für Drittstaater, die sich bei Kriegsbeginn in der Ukraine aufhielten. Bis zum 23. Mai – solange gilt die bundesweite Regelung des Innenministeriums – sind damit die normalen Asylgesetze und -statistiken außer Kraft gesetzt, kraft der Voraussicht einer Ministerin und der Schlauheit der Migranten, die wissen, dass das Zauberwort nun fürs Erste nicht mehr „Asyl“ lautet, sondern „Ukraine“.
In Berlin kommen Geflüchtete ohne Geschlecht oder Nationalität an
Den Hauptteil der Kontrollarbeit leisten in Berlin und Brandenburg in der Tat die Frankfurter Bundespolizisten, die bis zum 26. März etwas mehr als 4.000 Drittstaater an die Berliner Zentrale meldeten. In beiden Bundesländern handelt es sich keineswegs um lückenlose Kontrollen. Der Auto- und Busverkehr ist davon praktisch nicht betroffen. Ein findiger illegaler Migrant oder Schlepper würde also vermutlich einen PKW oder Kleinbus nehmen, um zunächst einmal ungestört nach Deutschland einzureisen.
In Bundespolizeikreisen macht man sich über all das keine Illusionen, ganz nach dem Motto: „Trau keiner Statistik, die du nicht selbst verfälscht hast.“ Die Zahlen, wie sie nun außerhalb Bayerns vorliegen, sind keine geeignete Arbeitsgrundlage. Denn über die absoluten Zahlen von Ukrainern wie Nicht-Ukrainern ist man schlichtweg nicht informiert. „Wir stellen das ja nicht fest, wir dürfen das ja nicht feststellen. Das ist uns ja untersagt vom BMI“, meint Heiko Teggatz, der Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), dazu.
Denn wenn man das im Ministerium wollte, könnte es natürlich schon überall an deutschen Grenzen stationäre Kontrollen geben, nicht nur, wo Menschen von Österreich nach Bayern reisen. Dass trotzdem Busladungen mit nicht-europäischen Migranten in Garmisch und Freilassing ankamen, steht auf einem anderen Blatt. Das ist ein weiteres Regelungsfeld, das die „Fortschrittskoalition“ nicht bearbeitet: Wie verhindere ich illegale Einreisen?