Tichys Einblick
Fortschritt durch Umdeklaration

Wie aus illegalen Migranten „Geflüchtete“ wurden und der „Ukraine-Bezug“ die Beweislast umkehrt

Mit der polit-medialen Offensive zur Ukraine-Flucht gelang es der Bundesregierung, eines ihrer Ziele in Rekordzeit zu erreichen: die Vermischung von echter Flucht und illegaler Migration sowie die Entkriminalisierung der Letzteren. Deutschland erlebt vielleicht den größten Ansturm illegaler Migranten seit Jahren – unbemerkt.

IMAGO / ZUMA Wire

Die Realität wird für diese Regierung zum Spiegelkabinett, in dem sie sich selbst, die eigenen Gedanken und Ideologeme immer wieder sieht. Ist es noch Einbildungskraft oder schon ernsthafte Sichtbeschränkung, Genie oder Wahnsinn? Im Grunde ist es aber weniger die Regierung, die in diesem Spiegelsaal feststeckt, als der Bürger, der immer unzureichender über Vorgänge im eigenen Land und an den eigenen Grenzen informiert wird.

Die in Berlin regierende „Fortschrittskoalition“ hat es binnen weniger Wochen geschafft, die illegale, meist auf Asyl gestützte Migration nach Deutschland abzuschaffen, sie praktisch zum Verschwinden zu bringen. Wie gelang ihr das? Durch Umdeklaration. Dass die eigenen Begriffe einem da schon mal durcheinandergeraten, zeigte die jüngste parlamentarische Frage des Abgeordneten Harald Weyel (AfD) beziehungsweise die zugehörige Antwort des Bundesinnenministeriums (BMI).

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Denn während Weyel, der europapolitischer Sprecher seiner Fraktion ist, eindeutig nach „irregulären und/oder mit Registrierung als Asylbewerber“ eingereisten Personen gefragt hatte, schrieb das BMI zurück, dass vom 24. Februar bis zum 14. März insgesamt 2.497 „Personen, die nicht die ukrainische Staatsbürgerschaft besitzen“, also Nicht-Ukrainer, nach Deutschland eingereist seien und von der Bundespolizei festgestellt wurden. Das war, wie Quellen aus der Bundespolizei belegen, nicht die Wahrheit. Es war schon zum Zeitpunkt der Aussage extrem unwahrscheinlich, doch inzwischen darf es als widerlegt gelten. Die Zahl der eingereisten und festgestellten Nicht-Ukrainer dürfte sich inzwischen tatsächlich auf die 15.000 zubewegen.

Allerdings ist das vielleicht die geringste Sorge, die der Umgang mit dieser Flucht- und Migrationskrise auslöst. Denn eines macht viel mehr Sorge: Die Wirklichkeit wird in diesen Tagen radikal umdeklariert.

Schon jetzt könnten es weitaus mehr als 250.000 sein

In den ersten vier Wochen des Ukraine-Kriegs, vom 24. Februar bis zum 24. März, kamen in Deutschland 253.157 Flüchtlinge mit Ukraine-Bezug an, von denen allerdings – laut internen Zahlen der Bundespolizei – nur 240.587 die ukrainische Staatsangehörigkeit hatten. Die Bundespolizei stellte also insgesamt 12.570 Drittstaater in vier Wochen fest, die zwar laut Sprachregelung einen „Ukraine-Bezug“ aufwiesen, aber keine Ukrainer waren. Das sind rund fünf Prozent aller „Geflüchteten“. Höchst unwahrscheinlich ist, dass es zehn Tage zuvor nur ein Fünftel dieser Zahl waren. Übrigens: Ginge es ein ganzes Jahr in dieser Dynamik weiter, wären insgesamt 164.000 Nicht-Ukrainer nach Deutschland gekommen.

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Tatsächlich könnten diese Zahlen schon heute weitaus höher liegen, was wiederum mit der Unlust der Innenministerin an einer systematischen Erfassung und Registrierung der Ankommenden liegt. Genau wissen wird man all das vermutlich erst in 40 bis 90 Tagen. So lange hängen auch deutsche Städte und Kommunen in der Schwebe, weil sie nicht wissen, für wie viele Menschen sie Unterkünfte, Versorgung usw. planen müssen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Erste Parlamentarische Geschäftsführer Thorsten Frei warnte dieser Tage genau davor: „Wir können doch nicht erst in 90 Tagen feststellen, dass möglicherweise nicht 260.000, sondern 500.000 Menschen im Land sind. Die Bundesinnenministerin hat die Dimension der Flucht immer wieder unterschätzt und überlässt damit die Aufnahme und Unterstützung der Flüchtlinge dem Zufall.“

Allein die Bundespolizeidirektion Berlin stellte in einem vergleichbaren Vier-Wochen-Zeitraum 4.618 Drittstaater fest, die allermeisten fielen den Beamten in Frankfurt (Oder), also direkt an der polnischen Grenze auf. An den Berliner Bahnhöfen waren es dagegen nur insgesamt 60 Drittstaater, was dann doch erstaunt, aber auch wieder nicht erstaunen kann: Es gibt ja nun einmal keine Bundespolizisten, die am Hauptbahnhof systematisch kontrollieren, wer ankommt. Sie sind dort nicht gewollt.

Einführung des „Ukraine-Bezugs“ kehrte die Beweislast um

So viel zu den Fakten, soweit sie für uns dank Feststellungen greifbar sind. Das viel Gravierendere an der heutigen Lage ist etwas anderes: Migranten ohne „Ukraine-Bezug“ kommen in diesem internen Zahlenwerk der Bundespolizei zurzeit gar nicht mehr vor. Sie sind so abgeschafft worden wie die Grippe in Zeiten von Corona, ganz nach dem Motto: Wir kennen keine Nationen mehr, nur noch „Geflüchtete“ mit „Ukraine-Bezug“.

Das ist der eigentliche Skandal hinter dem Zahlengewirr oder den Zahlentricksereien des Innenministeriums. Die illegale Migration, die Deutschland nach wie vor trifft, ist heute zur Gänze in das Kontingent „Drittstaatsangehörige mit einem Bezug zur Ukraine“ eingegangen. Schon allein das zeigt eine Verwilderung des Denkens, die allerdings von oben gewollt scheint. Oben ist in diesem Fall Alt-Moabit, der Sitz des Bundesinnenministeriums. Neben der legitimen Flucht der Ukrainer erlebt Deutschland in diesen Wochen vielleicht den größten Ansturm illegaler Migranten seit Jahren – und niemand darf es bemerken.

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Allein die Bundespolizeidirektion Berlin, der auch die Brandenburger Grenzabschnitte unterstehen, berichtet von 1.362 erkennungsdienstlichen Behandlungen in vier Wochen. Dieses Verfahren greift dann, wenn der Einreisende entweder gar keine Papiere vorweist oder erkennbar keinen Ukraine-Bezug hat. Auch Zweifelsfälle gehen in diese Liste ein, wo ein Migrant behauptet, seine ukrainischen Papiere seien verbrannt oder sonstwie abhandengekommen. Insofern verwundert es kaum noch, dass die 226 spontanen Strafanzeigen, die man im gleichen Zeitraum in Berlin-Brandenburg ausstellte, da mengenmäßig etwas hinterherhinken.

Die „Beweislast“ wurde gewissermaßen umgekehrt. Die Großzügigkeit des Innenministeriums lässt alle Migranten mindestens fürs Erste zu „Drittstaatern mit Ukraine-Bezug“ werden, was eine Zumutung ebenso für die echten Ukrainer wie auch für die deutschen Bürger ist. Eine Zumutung ist es darüber hinaus auch für den dienstleistenden Bundespolizisten, von dem die genannten Beweise nun gefordert werden, damit er eine Strafanzeige stellen kann, wie er es eigentlich müsste.

Man konnte all das wissen, seit Nancy Faeser betonte, dass der Flüchtlingsschutz nicht nur für Ukrainer gelten würde, sondern ausdrücklich auch für Drittstaater, die sich bei Kriegsbeginn in der Ukraine aufhielten. Bis zum 23. Mai – solange gilt die bundesweite Regelung des Innenministeriums – sind damit die normalen Asylgesetze und -statistiken außer Kraft gesetzt, kraft der Voraussicht einer Ministerin und der Schlauheit der Migranten, die wissen, dass das Zauberwort nun fürs Erste nicht mehr „Asyl“ lautet, sondern „Ukraine“.

In Berlin kommen Geflüchtete ohne Geschlecht oder Nationalität an

Den Hauptteil der Kontrollarbeit leisten in Berlin und Brandenburg in der Tat die Frankfurter Bundespolizisten, die bis zum 26. März etwas mehr als 4.000 Drittstaater an die Berliner Zentrale meldeten. In beiden Bundesländern handelt es sich keineswegs um lückenlose Kontrollen. Der Auto- und Busverkehr ist davon praktisch nicht betroffen. Ein findiger illegaler Migrant oder Schlepper würde also vermutlich einen PKW oder Kleinbus nehmen, um zunächst einmal ungestört nach Deutschland einzureisen.

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Eine weitere Pointe: Auch wenn ein illegaler Migrant mit dem Fernreisebus einreist und am Zentralen Omnibusbahnhof (ZOB) in Berlin aussteigt, ist die Bundespolizei dort nicht für ihn zuständig. Es wäre die Aufgabe der Berliner Landespolizei, dort Kontrollen durchzuführen. Selbstredend kann davon nicht die Rede sein. In allen Pressemitteilungen des Landes Berlin zum Thema geht es lediglich um die „Unterbringung und Versorgung von aus der Ukraine Geflüchteten“. Sprachlich gesehen, haben diese Flüchtlinge noch nicht einmal einen Artikel, geschweige denn ein Geschlecht oder eine Nationalität.

In Bundespolizeikreisen macht man sich über all das keine Illusionen, ganz nach dem Motto: „Trau keiner Statistik, die du nicht selbst verfälscht hast.“ Die Zahlen, wie sie nun außerhalb Bayerns vorliegen, sind keine geeignete Arbeitsgrundlage. Denn über die absoluten Zahlen von Ukrainern wie Nicht-Ukrainern ist man schlichtweg nicht informiert. „Wir stellen das ja nicht fest, wir dürfen das ja nicht feststellen. Das ist uns ja untersagt vom BMI“, meint Heiko Teggatz, der Vorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), dazu.

Denn wenn man das im Ministerium wollte, könnte es natürlich schon überall an deutschen Grenzen stationäre Kontrollen geben, nicht nur, wo Menschen von Österreich nach Bayern reisen. Dass trotzdem Busladungen mit nicht-europäischen Migranten in Garmisch und Freilassing ankamen, steht auf einem anderen Blatt. Das ist ein weiteres Regelungsfeld, das die „Fortschrittskoalition“ nicht bearbeitet: Wie verhindere ich illegale Einreisen?

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