Einen der überraschendsten außen- und verteidigungspolitischen Kurswechsel der jüngeren deutschen Geschichte haben in den letzten Wochen neben der SPD vor allem die Grünen hingelegt. In ihrem Wahlprogramm des Jahres 2021 ist gendergerecht zu lesen:
„Unsere Außen- und Sicherheitspolitik zielt darauf, Konflikte zu verhindern und setzt deshalb auf Vorausschau gemäß der VN-Agenda für nachhaltige Entwicklung. Deutschland soll bei der politischen Entschärfung von Konflikten und in der zivilen Konfliktbearbeitung auf globaler Ebene eine treibende Kraft werden … Wir wollen eine permanente und schnell einsatzbereite Reserve an EU-Mediator*innen und Expert*innen für Konfliktverhütung, Friedenskonsolidierung und Mediation aufbauen.“
In Interviews hat Baerbock verschiedentlich erzählt, sie sei schon als Kind von ihren Eltern zu den Friedensdemonstrationen der 1980er Jahre mitgenommen worden, die sich damals in aller Regel gegen die Rüstungspolitik der USA und der Nato, allem voran die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen in Deutschland richteten. So ist sie schließlich bei den pazifistischen Grünen gelandet, die damals die USA und nicht die noch bestehende Sowjetunion imperialistischer Bestrebungen bezichtigten. Dieser Weg in die Politik und die mit ihm verbundene pazifistische Weltsicht dürften für fast alle politischen Amtsträger der Grünen (wie auch der Sozialdemokraten) von heute typisch sein. Sie alle haben nicht nur den Pazifismus, sondern auch den Anti-Amerikanismus gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen.
Von den politischen Gegnern im konservativen und liberalen Lager wird dieser grüne Gesinnungs- und Politikwandel als ein Ankommen in der Realpolitik begrüßt und etwa vom Vorsitzenden der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, der für ein direktes militärisches Engagement der Nato in der Ukraine plädiert, ausdrücklich gelobt. Andere Kommentatoren trauen dem Braten hingegen nicht und stellen, wie etwa Claus Christian Malzahn in der Welt vom 17. März, die Frage, ob die Grünen angesichts des Widerspruchs zwischen ihrer pazifistischen Ideologie und der bellizistischen Wende ihrer führenden Politiker bald vor einer Zerreißprobe stehen werden. Sie könnte eintreten, sollten weite Teile der Mitglieder und Anhänger der Grünen diesen Kurswechsel ihrer Parteiführung auf Dauer nicht mittragen und an ihrem Pazifismus, wahrscheinlich bereinigt um den mit ihm bislang verbundenen Anti-Amerikanismus, festhalten.
Gegen diese Entwicklung spricht allerdings, dass sich die Realisierungschancen anderer Bestandteile der grünen Ideologie und Agenda durch Putins Angriff auf die Ukraine eher verbessern als verschlechtern. So erkennt etwa der frühere grüne Außenminister Joschka Fischer in diesem Angriff eine Zäsur für die Europäische Union (EU) und sagt in einem Interview mit der Welt, ebenfalls vom 17. März: „Die EU wird sich vom gemeinsamen Markt zum geopolitischen Akteur entwickeln müssen“, was vor allem Deutschland bislang blockiert habe. Diese Blockade ist, wie Fischer betont, seit der bellizistischen Wende der Ampel-Regierung nicht mehr existent. Das mache „es realistisch, dass diese Transformation stattfinden wird“. Ob die Entwicklung der EU zum geopolitischen Akteur auch den Aufbau einer atomaren Bewaffnung unter deutscher Beteiligung miteinschließen müsste, wird er vom Interviewer nicht gefragt. Ein solcher Schritt liegt aber voll in der Logik seiner Argumentationslinie. Wie soll der neue geopolitische Akteur EU ohne eigene Atomwaffen den anderen geopolitischen Atommächten Russland und China Paroli bieten können?
Mit anderen Worten: Der von den Grünen herbeigesehnte Ausbau der EU zu einem geopolitischen Akteur hat laut Fischer zur Voraussetzung, dass die EU-Mitgliedsländer sich nicht nur als Wirtschaftsmacht, sondern auch als eine militärische Macht gegen einen gemeinsamen Feind in Gestalt des atomar bewaffneten imperialistischen Russlands aufstellen. Gleiches könnte erforderlich werden, sollte China sich imperialistischer als bisher gebärden. Den bisherigen anti-amerikanischen Pazifismus sollten seine Parteifreunde aufgeben, wenn sich durch einen kriegerischen Konflikt wieder einmal die eher seltene, um nicht zu sagen einmalige historische Chance zur Bildung einer neuen Großmacht bietet, deren Selbstverständnis kein pazifistisches sein kann.
Noch wichtiger für die Beibehaltung ihres bellizistischen Kurswechsels dürfte für die Grünen aber der Umstand sein, dass durch Putins Angriff auf die Ukraine wider Erwarten das von ihnen abgelehnte Nord-Stream-2-Projekt gestoppt werden konnte. Desweiteren kann der Druck auf den Ausbau der erneuerbaren Energien, allen voran der Windkraft, nun mit Hilfe des Arguments drastisch erhöht werden, der Kauf und die Nutzung fossiler Energieträger aus Russland dienten dem militärischen Feind. Eine gänzlich unverhoffte und noch etwas ungewohnte Begründungshilfe für den schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien, die nicht mehr zur Verfügung stünde, sollte sich der Konflikt mit Russland wieder entspannen. Dies dürfte angesichts der drohenden Klima-Apokalypse vielen Grünen die einst gepriesene Entspannungspolitik in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen.
Fassen wir zusammen: Der plötzliche bellizistische Kurswechsel der Grünen ist zwar sicherlich in erster Linie dem Realitätsschock geschuldet, den Putin nicht nur in Deutschland mit seinem Angriffskrieg ausgelöst hat. Paradoxerweise wirkt dieser Angriffskrieg für das grüne Transformationsprojekt, das neben der Energiewende auch den Ausbau der EU zu einer geopolitischen Großmacht auf der Agenda hat, gleichzeitig wie eine Art Katalysator. Von daher ist es gut möglich, dass die Grünen nun dauerhaft zu anti-russischen, demnächst vielleicht auch anti-chinesischen Bellizisten werden. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass auch das grüne Transformationsprojekt von der Wirklichkeit entzaubert wird wie der grüne Pazifismus.