Tichys Einblick
Der Westen muss zu sich selbst finden

Zeit für Ernsthaftigkeit: Was zu tun ist

Psychologische Analysen helfen nicht weiter. Weiter hilft nur, dass der Westen sich selbst befragt, denn seine große Stärke besteht darin, dass er ein lernfähiges System ist. Um ein Wort von Carl Schmitt zu variieren, Putin wird uns zu unserer eigenen Frage als Gestalt.

IMAGO/Panthermedia

In einem ist Olaf Scholz uneingeschränkt beizupflichten, es ist Putins Krieg. Diese Erkenntnis führt zu der allerdings beunruhigenden Feststellung, dass rationale Umgangsformen und Mechanismen zumindest partiell außer Kraft gesetzt sind. Es existiert in der russischen, in Putins Politik ein Maß an Irrationalität. Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut, hatte einst Lord Acton geschrieben. Tolkiens „Herr der Ringe“ unterscheidet sich von den Fantasy-Romanen in seinem Gefolge fundamental dadurch, dass aus tiefster Menschheitserfahrung, in Mythen archiviert, über das diabolische Wesen der Macht nachgedacht wurde. Selbst der harmlose Hobbit Frodo vermag sich der deformierenden Wirkung der Macht kaum zu entziehen.

Sie besteht kurz und lapidar darin: zuerst hat man die Macht und dann hat die Macht einen. Ist der Punkt erreicht, wird derjenige alles tun, um die Macht zu erhalten, ihrer nicht verlustig zu gehen. Entscheidend ist das „alles“. Wladimir Putin hält im Augenblick alle Möglichkeiten in seiner Hand. Es gibt keinen Mechanismus, kein Gremium, das ihn aufhalten oder absetzen kann. Vor Jahren wurde mir ironischerweise mal ein russischer Putin-Kalender geschenkt: zwölf Bilder von Wladimir Putin, eins für jeden Monat, Putin im Cockpit eines Jagdflugzeuges, mit freiem Oberkörper in der Taiga auf Jagd, im Umgang mit gefährlichen Tieren wie Tigern. In Westeuropa möchte niemand seinen Präsidenten mit freiem Oberkörper sehen. Es war nicht einmal ein subtiles Machotum, sondern ein Gossen-Machotum, das der Putin-Kalender erzählte.

Doch psychologische Analysen helfen nicht weiter. Weiter hilft nur, dass der Westen sich selbst befragt, denn seine große Stärke besteht darin, dass er ein lernfähiges System ist. Um ein Wort von Carl Schmitt zu variieren, Putin wird uns zu unserer eigenen Frage als Gestalt.

Wissenschaft ist keine Politik
Die Krise der fünften Gewalt
Erstaunlich ist nicht, dass Putin den Krieg eröffnet hat, erstaunlich ist, dass diese Eskalation niemand ernstlich in Erwägung zog, seit Jahren nicht. Die deutsche Russlandpolitik unter Schröder und Merkel stellt ein einziges Desaster dar, illusorisches Kalkül bei Schröder und fahrlässiges Desinteresse bei Merkel, die eher gegen als für Deutschland regierte. Das Denkmal der Fehleinschätzung ist Nord Stream 2. Wichtiger als die Fehler der Vergangenheit zu analysieren, ist nun, die Frage zu beantworten, wie sich der Westen künftig verhalten soll, wie er aus dem Zustand der Dekadenz herausfindet und wieder zur wirtschaftlichen Dynamik und zum produktiven Selbstverständnis zurückfindet, in einem Wort, wie wieder eine Politik für die Interessen seiner Bürger sich etabliert, denn die classe politique hat in einer immer perfekter werdenden Realitätsferne die Interessen der Bürger vergessen oder sie als reaktionär abgestempelt, als ob Leben und Zukunft, Familie und Freiheit reaktionär wären.

Was wäre also zu tun? Wagen wir erste, sicher nicht vollständige Gedanken. Die Hauptsache ist, die Verwechslung von Rhetorik mit Realität zu beenden. Wir müssen darüber reden, was tatsächlich ist, und nicht wie dieser oder jener darüber spricht, wie es ist. Inhalte auszubremsen, indem man sie mit Ideologie kontaminiert, führt zu einem eklatanten Wirklichkeitsverlust. Statt politischer Romantik anzuhängen, müssen die Debatten wieder auf dem Boden politischen Rationalismus erfolgen, muss sich vom Utopismus abgewandt und sich dem Realismus zugewandt werden.

Was heißt das im Einzelnen? Manches wird kurzfristig, manches erst mittelfristig zu bewerkstelligen sein, doch unabhängig davon, hat es jetzt in Angriff genommen zu werden:

  1. Deutschland muss wirtschaftlich unabhängig werden, in der Hauptsache von Russlands Verbündetem, China, aber auch energiepolitisch von russischem Erdgas und Erdöl. In einer immer digitaler und mobiler werdenden Welt bekommt die Thematik Energiesicherheit eine strategische Dringlichkeit. Es ist Zeit für eine neue Ernsthaftigkeit, sich von Büllerbü-Träumen zu verabschieden. Der Irrweg des Ausbaus der erneuerbaren Energien ist zu beenden. Kurzfristig kann Deutschland seine Energiesicherheit nur herstellen, wenn es die Kohleverstromung wieder aufnimmt – und so es möglich ist, Atomkraftwerke wieder in Betrieb nimmt. Mittelfristig wird man nicht umhin kommen, Atomkraftwerke zu bauen. Die beste Sanktion gegenüber Russland besteht in der energiepolitischen Unabhängigkeit gegenüber Russland. Das muss so schnell als möglich erfolgen.
  2. Schlüsselindustrien müssen in Europa wieder stärker ausgebaut werden. Dass die EU die Chipherstellung in Europa fördern will, ist grundsätzlich richtig, auch wenn am Weg, den die EU einschlägt, durchaus Zweifel anzumelden sind. Genauso aber müssen die Grundstoffe für Medikamente in Europa produziert werden, um von China unabhängig zu werden. Gleiches gilt übrigens auch für die Schwerindustrie und für die Aluminiumherstellung. Europa, allen voran Deutschland muss sich als intelligente Werkstatt der Welt verstehen. Der Weg in die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft ist ein Irrweg. Deutschland hat, alle Anstrengungen zu unternehmen, eine moderne Industriegesellschaft, eine Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts zu werden. Automatisierung und Digitalisierung, intelligente Verfahren spielen hier eine entscheidende Rolle. Darin besteht übrigens auch die Lösung für eine alternde Gesellschaft und nicht in der Masseneinwanderung in die Sozialsysteme.
  3. Hierzu bedarf es einer Bildungsreform, die geradezu einer kulturellen Erneuerung gleichkommt. Die Gender-Lehrstühle gehören abgeschafft. Die Ideologisierung der Universitäten und Hochschulen ist zu beenden. Deutschland benötigt weniger Migrationsforscher, stattdessen Biotechniker, Physiker, Mathematiker, Techniker. Geisteswissenschaften müssen, wie einst von Wilhelm Dilthey konzipiert, wieder Geisteswissenschaften werden. Die weltanschauliche Neutralitätspflicht der Universitäten und Schulen ist wieder herzustellen, ideologische Indoktrination durch Lehrpläne zu beenden. Kompetenzpädagogik muss durch Leistungspädagogik ersetzt, die Leistungsfähigkeit des einzelnen gestärkt, die Teamarbeit eingeschränkt werden.
  4. Den Pluralismus zu stärken, setzt voraus, statt einer aktivistischen Information, wieder eine objektive Information zu betreiben. Nicht der belehrte Mensch, sondern der gut informierte, vermöge seines Verstandes urteilende Bürger ist das Leitbild einer Demokratie. Die Stärke der Demokratie, die durch ihre Pluralität Dynamiken freisetzt, wirkt nur, wenn die Demokratie und die Freiheitsrechte nicht eingeschränkt werden, wenn der Verfahrensweg, nicht der Weg per ordre de mufti gestärkt wird. Nicht die Bürger sind für die Politiker, sondern die Politiker für die Bürger da. Werden gerade die Stärken der Demokratie geschliffen, wird die Demokratie geschwächt. Das wird deutlich in dem kläglichen Bild, das der Westen angesichts Putins abgibt. Putin hält sich nicht an die Spielregeln, die der Westen in beispielloser Naivität für sakrosankt hielt – und der Westen hat im Augenblick keine Möglichkeit, diese Spielregeln verbindlich durchzusetzen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Westen sich selbst in Frage gestellt und seine Werte selbst bekämpft hat – er leuchtet nicht mehr, er hat sich lächerlich gemacht. Deshalb ist es wichtig, dass der Westen aus dem suizidalen Wokismus aussteigt und zu seinen Werten, die in der Aufklärung begründet worden sind, zurückkehrt.
  5. Natürlich muss die Verteidigungsfähigkeit gestärkt, die Bundeswehr reorganisiert, vernünftig ausgestattet und die Wehrpflicht wieder eingesetzt werden. Die Bundeswehr darf nicht durch immer neue „Ermittlungen gegen „rechts“, durch immer neue mediale Hysterien und Verdächtigungen verunsichert werden. Das gilt generell für die Sicherheitsorgane. Ansonsten wird nicht die innere und äußere Sicherheit gestärkt, sondern die Gesellschaft immer fragiler und verletzlicher.
  6. In Zeiten der Inflation und steigender Energiekosten darf der Staat an der von ihm mitverschuldeten Belastung der Bürger nicht verdienen. Deshalb muss die Mineralölsteuer herabgesetzt und die CO2-Steuer abgeschafft werden. Zudem kann die Bürokratie eingeschränkt werden, wenn überflüssige Berichtspflichten abgeschafft werden. Notwendig ist eine Steuerreform. Stichwort: schlanker Staat. Die finanzielle Unterstützung der NGOs hat zu entfallen, schließlich heißen sie Nichtregierungsorganisationen, und die 1,1 Milliarden Euro im „Kampf gegen rechts” sollten umgewidmet werden und der Dämpfung der steigenden Energiekosten dienen.

Es ist an der Regierung, sich der alten Ideologien und der Utopien zu entledigen, und sich in einer neuen Ernsthaftigkeit diesem 21. Jahrhundert zu stellen, in dem sich in den nächsten Jahren entscheiden wird, ob der Westen eine Renaissance erlebt oder autoritäre Mächte die Herrschaft übernehmen. Nichts wäre schädlicher, als sich an der eigenen Rhetorik zu berauschen. Nüchternheit ist gefragt. Wenn sich die Regierung aus leicht einsehbaren Gründen dazu nicht in der Lage sieht, ist es die Aufgabe der Opposition, diese Alternative zu vertreten. An dieser Frage wird sich entscheiden, ob Merzens CDU Opposition oder Anhängsel der Regierung sein will. Es ist Zeit, mit den Wohlstandslügen der Vergangenheit zu brechen. Salopp formuliert, die Wirklichkeit in diesen Tagen zeigt, dass wir mehr Schein als Sein sind.


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