Die Volksparteien sind in den Strudel heftiger Veränderungen geraten, nicht zuletzt deshalb, weil die Politik ihres Führungspersonals zunehmend irrealer wurde, sie ohne Not Deutschland in eine tiefe Krise führten, deren Dimension selbst heute noch nicht vollkommen abzusehen ist, weil sie sich weiter verschärft. Sowohl die SPD als auch die CDU haben vor allem die Bedürfnisse und Interessen ihrer klassischen Klientel ignoriert.
Wirft man einen Blick auf die Europa-Politik, so lässt sich ihre Wirkung für den deutschen Steuerzahler mit einem Wort benennen: Ausplünderung. Schaut man auf die Einwanderungspolitik, lautet die Zustandsbeschreibung: Souveränitätsverlust. Die Bildungspolitik wird man nur als Katastrophe bezeichnen können, die, wollte man gallig spotten, zum Motto erkoren hat: Dumm regiert sich gut. Fände man Gefallen daran, den galligen Spott fortzusetzen, müsste man schreiben, dass die innere Sicherheit nur noch gegen Falschparker erfolgreich durchgesetzt wird. Für all das tragen die SPD und die CDU die Verantwortung.
Nun haben 97 CDU-Mitglieder, die sich als WerteUnion verstehen, nach eigenen Angaben 1.000 Parteimitglieder vertreten und für einen freiheitlich-konservativen Aufbruch eintreten, bei ihrem Jahrestreffen in Schwetzingen ein Manifest beschlossen. Dieses Konservative Manifest sehen sie als Signal in die Partei hinein, denn daran, dass es zu einem Dialog mit der „beratungsresistenten Angela Merkel“ kommt, glauben sie nicht mehr.
Im Manifest wird gefordert, dass die „inhaltliche und personelle Erneuerung von CDU und CSU auf christlicher-konservativer und marktwirtschaftlicher Basis“ in Angriff genommen wird. Merkel ist bereits Vergangenheit. Die Forderungen der christlichen Konservativen wären nicht der Rede wert, wenn die CDU unter Angela Merkel, unter tatkräftiger Beteiligung von Volker Kauder, Peter Altmaier und Armin Laschet, nicht das Tafelsilber der CDU verscherbelt hätte. So wundert es nicht, dass die WerteUnion für Ehe und Familie als „wichtigste Grundlage der Gesellschaft eintritt und das Leitbild „Vater, Mutter, Kind“ als „elementaren Grundpfeiler“ ansieht.
Patriotismus und die Bewahrung von Gottes Schöpfung gehören ebenso zu den Positionen der WerteUnion wie der Kampf gegen jeden politischen Extremismus, ganz gleich, ob er von links oder von rechts kommt, aber auch der Schutz der Grenzen, das Ende der ungesteuerten Zuwanderung, die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, ein von der Bundeskanzlerin und Bundesvorsitzenden ignorierter Parteitagsbeschluss, das Ende des Abwälzens „aktueller Probleme auf zukünftige Generationen“, die spürbare Entlastung der arbeitenden Bevölkerung, die Ablehnung eines „EU-Zentralstaates“, das „Ende der überstürzten Energiewende“, die „Stärkung des Leistungsprinzips in der schulischen und universitären Ausbildung“ und die Ablehnung von Quoten werden als Forderungen aufgelistet. Wenn die Konservativen zu Recht die Wiedereinführung der Wehrpflicht fordern, erinnert man sich daran, dass es gerade die CDU war, die zum einen die Wehrpflicht aufgehoben und zum anderen die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr geschliffen hat. Mit einem geschichtsvergessenen Traditionserlass wurde von der Verteidigungsministerin aus den Reihen der CDU auch das Selbstverständnis der Armee zerstört.
Präzis an dieser Stelle beginnen die Fragen. Die Vorstellungen der WerteUnion sind durchaus richtig und es ist aller Ehren wert, dafür zu kämpfen – auch notwendig. Erinnert man sich allerdings an den letzten CDU-Parteitag, an dem nur 27 Mitglieder gegen den Koalitionsvertrag stimmten, so wiegt das schwerer als das Manifest, denn Manifest und Koalitionsvertrag schließen einander aus. Wie kohärent, wie ehrlich und verlässlich ist die Haltung von Jens Spahn, der als konservative Führungsfigur verklärt wird? Spahn hat nicht nur für den Koalitionsvertrag geworben, sondern vorher für Jamaika und Jürgen Trittin überschwänglich als „coole Socke“ über den grünen Klee gelobt. Steht er letztlich Trittin näher als der WerteUnion? Vertritt er wirklich konservative Standpunkte oder spielt er mit ihnen unter taktischen Interessen? Wenn Politik meint, ganz und gar „realpolitisch“ in Taktik aufzugehen, verliert sie Kompass und schließlich Rückhalt. Auf das Vergessen der Bürger zu setzen, ist nicht nur zynisch, sondern auch riskant. Es sieht ganz danach aus, dass sich auch Formen der Politik ändern.
Hauptredner des Treffens war der Generalsekretär der baden-württembergischen CDU Manuel Hagel, der gegen den Doppelpass sprach und klarstellte, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre. Spahn hingegen schickte ein Grußwort. Weshalb erschien er nicht selbst? Wäre das bereits des Bekenntnisses zu viel gewesen? Die Generalsekretärin der CDU äußerte, dass jeder in der CDU sich in die Diskussion am Grundsatzprogramm einbringen könne. Aber das ist ohnehin klar und sagt gar nichts aus. Oder doch?
In Sachsen und Bayern schärfen neue Ministerpräsidenten das konservative Profil. Mit der AfD im Nacken bleibt ihnen auch nichts anderes übrig, wenn sie bei den nächsten Wahlen gewählt werden wollen.
Ist also in der CDU ein Richtungskampf ausgebrochen? Wird um das künftige Profil gerungen? Steht ein Generationswechsel bevor? Eines wird deutlich, der Kampf für die Zeit nach Angela Merkel ist bereits ausgebrochen. Sie wird aus Mangel an Alternativen mehr ertragen, denn getragen. Einzelne Protagonisten wie Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn bringen sich für die Zeit danach in Stellung. Dabei achten sie genau darauf, sich alle Optionen offenzuhalten, keine Positionen zu vertreten, hinter die sie nicht mehr zurück können. Experimentiert wird momentan mit konservativen Vorstellungen. Bisweilen bekommt man allerdings das Gefühl, dass der Streit in der Koalition über den Familiennachzug und über den Islam kein Ringen um Positionen, sondern ein Schauspiel für den Bürger ist, um darüber hinwegzutäuschen, dass nichts wirklich in Angriff genommen wird. Die beste Möglichkeit, den Familiennachzug durchzusetzen, ist, über ihn zu streiten, denn unter dem Getöse des Streites setzt sich derweil der Nachzug mit der Macht des Faktischen durch.
So achtenswert und wichtig das Engagement der WerteUnion ist, muss sie sehr darauf achten, nicht machttaktisch benutzt zu werden. Sie muss personell stärker und eigenständiger auftreten. Spahn könnte trotz seiner Jugend ein Mann von gestern sein.
Zum anderen ist ausgesprochen fraglich, ob das Manifest den Anforderungen der Zeit nicht hoffnungslos hinterherhinkt, denn die Politik von CDU und SPD haben Gesellschaft und Staat bereits derart verformt, dass sich viel grundsätzlichere Fragen stellen. Ein Zurück kann es nicht geben, aber es ist möglich, die Werte des Manifests mit Blick auf die Zukunft wiederzuentdecken und eine Strategie gegen die Fehlentwicklungen des letzten Jahrzehnts zu erarbeiten.
Die Merkelsche Staatskunst, die sich darin erschöpft, selbstverschuldete Veränderungen als Schicksal anzuerkennen, wird nicht weiterhelfen. Tatbestände muss man nicht hinnehmen, sondern man kann sie ändern. Wenn die Bundeskanzlerin zur Migrationswelle sagte: „Ist mir doch egal, ob ich schuld daran bin, jetzt sind sie halt da“, muss Politik sich nicht dem fügen, sondern tatkräftig daran gehen, dass bald eben nicht mehr so viele hier sind. Der Staat kann durchaus die Bedingungen dafür schaffen, seine Hoheitsrechte durchzusetzen – und es dann auch tun, jeden Tag mehr.
Hierfür ist das Manifest ein Schritt in die richtige Richtung. Ob es zu zaghaft ist und zu spät kommt, bleibt fürs erste Spekulation. Die politische Landschaft ist in Bewegung geraten. Dringend erforderlich wäre eine wertkonservative CDU und eine wirklich liberale Partei – die FDP ist es nicht und sendet wenig Hoffnung aus, es zu werden. Die „Gemeinsame Erklärung 2018“ erinnert an die Anfänge des Neuen Forums in der DDR. Was daraus wird, ist noch gar nicht abzusehen. Aber zu den Parteien treten Bewegungen. Den Konservativen muss eines klar werden, es gilt das Wort des Philosophen Heraklit: panta rhei – alles fließt. Sie müssen achtgeben, dass ihnen nicht die Felle wegschwimmen, denn die bildhafte Übersetzung des panta rhei lautet: Man kann nicht zweimal im selben Fluss baden, auch nicht lau.