Tichys Einblick
EU-Wahl

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben

Der Generalsekretär der SPD ignoriert die Zeichen der Zeit, die die Wähler populistischer Parteien senden. Stattdessen setzt er im EU-Wahlkampf auf das Zeichnen von Untergangsszenarien und ein stures Weiter-So. Damit ist schon eine andere Arbeiterpartei krachend gescheitert.

imago images / Metodi Popow

Wer sich die Verlautbarungen der etablierten (Volks-)Parteien zu den Europawahlen anhört und ihre Wahlplakate anschaut, mit denen sie inzwischen in Städten und Gemeinden für sich werben, gewinnt den Eindruck, am 26. Mai ginge es um Tod oder Leben ganz Europas und nicht um die Frage ihrer eigenen zukünftigen Präsenz im europäischen Parlament. Angesichts des deutlichen Erstarkens sogenannter populistischer Parteien in fast allen Ländern der EU grassiert insbesondere bei den bisherigen politischen Platzhirschen im konservativen und sozialdemokratischen Lager nicht nur auf nationaler, sondern inzwischen auch auf europäischer Ebene die Angst vor dem voranschreitenden eigenen Bedeutungs- und Machtverlust.

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Um diese Angst den Wählern gegenüber zu kaschieren, werden zunehmend Untergangsszenarien bemüht, mit denen der Eindruck erweckt werden soll, nicht die Zukunft der jeweiligen Parteien, sondern diejenige einzelner Länder oder ganz Europas, wahlweise auch der ganzen Welt stünden auf dem Spiel. Der beginnende EU-Wahlkampf nimmt so unverkennbar Züge einer Dramaturgie der Angst an, mit denen die etablierten Parteien versuchen, die Wähler davon abzuhalten, ihrer Unzufriedenheit mit ihrer Politik dadurch demokratischen Ausdruck zu verleihen, dass sie die neue populistische Konkurrenz wählen. Nicht die immer wieder angekündigten Visionen von einer verheißungsvollen Zukunft der EU, sondern düstere Bilder des drohenden Niedergangs und Zerfalls Europas prägen die politischen Botschaften.

Ein anschauliches Beispiel dafür lieferte im Nachgang zu Macrons „Brief an die Bürger Europas“ jüngst der Generalsekretär der SPD, Lars Klingbeil, am 27. April in der WELT. Unter dem Titel „Die Konservativen werden Europa nicht retten“ droht er im ersten Akt seines Dramas unter Bezugnahme auf den Brexit zunächst mit dem wirtschaftlichen Niedergang und einer Gefährdung des Zusammenhalts in der EU, ohne diese Vorhersagen sachlich irgendwie zu begründen. Die alleinige Schuld an der Brexit-Entscheidung der britischen Wähler trügen die „Konservativen unter David Cameron“. Sie hätten mit ihrer „unsozialen und technokratischen Politik“ dafür gesorgt, „dass das Gift der Rechtspopulisten in die Breite der Gesellschaft einsickern konnte.“ Dass die Labour Partei unter Tony Blair nach der Freigabe der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU den (billigen) Arbeitskräften aus Osteuropa, insbesondere aus Polen, Tür und Tor öffnete und damit den vermutlich wichtigsten Grundstein für den wachsenden Widerstand vieler britischer Wähler gegen die EU legte, wird von Klingbeil geflissentlich übergangen. Eine Kritik an dieser Politik stünde wohl zu sehr im Widerspruch zu den derzeitigen Bemühungen der SPD, mit einem neuen „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ den Zustrom von Arbeitskräften nach Deutschland nicht nur aus der EU, sondern auch aus Drittstaaten weiter zu forcieren.

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Stattdessen baut Klingbeil im zweiten Akt seines Dramas die nächste Drohkulisse mit der Behauptung auf, mit Donald Trump habe sich „ein lupenreiner Rechtspopulist an die Spitze des mächtigsten Landes der Welt gesetzt.“ Eine erstaunliche Formulierung, die den Eindruck erweckt, Trump sei nicht durch eine demokratische Wahl Präsident der USA geworden, sondern habe sich gleichsam wie Napoleon selbst zum Kaiser gekrönt. Durch ihn seien „Fremdenfeindlichkeit, Nationalchauvinismus und Lügen zum neuen Markenkern“ der Republikaner in den USA geworden. Sollte dies zutreffen, wären freilich auch die Mehrheit der amerikanischen Wähler bzw. Wahlmänner, die 2016 für Trump gestimmt haben, Fremdenfeinde, Nationalchauvinisten und Lügner. Der Generalsekretär der SPD scheint dies so zu sehen und dokumentiert damit sein offenkundig recht gebrochenes Verhältnis nicht nur zu einem Großteil der amerikanischen, sondern aller Wähler, die von ihrem demokratischen Recht Gebrauch machen, sich mit ihrer Stimme grundsätzlich gegen die Politik der bisher herrschenden Parteien zu stellen.
Im dritten Akt seines Dramas geht es daher folgerichtig um die vermeintlichen Folgen des politischen Fehlverhaltens vieler Wähler nicht nur in den USA, sondern auch in der EU und dort nicht zuletzt in Deutschland. So drohen angesichts der zu erwartenden Wahlerfolge der populistischen Parteien laut Klingbeil „Spaltung, Chaos und die Rückkehr in nationale Egoismen zum Nachteil der Menschen in Europa, deren Jobs und deren Sicherheit maßgeblich von der EU anhängen.“ Erneut verzichtet der SPD-Generalsekretär auf jegliche (Selbst-)Kritik sozialdemokratischer Politik und wirft stattdessen den konservativen Parteien vor, sich gegenüber den populistischen Parteien „lau“ zu verhalten, indem sie beispielsweise die Partei Victor Orbans, Fidesz, nicht komplett aus der Europäischen Volkspartei (EVP) verbannt haben. Doch auch sie werden nicht für politischen Fehler kritisiert, die die populistischen Parteien überhaupt erst entstehen ließen.

Die Ziele, Inhalte und Vorgehensweisen konservativer und sozialdemokratischer Parteien haben nun allerdings, wie Ralf Schuler in seinem Buch „Lasst uns Populisten sein“ ebenso kenntnisreich, anschaulich wie überzeugend dargelegt hat, nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Deutschland maßgeblich zum Erstarken populistischer Parteien mit beigetragen. Anstatt diesem Sachverhalt in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen, malt Klingbeil ein europäisches Schreckensszenario an die Wand und empfiehlt im letzten Akt seines Dramas zu dessen Vermeidung unter anderem ein „Ende des Einstimmigkeitsprinzips“ in der EU, „das Europa an relevanten Stellen lähmt, etwa bei der Besteuerung von globalen Konzernen.“

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Einzelne Staaten sollen nicht nur in Steuerfragen dazu gezwungen werden, Entscheidungen mitzutragen, die nicht dem Mehrheitswillen ihrer Bürger und dem Willen ihrer Regierungen entsprechen. Die Umsetzung von EU-Entscheiden gelingt derzeit auf zahlreichen Politikfeldern wie etwa der Asyl- und Migrationspolitik oder der Finanzpolitik allerdings noch nicht einmal, wenn sie nach geltender Rechtslage einstimmig getroffen worden sind. Die verbreitete einzelstaatliche Nicht-Beachtung und Umgehung von Beschlüssen würde sich mit der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips noch weiter ausdehnen und intensivieren und die Ablehnung der EU bei den Bürgern in den überstimmten Ländern noch weiter zunehmen, insbesondere wenn Zuwiderhandlungen auch noch seitens der EU-Kommission bestraft werden sollten. Ein veritables Förderprogramm für schon bestehende oder weitere EU-kritische Parteien, möglicherweise auch weitere Austrittsbeschlüsse nach dem Vorbild der Briten.

Dass er mit seinem Vorschlag der EU weiter das Wasser abgräbt, scheint Klingbeil indes ebenso wenig zu bekümmern, wie dass er damit die populistischen Parteien weiter stärkt, die er für den Untergang Europas und der Demokratie hält. Gerettet werden soll die EU vor dieser Gefahr, neben der Aufgabe des Einstimmigkeitsprinzips, durch mehr „Soziales“. Man müsse mit der „nationalstaatlichen Taktiererei aufhören und konsequent in den sozialen Zusammenhalt Europas investieren.“ Denn Zusammenhalt sei „das Gegengift gegen Angriffe von rechts.“ Davon ist Klingbeil wie schon bei der letzten Bundestagswahl, bei der die SPD für mehr soziale Gerechtigkeit warb und die AfD dann rund 13 Prozent der Wählerstimmen, nicht zuletzt von Arbeitnehmern erreichte, „fest überzeugt.“ Vorgeschlagen werden von ihm ein europäischer Mindestlohn, der in Deutschland bei zwölf Euro liegen soll, eine Mindestbesteuerung von Konzernen, „um Geld für soziale und nachhaltige Investitionen zu ermöglichen und die Steuervermeidung zu beenden.“ Und schließlich noch „gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen überall in Europa.“

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Warum es für die Realisierung von derlei Forderungen zwingend der EU bedarf, lässt Klingbeil unbeantwortet. Jedes Land kann sowohl einen Mindestlohn, eine Mindestbesteuerung von Konzernen und das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Männer und Frauen einführen, sofern es die Mehrheit seiner Bürger wünscht und auf demokratischem Weg beschlossen hat. Genau dies wäre nicht mehr der Fall, sollten derlei Maßnahmen, wie es dem Generalsekretär der SPD offenbar vorschwebt, durch die Verankerung „sozialer Rechte“ in den europäischen Verträgen in Zukunft allein auf EU-Ebene beschlossen und über den Umweg des EU-Primärrechts gegen den Willen einzelner Länder deren Bürgern oktroyiert werden.

Dass immer mehr dieser Bürger sich mit Hilfe neuer Parteien gegen eine solche Unterminierung ihrer demokratischen Rechte wehren, ist nicht verwunderlich und ein Zeichen ihres ausgeprägten demokratischen (Selbst-)Bewusstseins. Der Generalsekretär der SPD brandmarkt diese Bürger nun aber nicht als gestandene Demokraten, sondern als „Menschenfeinde von rechts“, welche „die größte Gefahr für Europa und damit für unseren Wohlstand und den Frieden darstellen.“ Dies zeugt nicht nur von einer völligen Verkennung der Realitäten, sondern von einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber den Wählern, vielleicht auch von deren Verachtung.

Die SPD-Führung scheint sich in Gestalt ihres Generalsekretärs inzwischen an der ironischen Empfehlung von Bert Brecht zu orientieren, die dieser nach dem Ostberliner Arbeiteraufstand im Jahr 1953 der SED-Führung gegeben hat: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Verursacht durch einen anhaltenden Wählerschwund und bestärkt durch die Ergebnisse und Botschaften einschlägiger Studien, wie jüngst der sogenannten „Mitte-Studie“ der parteieigenen Friedrich-Ebert Stiftung, verfestigt sich nicht nur in der SPD allmählich die Ansicht, weite Teile der Bevölkerung verstünden nicht mehr die Segnungen ihrer Allparteien-Politik der Weltoffenheit und Transnationalisierung. Aus Sicht der etablierten Parteien stellen sich diese Bevölkerungsgruppen und die von ihnen gewählten Parteien damit als Demokratie- und Menschenfeinde außerhalb des von ihnen beherrschten politischen Systems. Da sich schon zu DDR-Zeiten Brechts Empfehlung, die Bevölkerung einfach aufzulösen, noch weniger realisieren ließ wie trotz aller Migration im wiedervereinten Deutschland, hat die SED nicht auf den „Großen Austausch“, sondern vor allem auf die Umerziehung (und Überwachung) der widerspenstigen Bürger durch politische Indoktrination gesetzt. Erfolgreich war sie damit letzten Endes nicht. Die kriselnde SPD scheint ihr darin nun folgen zu wollen. Das von ihrem Generalsekretär gezeichnete Drama könnte für sie so als eine Tragödie enden, wie sie auch schon die SED erfahren durfte. Gorbatschow hatte die SED-Führung kurz vor dem Zusammenbruch der DDR zwar noch mit dem Hinweis gewarnt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Das hat aber nichts mehr gefruchtet, nachdem die herrschenden Apparatschiks jegliche Selbstkritik ablehnten und stur an der Vorstellung festhielten, das Volk und nicht ihre Partei befinde sich auf dem falschen Weg.


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