Wohl nichts breitet sich in Deutschland so schnell aus, wie die Behauptung, jemand sei Antisemit. Es existieren mehrere Abstufungen: Antisemit, Verbreiter von Antisemitismus, Verbreiter von strukturellem Antisemitismus, die sich wiederum in einem einzigen Wort äußern kann, etwa „Globalist“. Eindämmungsmaßnahmen finden so gut wie nicht statt, zumindest nicht in weiten Teilen von Medien und Politik. Sondern eher eine Ausbreitungsförderung.
Neben dem vorgeworfenen Antisemiten- oder Antisemitismusverbreitertum gibt es auch Antisemitismus. Interessanterweise werfen nicht selten die gleichen Personen anderen indirekten und erst mühevoll hergeleiteten Antisemitismus vor, die selbst sehr eindeutig antisemitische Stereotype für ihre „gute” Sache benutzen, mit antisemitischen Organisationen sympathisieren oder schlicht und einfach ein Problem mit der Existenz von Israel haben. Überhaupt fällt in diesen Tagen des andauernden Raketenfeuers der Hamas auf Israel auf, dass die Zuneigung dieses Milieus fast ausschließlich den beiden in Deutschland beliebtesten Juden gilt, nämlich Herrn und Frau Stolperstein. Sobald es um die Verteidigung lebender Juden geht, zeigen viele Medienmitarbeiter, progressive Politiker, Twitterer und Figuren medial gestützter Organisationen wie Fridays for Future dagegen ein außerordentliches Differenzierungsvermögen. Schließlich möchten diejenigen, die „Yalla Klassenkampf“ plakatieren, auf Twitter die „Migrantifa“ bewerben und wie am 1. Mai in Berlin Linkspartei-, Grünen- und Regenbogenfahnen mit palästinensischen Flaggen zu einem bunten Quilt vernähen, ihre neuen Alliierten nicht wieder verprellen. Gegen tote Juden und damit gegen Stolpersteine haben die neuen Verbündeten bekanntlich nichts einzuwenden.
Beginnen wir mit der Sendung „Anne Will“ in der ARD, dem vorläufigen Ausgangs- und auch Höhepunkt der jüngsten Antisemitismusbeschuldigungswelle. Dort hatte Luisa Neubauer, zwar weder Vorsitzende noch Sprecherin von Fridays for Future in Deutschland, aber Medienfigur, über den nicht anwesenden CDU-Bundestagskandidat Hans-Georg Maaßen gesagt, was er verbreite, sei „antisemitisch“, „rassistisch“ und „wissenschaftsleugnerisch“. Als der CDU-Vorsitzende Armin Laschet – Neubauers eigentliches Attackenziel – nachfragt: „Sie haben eben gesagt, er wäre antisemitisch“, folgt der Twist, den wir in der Folge neubauerisch nennen wollen:
„Nein, er verbreitet antisemitische und rassistische Inhalte (…) Und in dem Sinne Tweets.“ Auf Laschets Frage: „Was denn?“ folgen dann aber keine Quellenangaben Neubauers, sondern die Insinuation, das wäre so bekannt, dass sie jetzt nicht noch Details nennen müsste: „Von Blogs, die das treiben. Das wissen Sie, es ist ja auch ein Kollege in Ihrer Partei.“ Worauf Anne Will Neubauer nicht aufforderte, konkrete Belege zu liefern, sondern das Thema und damit auch Laschets Verteidigungsversuch mit der Bemerkung beiseiteschob: „Schauen wir uns noch an, versuchen wir zu belegen.“ In diesem Fall – „verbreitet antisemitische Inhalte“ – muss also Neubauer gar nichts beweisen. Das verspricht Wills Redaktion zu erledigen. Sie sagt auch nicht: ‚versuchen wir zu überprüfen’, sondern: zu belegen, so, als wüsste sie schon, dass die Vorwürfe zutreffen, und als hätte sie nur genau so wie Neubauer die Belege nur nicht gleich zur Hand.
In einem wohlwollenden Stück der Süddeutschen Zeitung schob Will nach, die „Kolleginnen und Kollegen“ ihrer Redaktion hätten sich schon während der Live-Sendung darum bemüht, „journalistisch ausreichende Belege zu finden, die geeignet wären, die Vorwürfe unseres Gastes Luisa Neubauer zu bestätigen oder zu entkräften“. Zu welchen Ergebnissen sie dabei gekommen waren, teilte Will der Öffentlichkeit nur auszugsweise mit. Am Tag nach der Sendung twitterte sie eine Art Dossier der Gruppe „unionwatch“ über Maaßen weiter, einem anonymen, sehr weit links stehenden Kollektiv ohne Impressum.
Wieder ein paar Stunden twitterte Will, die unkommentierte Weiterleitung von „unionwatch“ sei ein „Fehler“ gewesen.
Debatten dieser Art, die in Deutschland mittlerweile weite Teile der Öffentlichkeit bestimmen, funktionieren nach dem Prinzip einer Windhose: Luft dreht sich hochenergetisch im Kreis, zieht Staub und Kleinteile nach oben, richtet Verwüstungen in der Landschaft an und lädt die erwähnten Kleinteile weit entfernt vom Ausgangspunkt wieder ab. Übrig bleiben meist einige größere Brocken. Hier also die Verbindung zwischen einem CDU-Politiker und dem Adjektiv „antisemitisch“.
Drei Tage später lieferte Neubauer dann ihre Antisemitismusvorwurfsbelege, die sie in der Sendung nicht dabei hatte, und die damals auch das anonyme Unterstützerkollektiv Will nicht gleich präsentieren konnte. Sie betonte auch, sie hätte ja nicht behauptet, Maaßen sei Antisemit. Diese Argumentationsfigur erinnert an die Kampagne gegen den Historiker und früheren Stasi-Gedenkstättenleiter Hubertus Knabe, dem auch keine eigenen sexuellen Übergriffe vorgeworfen werden, sondern die Duldung von strukturellem Sexismus in der Gedenkstätte, der nach juristischer Überprüfung allerdings in kleinste Partikel zerfiel, aber trotzdem genügte, um Knabe mit medialer Hilfe von seinem Posten zu entfernen.
Als Beleg eins für den strukturellen Quasi-Antisemitismus um drei Ecken verweist Neubauer auf eine Verlinkung, die Maaßen einmal auf die Seite „The Unz Review“ vorgenommen hatte. Zum zweiten, so Neubauer, verwende Maaßen „unter anderem auf seinem Twitter-Profil wiederholt problematische Begriffe wie ‚Globalisten‘“. Sie meinte, dieser Begriff werde auch von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung als Code von Rechtsextremisten bezeichnet. „Als langjährigem Präsidenten des Verfassungsschutzes müssten ihm solche ‚Codes‘ bekannt sein.“
Auf der Seite „The Unz Review“ erscheinen Beiträge zahlreicher Autoren überwiegend zur amerikanischen Innenpolitik. Der Seiten-Herausgeber Ron Unz, ein Physiker, Unternehmer und Publizist mit jüdisch-ukrainischen Wurzeln unterstützte in den Neunzigern den britischen Historiker David Irving, räumte den wirren Thesen Norman Finkelsteins auf seiner Seite Platz ein, und gab ebenso wirre Thesen über den Holocaust von sich. Norman Finkelstein, der seit vielen Jahren gegen Israel agitiert, ist übrigens in Deutschland kein Unbenannter. Die linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung lud ihn 2010 als Referenten ein, nach einigem Protest dann wieder aus; die Veranstaltung mit Finkelstein fand damals ersatzweise in Räumen der Zeitung „Junge Welt“ statt. Zurück zu Maaßen: der hatte nicht auf einen Text Finkelsteins oder einen ähnlichen Artikel verlinkt, sondern auf einen Text zur amerikanischen Innenpolitik, in dem es noch nicht einmal ganz indirekte antisemitische Anklänge gab. Später löschte er den Link auch wieder. In den Äußerungen Maaßens findet sich nirgends etwas Antisemitisches. Aber wenn ein Link auf eine Autorenseite, deren Gründer verschiedentlich absurd über den Holocaust spekulierte, schon als Antisemitismusbeleg gelten soll, dann entsteht ein Maßstab, den wir probeweise auch einmal an andere Teilnehmer dieser Windhosendebatte anlegen wollen. Dazu später mehr.
Bei ihrem Verweis auf die Adenauer-Stiftung hätte Neubauer genauer lesen beziehungsweise zitieren sollen. Denn dort heißt es, der Begriff ‚Globalisten’ werde auch von Rechtsextremen verwendet – was nebenbei für eine ganze Reihe von Begriffen gilt. Die Adenauer-Stiftung behauptete nicht, jeder, der den Begriff ‚Globalist’ verwende, sei rechtsextrem, und auch nicht, der Begriff selbst sei ein ‚Code’. Anderenfalls müsste der Kreis der Rechtsextremen nämlich sehr, sehr weit gezogen werden, weiter, als es Neubauer recht sein kann. Von der Bundeszentrale für politische Bildung beispielsweise gibt es eine Broschüre mit dem Titel „Globalisten“, verfasst von dem Autor Quinn Slobodian.
Slobodian referierte auch auf Einladung der der schon erwähnten Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Titel des Abends lautete: „Globalisten“.
Auch in vielen Medien der guten und gerechten Abteilung findet sich der Begriff. In einem Artikel des „Tagesspiegels“ etwa hieß es 2020: „Wir können nicht mehr wie noch vor zwanzig Jahren einem naiven Globalismus anhängen, ohne die gesellschaftspolitischen Konsequenzen des internationalen Wettbewerbs mitzudenken.“
‚Globalist’ findet sich noch an etlichen anderen Stellen, etwa in einem Artikel von Alan Posener in der ZEIT, bei 3sat und anderen.
Bisher gibt es keine Vorwürfe von Luisa Neubauer gegen die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Linkspartei wegen der Verbreitung antisemitischer Codes, obwohl sich gerade dort jenseits des Begriffsgebrauchs ‚Globalisten’ seit Jahren wirklich reichlich Belege finden ließen.
Im Gegenteil, als Unterstützer sind sowohl Linkspartei als auch Linksjugend der Friday for Future-Bewegung jederzeit willkommen. Auch den „Tagesspiegel“ und das öffentlich-rechtliche Fernsehen verdächtigte Neubauer bisher nicht, antisemitische Codes zu verbreiten. Auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ließe sich eine Menge davon finden. Sogar bei Fridays for Future selbst.
Da es Neubauer aber noch nie um eine Bekämpfung des Antisemitismus ging, sondern um die Pflege nützlicher Allianzen einerseits und die Herstellung politischer Frontenstellungen andererseits, legt sie eine taktische Geschmeidigkeit an den Tag, wie sie für Vertreter autoritärer Erlösungsideologien typisch ist.
In der öffentlichen Debatte werden Globalisten als Vertreter einer politischen Richtung verstanden, die Nationalstaaten für überholt und eine Planung und Steuerung von Politik durch überstaatliche Organisationen grundsätzlich für die bessere Lösung halten. Ihnen stehen in der Debatte vor allem diejenigen gegenüber, die auf das Legitimationsdefizit durchweg aller überstaatlichen Organisationen hinweisen. Zu diesem Debattenstrang gehört auch der Gegensatz zwischen dem „Somewheres“ und den „Anywheres“, also denjenigen, die sich in einer bestimmten Kultur und Heimat verwurzelt sehen, und einer mobilen Elite, die vor allem über die materiellen Mittel verfügt, sich einen komfortablen Lebensort zu suchen. Die Begriffe gehen auf den britischen Autor David Goodhart zurück („The Road to Somewhere“), einen Publizisten, der eher links der Mitte steht. Wer an dieser Debatte teilnehmen will – einer der wichtigsten der Gegenwart – kommt gar nicht umhin, den Begriff ‚Globalismus’ und ‚Globalist’ zu gebrauchen, ob nun affirmativ oder kritisch.
Nun ist Luisa Neubauers Buch „Vom Ende der Klimakrise“ eine agitatorische und über weite Strecken wirre Predigt für die eigene Gemeinde, Zeichen irgendeiner ernsthaften intellektuellen Mühe finden sich dort nirgends. Aber andererseits ist die junge Frau nicht so dumm, als dass sie wirklich glauben würde, Hans-Georg Maaßen würde den Antisemitismus befördern. Und auch nicht so beschränkt, um zu übersehen, dass ihre Verbündeten in politischen Vorfeldorganisationen, in der Linkspartei, in den Medien und in ihrer eigenen Organisation massenhaft Antisemitismus verbreiten, und zwar so offen, dass es nicht erst eine mühevolle Decodierung bräuchte.
Das gleiche gilt für ihre Unterstützer, die ihr und Greta Thunberg jetzt als bewährte Ally-Journalisten zur Hilfe eilen.
— Lennart Pfahler (@LennartPfahler) May 12, 2021