Zu den ersten Worten und Begriffen meiner Kinder zählten »Allogut« und »Ungefähr«. Das eine war positiv gemeint und das andere negativ. Jeden Tag hörten wir hier ein »Allogut!« oder da ein »Ungefähr!«, und wenn wir es nicht hörten, dann schauten wir mit sorgendem Blick nach, ob alles in Ordnung war.
Beides, »Allogut« wie auch »Ungefähr«, waren Worte, die unsere Kinder sich selbst konstruiert bzw. ihnen eine eigene Bedeutung gegeben hatten.
»Allogut« war, wie unser Tochterherz »alles gut« verstanden hatte und also auch aussprach. »Allogut« war die Beschreibung der äußeren wie inneren Welt wenn alle Dinge »gut waren«, wenn die Kreise der Welt geordnet waren und auch sonst alles in natürlicher Harmonie schwang. (Bald lernten die Kinder, »Allogut!« als Aufforderung zu gebrauchen, etwa wenn sie die Wände mit Wachsmalkreide verschönert hatten und Vater oder Mutter hinein kamen, woraufhin die Kinder »Allogut!« riefen, um uns zu beruhigen.)
»Ungefähr« – im Text »Warum Linke derzeit Sand zwischen den Zähnen haben« habe ich es kurz erwähnt – war eine Kombination aus »unfair« und »ungerecht«, die der werte Herr Sohn der Zeitersparnis halber zu »Ungefähr!« zusammenzog. Wenn die Schwester geschätzte zehn Gramm mehr vom Pudding bekam als er, dann war das: »Ungefähr!« – Wenn er bis zum Geburtstag oder Weihnachten warten musste, um das neue Lego-Set zu bekommen, dann war das, natürlich: »Ungefähr!« – Wie sehr freute es uns, als wir zum ersten Mal merkten, dass er seinen »Ungefähr!«-Begriff auch auf andere Lebewesen außer sich selbst erweitern konnte, etwa als ein Kind einem anderen Kind im Kindergarten das Spielzeug weggenommen hatte, und er das »Ungefähr!« fand, obgleich er nicht beteiligt war und ihm selbst kein Schaden entstanden war.
Kinder lernen schnell, sich nach einer Ordnung der Welt zu sehnen, in der die Dinge »allogut« sind – und sie fürchten es sehr, dass die Welt »ungefähr« sein könnte. Manche Kinder behalten diesen Wunsch ein Leben lang und anderen Kindern geht er wieder verloren, wenn sie nicht mehr Kinder sind, wenn sie »erwachsen« werden, getrieben und ermüdet von den »Sachzwängen« des Alltags – ich frage mich, warum die einen hoffen, und die anderen eben nicht mehr – und ich bin mir keinesfalls immer sicher, zu welcher dieser beiden Gruppen ich gehöre.
Fast-schon-amtlich
Wer kein Minister, NGO-Profiteur oder Bonze beim Staatsfunk ist, dem kann es passieren, dass er viele Jahre arbeitet und viel von seinem Gehalt abgibt – und dann zum Schluss doch von einer mickrigen Rente lebt, die vorn und hinten nicht reicht. Es gibt Menschen, die in Deutschland auf der Prioritätenliste weit oben stehen. Ich kenne Rentner, die bekommen so wenig, dass sie sich schämen, ihren Kindern die Zahl zu nennen. (Nebenbei, haben Sie gehört? Die GEZ-Zwangsgebühr soll wieder steigen!) Und wer als Rentner etwas mehr als das Minimum bekommt, dem erdreistet sich der Staat allen Ernstes, von der Rente nochmal Steuern abzuziehen. »Die Steuerbelastung von Rentnern ist innerhalb von zehn Jahren teilweise um rund das Fünffache gewachsen«, meldet aktuell focus.de, 20.11.2019. Der Staat nimmt dir ab, während du arbeitest, dann gibt er dir davon nur einen Bruchteil wieder zurück, und dann nimmt er dir davon wieder weg. Es scheint fast so, als wären die Menschen, die den Wohlstand von Politik und Staatsfunk verdienen, dem Land nicht ganz so wichtig wie andere – um es sehr höflich auszudrücken.
Internationale Studien stellen fast-schon-amtlich fest: »Deutsche Steuerlast ist „Weltspitze“ – doch die Infrastruktur verfällt« (welt.de, 11.4.2019). CDU und SPD (und die FDP, als sie in der Regierung war) haben, mit Flankenschutz von Staatsfunk und Grünen, Deutschland zum Spendieronkel Europas (aber auch Chinas, Indiens, …) und zum Gratis-All-Inclusive-Hotel für Schlepper-Kunden gemacht. Mit der ganz großen Moralpresse wird aus den Deutschen ausgewrungen, was man mit Einschüchterung und Propaganda überhaupt auswringen kann – und es bleibt einem die Spucke weg, wenn wir lesen: »Schäuble wirft Bürgern zunehmend egoistische Haltung vor« (welt.de, 21.11.2019) – beim Text sehen wir auf welt.de aktuell übrigens die bewegten Bilder einer Preisverleihung vom Beginn des Monats, wo die wegen ihrem Umgang mit öffentlichen Geldern verurteilte (sueddeutsche.de, 10.12.2016) Christine Lagarde ihm zuklatscht.
Nun werden also die Deutschen ausgenommen wie jene mystische Weihnachtsgans, die sich mancher Rentner schon lange nicht mehr leisten kann, und was bekommt er stattdessen? Flapsig gesagt: Die Rentner sollen froh sein, wenn sie zumindest so lange am Leben bleiben, bis der liebe Herrgott sie aus dem Leben holt – und nicht ein anderer Herr (bild.de, 21.11.2019: »Asylbewerber tötet Rentnerin – Die Akte des Versagens zum Mord in Güstrow«).
Volk von Zitronen
Ich bekam letztens mit, wie eine eher einfach lebende Rentnerin, bei welcher immerzu der TV läuft, ernsthaft sagte: »Wie gut, dass wir die Angela Merkel haben, und nicht so böse Leute wie [Name der üblichen Feinde]!« – Was für Plakate sollten sie kleben, wenn sie ehrlich sein sollen, vor der nächsten Wahl? Ich schlage ein und dasselbe Plakat für verschiedene Parteien vor, nur mit jeweils verschiedenen Partei-Kürzeln, des demokratischen Anscheins halber: »Zitronen, wählt Zitronenpressen!«
Es gilt gemeinhin als wenig schmeichelhaft, wenn ein Mensch einen anderen als »kindisch« bezeichnet. Erwachsene wollen wir sein, den Kinderschuhen entwachsen und auch sonst vom genau richtigen Reifegrad. Es ist ein charmanter Usus von Erweckungspredigern, unsere Prämissen gegen den gewohnten Strich zu bürsten. Eine bekannte Forderung des biblischen Jesus lautet: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.« (Matthäus 18:3b,4)
Nein, Kinder haben keine »magische« Einsicht in die Fakten des Universums (egal was Ihnen irgendwelche Leninisten oder »Fridays for Future« sagen), doch als Erwachsene können wir uns durchaus von Zeit zu Zeit fragen, ob wir noch in uns hineinhören, wie Kinder es in ihren guten Momenten tun (können).
Schmerzt es uns noch so, wie es ein Kind schmerzt, wenn etwas in der Welt ungefähr, pardon: ungerecht ist? Spüren wir noch immer den Durst danach, dass es »allogut« werden mag? Ich hoffe es – ich arbeite dafür, auch und zuerst an mir selbst
Ein giftiger Kuchen
Ich will mich noch nicht damit abfinden, »dass es eben ist, wie es eben ist« – auch wenn ich diese Möglichkeit durchaus in meine Pläne einkalkuliere.
Politiker und ihre Helfer in den Redaktionen »setzen Zeichen« und geben sich großmoralisch, doch was sind die tatsächlichen Folgen ihres Tuns? Was ist deren Moral denn wert, was kann man sich für deren Zeichen kaufen, wo können wir die klebrigen Signale ihrer ethischen Erhabenheit in Zahlung geben, wenn das Ergebnis ihres Treibens so ungerecht ist? Es war ausgerechnet eine Predigt zum Buß- und Bettag, wo Schäuble den Deutschen metaphorisch ins Gesicht spuckte.
»Bir doğru saat, yetmiş sene namazdan değerli« – eine türkische Redensart: »Eine Stunde Gerechtigkeit ist mehr als siebzig Jahre Gebet.« – Verschont mich mit euren wohlfeilen Worten, ihr Politiker, ich sehe die Folgen eurer Taten, und mit den Worten meines Sohnes will ich sie »Ungefähr!« nennen.
Ein giftiger Kuchen wird nicht dadurch bekömmlich, dass der Konditor sich selbst lobt – oder dadurch, dass er die vergifteten Kunden beschimpft. Diese Politik ist giftig. Politiker loben einander und verleihen einander Preise – Politiker sind die einzigen Leute, die von Diäten dick und dicker werden – ganz ohne Jojo-Effekt – und statt still zu kassieren und schamhaft zu schweigen, machen sie uns auch noch Vorwürfe!
Den ein oder anderen Politiker einen »Heuchler« zu nennen täte der Gemeinschaft der Heuchler ein Weh an, also will ich es nicht tun. Ich will aber auch keine Worte für sie verwenden, deren Verwendung ich meinen Kindern untersagen würde (so man das heute noch kann) – so inkonsequent will ich nicht sein, denn sonst wäre ich ja selbst ein … Heuchler!
Zwei oder drei Geschichten
»Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden«, so lesen wir in Matthäus 5,6. Ich habe bei meinen Kindern den Hunger nach Gerechtigkeit erlebt. Diese Sehnsucht, die noch immer Abend für Abend meine Kinder erfüllt, dass doch bitte alles »allogut« sein möge, die kann ich nicht einfach so ablegen, wie sehr ich als Essayist auch zum Zynismus neigen könnte.
Für meine Kinder ist die Welt bereits »allogut«, wenn die Eltern mit ihren Schulnoten und dem Fortschritt im Musikunterricht zufrieden sind, wenn die Stimmung auch sonst einigermaßen friedlich ist, wenn wir am Abend gemeinsam Essen – besonders Freitags! – und wenn sich die Familie im großen Bett zusammenkuschelt, damit Papa der Familie vorm Schlafen noch etwas vorliest (in letzter Zeit übrigens wieder häufiger zwei oder drei Geschichten von Ephraim Kishon).
Jedes Kind, so hoffe ich, hungert nach Gerechtigkeit und dürstet nach »Allogut«. Wie stehen die Chancen, satt zu werden? Werden Sie und ich in absehbarer Zeit »satt werden« an der Gerechtigkeit, nach der wir uns sehnen? Ich weiß es nicht. Ich bin zu realistisch, um mit Gerechtigkeit oder auch nur erkennbarem Gewissen von dieser Politik und diesem Staatsfunk zu rechnen. Ich bin zu sehr Mensch, um die Hoffnung ganz aufzugeben. Ja, ich habe schon dazu aufgerufen, die Hoffnung ganz aufzugeben (etwa: »Besser als Hoffnung«, 26.9.2017), doch es gelang mir nicht, Sie, meine Leser, davon zu überzeugen – oder mich. Wir sind zum Hoffen geboren.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, und wenn sie stirbt, dann sterben wir mit, mindestens an der Seele, manchmal auch am Leib. Ich will noch nicht sterben, also darf die Hoffnung noch nicht sterben. Ich beschließe, zu hoffen, dass es doch noch »allogut« wird.
Ich hoffe mit ganzem Herzen (und sogar einem Teil meines Hirns), dass es »allogut« wird, dass wir bald »satt werden« an Gerechtigkeit – noch aber knurrt mein Magen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.