Tichys Einblick
Unvereinbare Interessen

Wer bei den Koalitionsgesprächen wirklich mit am Tisch sitzt

CDU und CSU und SPD: Formal sind es drei Parteien, die gerade in Berlin über eine gemeinsame Bundesregierung verhandeln. In Wahrheit sind es viel mehr. Deshalb sind nur Formelkompromisse möglich, an die sich niemand halten wird.

picture alliance / Anadolu | Halil Sagirkaya

Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Friedrich Merz hatte schnelle Koalitionsverhandlungen im kleinen Kreis angekündigt. Das hat er aufgegeben, wie fast alles andere.

Nicht nur inhaltlich, sondern auch beim Format der Gespräche hat sich die SPD durchgesetzt. Jetzt wird in 16 Arbeitsgruppen à 14 Mitgliedern verhandelt, jeweils sieben von der Union und sieben von den Sozialdemokraten. Dazu kommt eine weitere Arbeitsgruppe mit vier Mitgliedern (zwei plus zwei), die sich mit der Arbeitsweise der künftigen Bundesregierung und der Fraktionen sowie mit einer möglichen Reform des Wahlrechts befasst.

Insgesamt sitzen da also schon mal 228 Menschen am Tisch bzw. an den Tischen – plus die 19-köpfige „Steuerungsgruppe“ mit den Partei- und Fraktionsspitzen. Ein kleiner Kreis sieht eher anders aus. Und dass man in so konstruierten Gesprächen auch keinesfalls schnell zu einem Ergebnis kommen kann, liegt ebenfalls recht nahe.

Die monströse Verhandlungsarchitektur bildet ein Problem ab, das lustigerweise sowohl die Unterhändler der SPD als auch jene der Union haben: Sie müssen jeweils schier unzählige unterschiedliche innerparteiliche Wünsche vertreten.

Und nicht selten sind diese Wünsche miteinander unvereinbar.

Unsere Parteien sind Interessenkonzerne. Genauer: Sie sind Holdinggesellschaften, unter deren Dach und Namen sich unterschiedliche Bedürfnisse zusammenfinden. So wie Volkswagen der Mutterkonzern für verschiedene Automarken ist, so hat eine Partei verschiedene Partikularinteressen im Portfolio.

Und es sind viele Interessen. Sehr viele. Weil Parteien Machtgebilde sind, die auch intern selbst nur auf Macht reagieren, bündeln sich diese Interessen und bilden Interessengruppen.

Die nachfolgende Aufzählung können Sie, lieber Leser, selbstverständlich auch gerne überspringen. Aber sie ist aufschlussreich: Weil sie zeigt, wie viele verschiedene Interessengruppen da versuchen, schon über die Koalitionsverhandlungen Einfluss auf die nächste Bundesregierung zu nehmen. Beginnen wir mit der Union:

CDU-Vereinigungen

CDU-Sonderorganisationen

Der CDU nahestehende Organisationen

Und da sind die egoistischen Interessen der Bundesländer noch gar nicht dabei. Die sind nicht in Vereinigungen organisiert, sondern im Parteivorstand und in den Landesgruppen der Bundestagsfraktion. Und natürlich sieht jeder CDU-Ministerpräsident zu, dass sein Bundesland in den Koalitionsverhandlungen so viel wie möglich abbekommt.

Die Sozialdemokraten sind bei der Gründung von Interessengruppen noch fleißiger als die Union. Der besseren Lesbarkeit wegen haben wir die offiziellen Bezeichnungen nachfolgend verkürzt. Im Original sind sie natürlich sämtlich gegendert:

SPD-Organisationen

SPD-Arbeitsgemeinschaften

SPD-Arbeitskreise

SPD-Parteiflügel

Der SPD nahestehende Organisationen

SPD-Unternehmen

Mal abgesehen davon, dass es für eine Demokratie mit einem Rest an Selbstachtung ein Unding wäre, dass eine politische Partei ein Medienimperium beherrscht: Die SPD ist sichtlich nicht eine Partei, sondern mehrere.

Der linke Flügel der Sozialdemokraten hat sich gleich in zwei verschiedenen Gruppen organisiert – die selbstverständlich nicht nur miteinander konkurrieren, sondern nicht selten gegeneinander intrigieren.

Die verschiedenen religiösen Arbeitskreise leben auch keineswegs auf demselben Planeten. Christen, Juden und Muslime haben nun einmal einige elementare nicht kompatible Ansichten. Und die Säkularen und Humanisten lehnen Religion grundsätzlich ab. Die Jusos und die AG 60 plus vertreten verschiedene Generationen und keineswegs dieselben Interessen.

Bei der Union ist es nicht besser: Junge Union und Senioren-Union wollen für ihre jeweilige Klientel auf dieselben begrenzten Ressourcen zugreifen und können sich also systematisch nicht grün sein. Der Arbeitnehmerflügel (CDA) kämpft seit Jahrzehnten gegen den Wirtschaftsflügel (MIT).

Und so weiter, und so fort.

Das Ganze ist ein Spiegel der real existierenden Parteipolitik in Deutschland. Man kann da auf Anhieb vieles erkennen, was die Lähmung unseres Gemeinwesens erklärt.

Union und SPD müssen parteiintern sehr, sehr viele Begehrlichkeiten befriedigen. Manche Wünsche sind inkompatibel: Mehr Frauenrechte und mehr Rechte für Transsexuelle zum Beispiel schließen sich nicht nur in der Sauna aus. Mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt und mehr Kündigungsschutz gleichzeitig geht auch nicht.

Aber all diese Grüppchen, die Partikularinteressen vertreten, sind innerparteilich eben auch Machtfaktoren. Fast alle haben jeweils Fürsprecher in den Parteivorständen und in den Bundestagsfraktionen. Das auszutarieren, ist durchaus kompliziert.

Und jeder will sich im Koalitionsvertrag irgendwo wiederfinden, sei es auch nur mit einem Satz. Bei all den Interessengruppen und -grüppchen macht das am Ende viele Sätze. Deshalb wird auch dieser Koalitionsvertrag ein elendig langes Konvolut werden – so lang und so schwer zu lesen wie „Krieg und Frieden“, nur halt ohne philosophisch interessante Gedanken und ganz sicher ohne jede literarische Qualität.

Der Koalitionsvertrag wird nichts anderes als eine addierte Wunschliste der mächtigen Parteiströmungen von Union und SPD. Um die nicht auflösbaren Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Wünschen ihrer unterschiedlichen innerparteilichen Machtzentren zuzukleistern, haben Friedrich Merz und Lars Klingbeil sich schon mal den größten Geldgeschenketopf der deutschen Geschichte bereitstellen lassen.

Bei all dem spielt eine Frage überhaupt keine Rolle: Was aus Deutschland als Ganzem wird. Die Koalitionsverhandlungen beschränken sich auf einen Kuhhandel, welche Interessengruppe wie viel Geld bekommt. Das wird detailliert aufgeschrieben.

Wenn man ehrlich ist, geht das bei diesen „Partnern“ nicht anders.

Denn die weltanschaulichen Gemeinsamkeiten von Union und SPD kann man mit der Lupe suchen. Deshalb werden grundsätzliche Fragen auch gar nicht erst angefasst. Dort, wo man sich nun wirklich nicht drum herumdrücken kann, werden maximal schwammige PR-Formulierungen gefunden werden, in die jeder nach Herzenslust alles hinein- und auch wieder hinausinterpretieren kann.

Das ist der Grund, warum auch dieser Koalitionsvertrag eine einzige Spiegelstrich-Hölle sein wird. Man flüchtet sich ins Klein-Klein, weil man sich in den großen Linien schlicht nicht einig ist – und sich auch nicht einig werden kann.

Da wuchert zusammen, was nicht zusammengehört.

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