Die derzeit laufenden Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen werden von den beteiligten Parteien damit begründet, dass die angestrebte Jamaika-Koalition Ergebnis des bei der Bundestagswahl zum Ausdruck gebrachten Wählerwillens sei. Die Wähler hätten den vier beteiligten Parteien den Auftrag erteilt, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Diesem Auftrag müssten sie nun aus Respekt vor dem Wählerwillen und aus staatspolitischer Verantwortung nachkommen, auch wenn sie selbst nicht für eine solche Koalition geworben hätten.
Letzteres entspricht den Tatsachen, die Existenz eines Jamaika-Wählerauftrags dagegen ist eine Erfindung. Für eine Koalition zwischen CDU, CSU, FDP und Grünen hat während des Wahlkampfes in der Tat keine der beteiligten Parteien geworben. CDU und CSU warben vielmehr offen für eine Koalition mit der FDP, zeigten sich aber auch an einer Fortsetzung der Großen Koalition (GroKo) mit der SPD interessiert. Die CDU signalisierte gleichzeitig, daß sie sich auch eine Koalition mit den Grünen vorstellen könne. Diese Option lehnte die CSU unter Verweis auf deren flüchtlingspolitische Positionen zunächst ab, änderte im Laufe des Wahlkampfes aber zusehends ihre Meinung dazu. Am Ende ließ sie offen, ob sie mit den Grünen koalieren würde, was zahlreiche bayerische Wähler sichtlich irritierte.
Die Grünen starteten ihren Wahlkampf Ende 2016, Anfang 2017 zunächst mit klaren Signalen in Richtung Rot-Rot-Grün (R2G). Sie hätten dafür sicher auch gerne einen waschechten R2G-Koalitionswahlkampf geführt. Dieser ist daher auch nicht an ihnen, sondern an der SPD gescheitert, die vor einer offenen koalitionären Bindung an die Partei Die Linke zurückschreckte. Die Grünen begannen so ihren Wahlkampf zunächst mit der Botschaft, weder mit CDU/CSU noch mit der FDP koalieren zu wollen. Dies änderte sich erst nach den Landtagswahlen im Saarland und in Nordrhein-Westfalen, bei denen klar wurde, dass R2G keine Chance haben würde, die Kanzlermehrheit zu erreichen. Erst dann wurde die Eigenständigkeit der grünen Partei betont, die einzig dafür kämpfe, ein möglichst hohes Wahlergebnis zu erreichen.
Dass CDU, CSU, FDP und die Grünen seit dem 24. September über eine Kanzlermehrheit verfügen und deswegen rechnerisch eine Regierung bilden können, hat somit weder etwas mit deren Wahlkampfstrategien zu tun, noch ist eine Jamaika-Koalition Ausdruck irgendeines Wählerwillens. Über einen solchen verfügt ohnehin nur jeder einzelne Wähler und jede einzelne Wählerin, nicht jedoch ein abstrakter „Gesamtwähler“. Dieser ist ein nachträglich geschaffenes Konstrukt derjenigen Parteien, die sich vor den Wahlen möglichst viele Optionen offen hielten, um auf diese Weise irgendwie und jedenfalls in eine neu zu schaffende Regierung gelangen zu können. Camoufliert wird die damit erzeugte Profillosigkeit mit der staatspolitischen Verantwortung für die Regierbarkeit des Landes. Sie zwinge dazu, nach den Wahlen politische Positionen mitzutragen, die man vor den Wahlen noch ausdrücklich bekämpft und abgelehnt hat.
Genau diesen Eindruck müssen viele Wähler und Wählerinnen haben, nachdem sie nach dem 24. September plötzlich erfuhren, dass sie für die nächsten vier Jahre von einer Jamaika-Koalition regiert werden sollen. Das gilt für den gemeinen CDU-Wähler möglicherweise noch am wenigsten, da die Führung der CDU von vornherein deutlich machte, dass es ihr als stärkste Fraktion vor allem darum geht, weiterhin die Kanzlerin zu stellen. Deswegen präsentierte sie sich den Wählern während des gesamten Wahlkampfes in Hinblick auf mögliche Koalitionspartner ausgesprochen offen und flexibel. Sie erhob auf diese Weise das Prinzip der Profillosigkeit zu ihrem wichtigsten Charaktermerkmal und hat in Angela Merkel die perfekte Leitfigur dafür gefunden. Für die CDU-Wähler ist es daher keine Überraschung, dass die von ihnen gewählte Partei eine Jamaika-Koalition (wie jede andere x-beliebige) anführen möchte, nachdem sie von der SPD einen Korb erhalten hat.
Doch nicht nur viele Wähler der CSU, sondern auch der Grünen haben wohl nicht damit gerechnet, dass sie mit ihrer Wahlentscheidung dazu beitragen, dass die von ihnen gewählte Partei mit anderen eine Koalition eingehen will, die sich vor den Wahlen nicht nur in der Umwelt-, sondern vor allem in der Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage ihren politischen Vorstellungen entschieden entgegengestellt haben. Weite Teile der Wählerschaft der Grünen betrachten die Grenzöffnung des Jahres 2015 und den sich daran anschließenden kollektiven Willkommenstaumel nach wie vor als eine Art Bußgang für die Verbrechen der Nationalsozialisten und eine Prozession ihrer reinen Gesinnung, die sie beide unter allen Umständen fortsetzen möchten. Das wird mit der CSU, aber auch mit der FDP nicht möglich sein, sollten diese auch nur einigermaßen bei dem bleiben, was sie ihren Wählern bezüglich ihrer Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik vor den Wahlen versprochen haben. Die Grünen müssten sich, um endlich wieder in Regierungsverantwortung zu kommen, daher in ihrer Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik so sehr verbiegen, dass viele ihrer Wähler sich nachhaltig getäuscht fühlen müssen.
Eine solche Gemengelage verheißt nichts Gutes. Die insbesondere von der CDU angestrebte Jamaika-Koalition muss bei allen zwischen den Koalitionspartnern höchst strittigen Themen entweder faule Kompromisse bilden oder die Zuständigkeiten für die jeweiligen Politikfelder so aufteilen, dass die jeweils anderen Partner sich aus ihnen weitgehend heraushalten. Der Kanzlerin und damit der CDU fiele beide Male die Rolle zu, nicht die Richtlinien der Politik zu bestimmen, sondern dafür zu sorgen, dass ausgehandelte Kompromisse eingehalten bzw. abgesteckte Claims nicht überschritten werden. Das käme dem moderierenden, ausgesprochen flexiblen, um nicht zu sagenden opportunistischen Politikstil Merkels zwar sehr entgegen, würde das Land jedoch in zentralen Politikfeldern in einem noch höheren Maße richtungs- und führungslos machen, als es ohnehin schon der Fall ist.
Möglich ist aber auch, Merkel zur Kanzlerin einer Minderheitsregierung zu wählen, die sich auf den strittigen Politikfeldern dann fallweise ihre Mehrheiten im Parlament suchen muss. Eine solche Regierung könnte sie dann nicht nur innerhalb des Kanzleramtes moderieren, sondern müsste im Parlament deutlich machen, wohin sie will und warum andere Parteien ihr folgen sollten. Ihrer staatspolitischen Verantwortung können diese so nicht minder, vielleicht sogar besser nachkommen als wenn sie Teil einer Jamaika-Koalition wären. Bilanz wäre von den Wählern dann spätestens nach vier Jahren, vielleicht aber auch schon früher zu ziehen.
Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop www.tichyseinblick.shop