Tichys Einblick
My Way

Wenn schon Politiker um Vergebung flehen, was soll dann der Bürger tun?

Politiker flehen um Vergebung, wenn sie zu viel Demokratie wagten. EU will genehme Medien fördern. Länder wie Äthiopien kopieren deutsche Zensur-Ideen. – Wer heute nicht aufrecht geht, der wird morgen den Rücken auch nicht mehr gerade bekommen.

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Herbst 1974. Ein bis dahin kühler Monat in New York. Sonntag der 13. Oktober. Im Madison Square Garden wird am Abend ein musikalisches Hochamt gehalten. Zeremonienmeister ist ein Sohn italienischer Einwanderer, und er heißt mit Vornamen Francis Albert, doch man nennt ihn Frank, und mit Nachnamen heißt er Sinatra.

Das Konzert ist das Herz des TV-Specials »Sinatra – The Main Event« für die American Broadcasting Company. (Man findet Video-Schnipsel auf dem offiziellen Frank-Sinatra-YouTube-Channel.)

Es ist eine Art von Comeback, und nicht das erste; eigentlich ist es der letzte Teil einer Serie von Konzerten. 1971 war Sinatra mit 56 Jahren zum ersten Mal offiziell in »Ruhestand« gegangen, doch es hielt ihn nicht lange von der Bühne fort, er trat wieder auf, und wieder, und wieder, bis kurz vor seinem Tod 1998. (Kölner erinnern sich an sein letztes Konzert in Deutschland, auf der Kölner Domplatte. Auf bild.de, 12.12.2015 beschreibt Mark Pittelkau in schönen Worten, wie er dem damals inzwischen 77-jährigen »Ol’ Blue Eyes« persönlich begegnete.)

Das »Main Event« im Oktober 1974 schließt mit jenem Lied, das mancher von uns gern zuletzt in seinem Leben summen möchte, und davor immer wieder, vorab gewissermaßen. Das letzte Lied des »Main Event« ist jenes, auf welches die meisten von uns mit »ja, es wäre schön« antworten, und einige mit »ja, so ist es« – und die Verbitterten und Unglücklichen mit: »Was für ein Schmalz!«

Es ist nicht überheblich und es ist nicht falsch, wenn Frank Sinatra am 13. Oktober 1974 das letzte Lied des Abends mit diesen Worten ankündigt: »We will now do the national anthem, but you needn’t rise.« – in etwa: »Wir singen jetzt die Nationalhymne, aber ihr müsst nicht aufstehen.« (siehe YouTube!)

Nach den ins globale Gedächtnis eingebrannten Akkorden, singt Sinatra: »And now – the end is near – and so I face – the final curtain…«

»My Way« ist der ins Englische übertragene französische Chanson »Comme d’habitude«. Wenn man das Sehnen des modernen Menschen nach Selbstverwirklichung in ein einziges Lied fassen wollte – nicht sein tatsächliches Handeln, zumindest nicht in der Mehrheit, leider! – dann wäre es dieses Lied. Ich erlaube mir, liebe Leser, einige Gedanken des Liedes zu kommentieren.

Der letzte Vorhang

»Nun ist das Ende nahe«, so singt Sinatra (meine Übertragung ins Deutsche), »und ich stehe vorm letzten Vorhang«.

Die Kunst des Lebens, so sagen die Weisen, ließe sich als die Kunst des zufriedenen Sterbens beschreiben. Wenn die Reise zu Ende ist, dann ist es zu spät, darüber nachzudenken, wohin man denn überhaupt wollte.

Die weitaus meisten Bücher in den Millionen Regalmetern der ungezählten Bibliotheken der Welt, die Musik in unseren Konzertsälen und die Bilder in unseren Galerien, all dies sind Versuche der Antwort auf die eine Frage: Wie wollen wir dereinst gelebt haben? Oder: Was soll man tun, damit man dereinst sagen kann, dass es ein gutes Leben war?

Dessen ich mir sicher bin

Der Sänger legt uns, seinem Freund, seinen Standpunkt vor (»my case«), dessen er sich sicher ist.

Wenn man mich fragte, wessen ich mir sicher bin, was würde ich antworten? Einerseits ist jeder mit großer Vorsicht zu behandeln, der sich seiner Wahrheiten allzu gewiss ist, doch die Gewissheit des Liedes ist anders beschaffen: Hier spricht ein Mensch aus der Erfahrung seines Lebens – oder: hofft dereinst so zu sprechen. Was habe ich bislang gelernt? Was hoffe ich dereinst gelernt zu haben?

Einst haben die Menschen in Tagebüchern formuliert, was sie fühlen. Unsere heimlichen Gedanken zu Sprache werden zu lassen, das hilft uns, eben diese zu klären. Heute lassen wir unsere Gedanken öffentlich ins Internet rieseln, wo die Zensoren, Denunzianten und manche Hyänen auf Gelegenheiten warten, uns zu entweiden und uns dann an unseren eigenen Gedärmen zu erhängen. Doch zu sich selbst, oder zu einem Freund, dem man heute noch vertrauen kann, sollte man doch formulieren dürfen, was man als wahr erkannt hat.

Jede einzelne Straße

Ein volles Leben hat er gelebt, so singt Sinatra, und er bereiste jede einzelne Straße (»each and every highway«).

Das Alter hat manchen Nachteil. Die kleinen Buchstaben beginnen zu tanzen, dann bald verschwinden sie ganz im Nebel der Nähe. Die Pillen und Cremes im Medikamentenschrank werden mehr, die Treppen, die man ohne zu verschnaufen hochläuft, werden weniger.

Jedoch, das Alter hat auch Vorteile! Zu diesen zählt der Wert der Erfahrung. Es gibt Kinder und Halbstarke, die sich für klug und weise halten, doch keine, die es sind. Nicht alles, was wichtig und fürs gelingende Leben notwendig ist, lässt sich aus Büchern erfahren – ach, wenn sie es wenigstens versuchen würden! – und aus Social Media oder Staatsfunk ganz gewiss nicht. Selbst wenn man die alten Schriften auswendig lernt wie Koranschüler die Worte des Propheten, so braucht es noch immer ein ganzes Leben, um zu verstehen, was sie wirklich bedeuten. (Und dennoch sollten schon Kinder es lesen und lernen, siehe dazu: »Lasst die Kinder doch Kinder sein!«)

Auf meine Weise

Das Wort »Way« in »My Way« hat mehr als eine mögliche Bedeutung: Es kann »Mein Weg« bedeuten, »Meine Weise« oder »Meine Art«.

Wenn keine Krankheit des Körpers oder der Seele den Menschen zu früh aus dem Leben nimmt, so wird jeder Mensch irgendeinen Weg zurücklegen. Nicht jeder Mensch wird sagen können, dass er tatsächlich »alle Wege« bereiste – wohl nicht einmal das Erzähler-Ich dieses Liedes – doch unser Lebensweg teilte sich in viele Abschnitte, und wir bereisten sie, notwendigerweise.

Dass wir die Wege des Lebens bereisten, das allein ist nicht die Leistung, welche dieses Lied preist. Durchs Leben zu kommen ist nicht immer einfach, und doch ist es »nur« Pflicht – die Kür besteht darin, von den vielen möglichen Wegen einen eigenen Weg gegangen zu sein, das Leben auf die eigene Weise gelebt zu haben. (Mit meinen Worten: Die Kunst des Lebens besteht darin, selbst herauszufinden und festzulegen, was die eigenen »Relevanten Stukturen« sind – und diese dann zu ordnen.)

Was ich tun musste

Einige Entscheidungen bedauerte der Sänger, doch andererseits wieder seien diese so wenig an der Zahl, dass man sie kaum erwähnen muss (»too few to mention«).

Weit mehr als unsere Fehler und Fehlversuche bedauern wir bekanntlich die Chancen, die wir ungenutzt ließen. Seinen Weg selbst gewählt zu haben, das ist sein eigener Erfolg.

Beispiel: Was ist es denn, das junge Männer heute motiviert, am Computer zu spielen? In einer vorbestimmten, unfreien Welt sind Computerspiele der letzte Ort, an dem sich gegen Widerstände streiten und nach eigenen Entscheidungen etwas erkämpfen lässt. (Es ist nur konsequent, wenn verbitterte »Social Justice Warriors« gegen diese letzte kleine Quelle männlichen Glücks agitieren. Gewisse Kreise werden nicht ruhen, bis nicht auch der letzte Mann unglücklich und gebrochen ist, bis nicht auch der letzte Flecken Glück, und sei er digital und virtuell, ausradiert und ausgelöscht ist.)

Der Sänger singt, dass er »tat, was er tun musste« (»I did what I had to do«) – und er tat es auf seine eigene Weise.

Ach wären sich die Klugen nur halb so sicher wie die Dummen sich ihrer Sache jeden Tag sicher sind! – Es gibt viele Menschen, die sich ihrer Sache sicher sind, viel zu viel zu viele, und die allermeisten sind Trottel, und wenn sie sich ihrer dummen Sache nicht nur sicher sind, sondern sie auch umzusetzen anstreben, dann werden aus regulären Trotteln ernsthaft gefährliche Supertrottel.

Es ist gut und richtig und wichtig – und es kann sehr befriedigend sein! – darüber zu grübeln, was man selbst für gut und richtig und wichtig hält, doch dann gilt es auch auf sein eigenes Urteil zu vertrauen, öffentlich zu sprechen und zu handeln!

Mal lachen, mal weinen

Der Sänger gibt gern zu, dass er schon mal »mehr abbiss, als er kauen konnte«. Mal lachte er und mal weinte er. Die Menschen um uns sehen nicht die Härten, durch die wir gingen, was wir alles abbissen, sie sehen nicht die Momente, in denen uns alles fast zu viel wurde.

Ich kann mich gut an meine Kinder- und Jugendjahre erinnern, wie unser Leben sich von dem Leben anderer Kinder unterschied. Andere Kinder schauten am Abend fern, wir hatten keinen Fernseher, wir lernten – oder spielten ohne Fernseher. Andere Kinder hatten Markenschuhe und fuhren nach Mallorca, nach Sylt und zum Ski-Fahren, wir trugen Aldi-Style, arbeiteten durch, fuhren höchstens zur Familie, was romantisch klingt, aber nach dem zehnten Mal dröge wird … und wir sparten alles, was sich irgendwie sparen ließ. Dann hatten wir genug für ein heruntergerocktes Haus, welches mein Vater und Großvater nach Feierabend und am Wochenende renovierten, vom Baumarkt die Zementsäcke auf dem Sperrmüll-Fahrrad heranfahrend – und irgendwann hatten sie ein feines Häuschen und mancher Kollege war neidisch. Die neidischen Kollegen sahen das Haus, all den Staub, den Schweiß, den Verzicht und den Fleiß, den sahen sie nicht. (Und heute drohen Berliner Sozialisten, die keinen Tag ihres Lebens arbeiteten, den Bürgern das Erarbeitete wieder wegzunehmen um es ihren Günstlingen zu geben.)

Es klingt romantisch, »seinen eigenen Weg« zu gehen, doch vertun wir uns nicht: Wer seinen eigenen Weg geht, wird mehr als einmal auf spitze Steine treten. Wirst du aufgeben oder die Zähne zusammenbeißen und trotz allem den nächsten Schritt unternehmen, vorsichtig doch zäh?

Was er wirklich fühlt…

Was ist ein Mann, was hat er vorzuweisen, so fragt der Sänger, wenn der Mann nicht ausspricht, was er wirklich fühlt?

Vergangene Woche erlebte Deutschland das unwürdige Schauspiel, dass der Vorsitzende der sogenannten »Freien Demokraten« im Bundestag öffentlich dafür um Vergebung bat, einigermaßen sinngemäß interpretiert, dass der »liberale« Kandidat in Thüringen eine demokratische Wahl entgegen dem Willen der Kanzlerin annahm (bild.de, 13.2.2020). Ich war enttäuscht: Ich hätte erwartet, dass der Chef der Buntgelben sich zur Prostratio vor der Kanzlerin niederwirft.

Wir leben in wenig freiheitsfreundlichen Zeiten. In Brüssel planen sie ganz offen Propaganda-Strategien, oder wie man das heute nennt: »Kampf gegen Fake News« (welt.de, 15.2.2020). Deutschland träumt davon, in Zukunft statt Industrieprodukten und Dienstleistung lieber die erhabene deutsche Moral in die Welt zu exportieren, und auf eine perverse Weise gelingt es bereits: In Äthiopien wurde ein »Hassrede-Gesetz« verabschiedet, das ganz wie in Deutschland solche Meinungen in Sozialen Medien bestrafen und verhindern soll, welche die Regierung als »Hass« einschätzt (siehe sueddeutsche.de, 13.2.2020).

Was also ist ein Mensch seinem Wesen nach, was hat er denn vorzuweisen, wenn er nicht zumindest sagen kann, dass er sich selbst treu war?

Seinen eigenen Weg zu gehen, zu seinen Worten und Werten zu stehen, selbst zu denken und auszusprechen, was man als richtig erkannt hat, all das ist in Deutschland wieder aus der Mode. Wer nicht von jenen, die wie Faschisten reden und denken, selbst ein Faschist genannt werden will, der muss mit den Worten eines »Knieenden« reden – was der Sänger »the words of one who kneels« nennt.

Einen Weg zu finden…

Frank Sinatra ist tot, wie so mancher unserer Helden. Andere Helden meiner Jugend leben, und ich wünsche ihnen ein langes Leben, und darunter wiederum sind einige, die im Alter doch noch ihre Knie gebeugt haben und die Lügen der bizzarren linken Gegenteilwelt nachplappern – eine traurige Angelegenheit. Wenn wir nicht zu unseren eigenen Helden werden, wird es keine Helden mehr geben.

Der wirklich freie Mensch hat keinen Fürsprecher heute im Mainstream. Der deutsche Mainstream ist links, anti-freiheitlich und latent anti-demokratisch. Frei zu sein, seinen »eigenen Weg« zu gehen, das gilt heute als »extremistisch«, die Durchsetzung geltenden Rechts zu fordern, das kann heute »faschistisch« genannt werden.

»The big lesson in life, baby, is never be scared of anyone or anything«, so sagte Sinatra einmal, zu Deutsch: »Die große Lektion im Leben, Baby, ist es, sich nie vor etwas oder jemandem zu fürchten.«

Sollen wir angstfreie Monster werden, die sich sehenden Auges dem Tod entgegenwerfen wie Soldaten mit Panzerschokolade im Blut? (Siehe dazu: »Angst ist ein Stück Lebenskraft«)

Nein, Angst schützt uns, wenn sie begründet ist, und wenn wir uns nicht von ihr leiten lassen. Die Kunst des Lebens besteht nicht darin, die Augen zu schließen und zu tun, als wäre da keine Gefahr. Die Gefahr ist da. Staatsfunk, Politik und ihre vielen Helfer erinnern uns jeden Tag daran, wie gefährlich es sein kann, auf sein Gewissen zu hören, selbst zu denken und das Gedachte auch noch aussprechen und umsetzen zu wollen.

Die Kunst ist, den Grund seiner Angst zu sehen, und sich doch nicht lähmen und in die Knie zwingen zu lassen, sondern einen eigenen Weg zu finden – einen Weg, den man »my way« nennen kann.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com

Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.

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