Ich sehe manchmal Menschen auf der Straße stehen, die Werbezettel verteilen, sogenannte »Flyer«. Auf den Zetteln erklären und bewerben die Verteiler ein Anliegen; manchmal sind sie im Auftrag eines Konzerns unterwegs (und ich zähle manche Partei zu den Konzernen), doch oft ist es ein privates, eher »kleines« Anliegen.
Das Anliegen kann politisch sein; vielleicht möchten uns die Zettelverteiler von Gefangenen in ihrem fernen Heimatland erzählen. Das Anliegen kann wirtschaftlicher Natur sein; vielleicht hat der Zettelverteiler ein neues Restaurant eröffnet, und er bittet uns, seine Dienste auszuprobieren.
Ich finde es ein wenig traurig, wenn Passanten die Zettelverteiler ignorieren, als wären diese gar keine Menschen. Zumindest eine Chance kann man doch geben! (Also nehme ich oft einen Zettel mit und warte dann mit dem Wegwerfen noch zwei Straßenecken, und auch dann nicht auf den Boden.)
Letztens fanden wir im Briefkasten den Flyer einer Schneiderin, die sich in unserer Nachbarschaft neu zu etablieren versucht. Der Zettel war wohl selbst am PC entworfen und günstig gedruckt, doch er war ordentlich. Wir beschlossen, ihr eine Chance zu geben – meine Großeltern beherrschten noch die Kunst des Nähens und Kürzens, wir sind eher »philosophisch« veranlagt, doch mit zwei Kindern muss immer wieder etwas genäht, geflickt, gekürzt oder wieder ausgelassen werden. Wenn eine Schneiderin sich die Mühe macht, in den »besten Jahren« wieder in ihren Beruf einzusteigen, dann ist das kein Zeichen wirtschaftlicher Stärke, dann kämpft sie aus der Position des Schwächeren heraus, und was verdient Unterstützung, wenn nicht das?!
Mit Flyern gegen Hochzeitskorsos
Die toleranten Gegenden von Deutschland erleben in den letzten Jahren sogenannte »Autokorsos«. Straßen werden blockiert und Menschenleben gefährdet (siehe etwa focus.de, 23.4.2019). Jene, die es nicht betrifft, könnten die neuen Autokorsos als multikulturellen Ausdruck südländischer Fröhlichkeit deuten, jene, die es betrifft, könnten in den Hochzeitskorsos die Machtdemonstration einer archaischen Kultur sehen: Alle Räder stehen still, wenn der Familienclan es will.
Was soll die Polizei denn tun? Man kann ja Hochzeiten innerhalb bestimmter Kulturkreise nicht verbieten, man hat es ja schon bei einfachen Kontrollen schnell mit den flaumbärtigen Deutschlandhassern in Redaktionen und anderswo zu tun.
Im toleranten NRW verteilt die Polizei nun Flyer gegen Hochzeitskorsos (siehe welt.de, 4.6.2019) – es ist ein Witz, aber kein Scherz.
Allein im April 2019 wurden in NRW stolze 104 »Korso-Einsätze« registriert (so welt.de, 4.6.2019 weiter). Im Mai gingen die Zahlen nach unten, wegen eines Fastenmonats, doch man fürchtet, dass es im Juni wieder mehr werden.
Bei diesen Einsätzen wurden ganze Autobahnen blockiert von Feiernden aus dem schintoistischen Kulturkreis. (Notiz an selbst: Stimmt das so? Vor Veröffentlichung prüfen!) Es wurden Pistolen abgeschossen, und nicht immer waren die »Almans« glücklich darüber, dass ihr Leben durch archaische Machtdemonstrationen unterbrochen oder sogar gefährdet wurde. (Ist man schon »Rechter«, wenn man ohne Pistolenschüsse und künstliche Blockaden nach Hause fahren möchte?)
In einem Anflug von Sarkasmus erlaube ich mir, Ihnen den ersten Paragraphen der Straßenverkehrs-Ordnung zu zitieren:
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. (2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. (via gesetze-im-internet.de)
Man könnte fast meinen, dass nicht alle, die »noch nicht so lange da sind«, also höchstens zwei oder drei Generationen, diese Grundregeln des deutschen Straßenverkehrs verinnerlicht haben. Sollte man den §1 STVO umformulieren? »Verhalte dich stets so, dass alle unzweideutig spüren, wer Chef ist« – wäre das zeitgemäßer?
»Was braut sich da zusammen?«
Wie ein schüchterner Aktivist, der die Freiheit der politischen Gefangenen im fernen Korruptistan fordert, oder wie die Schneiderin, die mitten im Leben neu beginnen muss, so demütigt sich auch der deutsche Staat und bettelt die Hochzeitsgesellschaften an, sich doch bitte, bitte an die Gesetze zu halten.
Was ist die innere Logik dieses vor lauter Hilflosigkeit schon niedlichen Anliegens?!
Im Flyer steht, unter anderem »Halten Sie sich an die Verkehrsregeln« und »Führen Sie keine Waffen mit« (welt.de, 4.6.2019). Das Auto könne man verlieren und sogar eine Haftstrafe riskieren, heißt es, und wir anständigen Bürger wünschen den Flyer-Verfassern von ganzem Herzen, die Gerichte würden nicht die gefährliche Arbeit der Polizei gelegentlich mit nur schwer nachvollziehbaren Urteilen mindestens gefühlt ad absurdum führen. – Es klingt nach Hilflosigkeit, nach Betteln um Gnade. Was ist das Szenario, das sich die armen Zettel-Autoren vorstellen? Ein »junger Mann« mit Clanhintergrund bereitet sich für die anstehende Hochzeitsfeier vor; er ist bereits aus der Tür gegangen, sitzt im BMW und will den Motor starten, da fällt ihm der billige Flyer in die Hand, und plötzlich fühlt er sich überzeugt, er geht zurück ins Haus, wo er die Waffen und die Pyrotechnik wieder auspackt, um dann brav und gesetzestreu, von einem billigen Flyer geläutert, zu den Feierlichkeiten zu fahren?
Gehen die Behörden davon aus, dass Menschen, die Waffen und Böller zu Hochzeitsfeiern mitnehmen, die Art von Menschen sind, die sich von einem Flyer überzeugen lassen, dies nicht zu tun? Glaubt man wirklich, dass dieser Kunde nicht weiß, dass das verboten ist?
Letztes Jahr zitierte ich den Freiburger Polizeichef, der sagte: »Wir müssen uns klarmachen, dass in einer offenen Gesellschaft nicht jedes Delikt zu verhindern ist. (…) Wir können den Bürgern keine Vollkaskoversicherung bieten.« – Der Text trug den Titel: »Was braut sich da zusammen?«
Fleischmengergasse
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich einmal, vor Jahren, am Kölner Neumarkt, auf dem Weg zu Fuß zur Bibliothek, an der Fußgängerampel Fleischmengergasse drauf und dran war, die Straße bei Rot zu überqueren – es fuhr ja keiner. Aus dem Augenwinkel sah ich dann aber einen Polizisten, und ich zuckte zusammen und blieb doch stehen. Der Grund warum ich mich erinnere, ist mein anschließendes Grübeln ob der Frage, warum ich eigentlich stehen blieb.
Bis heute bleibe ich (meistens) an Ampeln stehen, wenn Rot ist. Ich will ein Vorbild für die Kinder sein, klar – und ich mag Ordnung. Wenn ich in Köln unterwegs bin, dann passe ich auch an grünen Ampeln lieber doppelt auf – ich habe es mehr als einmal erlebt, dass einer dieser an Geist und Fahrgestell modisch Tiefgelegten über »kleinere« Ampeln einfach drüberfährt, selbst wenn sie für ihn Rot zeigen und für mich Grün – es ist fast, als ob einige Leute glaubten, die Gesetze würden für sie nicht gelten – zumindest nicht ganz so streng.
Eine Demokratie ist nur so stark wie der Überlebenswille und die Weltklugheit seiner Bürger. Mir tut die Polizei, die solche hilflosen Flyer herausbringen muss, vor allem leid. Es ist ein Problem, wenn die Polizei in uns Mitleid weckt.
Ich erinnere mich an die Zeiten, als Polizist zu sein ein Beruf mit allgemeinem Respekt war. Würden Sie heute Ihrem Kind raten, Polizist in Deutschland zu werden?! Fragen Sie einmal die Partner und Familienangehörigen von Polizisten, was die davon halten, wie Deutschland jene behandelt, die ihr Leben riskieren, um das Land vor sich selbst zu schützen.
Mit jeder Faser
Es ist okay, wenn ein politischer Aktivist mit einem exotischen Anliegen seine dünnen Flyer verteilt. Es ist unterstützenswert, wenn eine Schneiderin das tut. Was beim kleinen Bürger okay und angemessen ist, das ist, wenn der Staat es tut, ein Desaster.
Freiheit braucht Ordnung und Sicherheit – und die Zuversicht des Bürgers, dass der Staat sowohl Ordnung als auch Sicherheit garantieren kann. Ein schwacher Staat macht den Bürger zum schutzlosen Opfer des gesetzlosen Stärkeren – oder motiviert ihn, selbst »stark« zu werden, sprich: sich zu bewaffnen – der Himmel möge uns helfen, wenn das passieren sollte – tun wir alles, was wir können, damit es nicht dazu kommt.
Ein Staat, der auf Zetteln um die Einhaltung von Gesetzen bettelt, die bis eben noch selbstverständlich waren, wirkt schwach, hilflos, ratlos. (Notiz: In München wendet sich die Polizei ähnlich hilflos an den türkischen Generalkonsul, der möge doch »seinen Landsleuten« ins Gewissen reden (jungefreiheit.de, 4.6.2019). Wir beobachten die Selbstaufgabe eines Landes. Deutschland heute, das ist Geschichte zum Angefasstwerden.) Ich will einen starken Staat, der mich einfach Mensch sein lässt. Ich zahle Steuern, halte mich an die Regeln und leiste etwas, das meine Mitmenschen nützlich finden – im Gegenzug soll der Staat einen Rahmen sichern, innerhalb dessen ich mein Leben leben und meine Kinder großziehen kann – wenn das links oder rechts sein soll, populistisch oder außerirdisch, dann soll man mich eben all das nennen, gerne gleichzeitig oder wochentäglich abwechselnd, ich selbst nenne es liberal-konservativ, freiheitlich, konsequent rechtsstaatlich und mit jeder Faser demokratisch.
Ein lieber Mensch
Die Vorhänge im Zimmer meines Sohnes Leo sind ein wenig lang und berühren den Boden. Es sind die ersten Vorhänge, die er noch als Baby im damals mit seiner Schwester geteilten Kinderzimmer erlebt hatte, und er besteht darauf, sie auch heute zu behalten. Wir werden sie zur Schneiderin bringen, und sie bitten, den Stoff umzuschlagen. Die Schneiderin ist ein lieber Mensch, der neu anfängt, und lieben Menschen soll man helfen!
Wir wollen die Dinge sehen, wie sie sind! – Solange Propaganda und Schulen den Kindern einreden, dass Selbstbewahrung, dass das Denken in Zusammenhängen und Kritik an der Leitmeinung angeblich »rechts« und »Hass« und »keine Meinung« sei, so lange wird es nur schwer besser werden. Solange Propaganda und zu viele Lehrer den Geist der alternativlosen Unterwerfung in die Köpfe der Bürger trichtern, wird der Staat immer häufiger mit Zettelchen um die Einhaltung der Gesetze betteln.
Die Hoffnung, dass die Propaganda abgeschaltet wird und die Linksgrünen eine wirksame Nachschulung in Demokratiekunde bekommen, ist nicht berauschend hoch – die Undemokraten haben tiefere Taschen, haben NGOs und Redaktionen, sie schüren Emotionen und Hysterie, wo wir »nur« Argumente und Zusammenhänge anbieten können (siehe auch: »Das Konservative und seine Lücken«).
Ich suche nach Hoffnung – und mit »Hoffnung« meine ich die Annahme, nach der eine ernstzunehmende Wahrscheinlichkeit existiert, dass ich, Sie und das Land eine »Ordnung unserer Kreise« finden.
Hofft aufs Wunder, ja, doch überlegt für einen Augenblick, was diese »Hoffnung« eigentlich ist. – Hoffnung ist »nur« das aktive Annehmen der These, dass es gut werden kann – Hoffnung ist nicht Gewissheit, so wie der Lottoschein noch nicht der Hauptgewinn ist. Hoffnung ist das Licht, das an sonnigen Tagen in die Fenster leuchtet, es ist nicht das Fundament, auf dem man das Haus baut.
Hofft aufs Wunder, ja, doch verschließt die Augen nicht vor dem, was wirklich passiert! Der Staat wirkt an manchen Stellen wie ein Bettler, der um Einhaltung der Gesetze fleht, und die Gründe dafür, die Verdummung und suizidale Selbstaufgabe, werden von Staatsfunk und NGOs weiter angeheizt – das macht die Hoffnung gerade etwas schwer – doch wollen wir sie ganz aufgeben?
Hofft aufs Wunder, doch rechnet mit der Realität.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.