Es gibt Verbrechen, die so furchtbar sind, dass es legitim ist, zu zögern und zu überlegen: Wie soll darüber berichtet werden? Nach dem Mord an einem achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof durch einen 40jährigen Eritreer und einem Mordversuch an der Mutter, gab es dieses Innehalten. Das dürfte aber nicht der einzige Punkt gewesen sein, der die Berichterstattung vieler Medien bestimmte.
„Am Vormittag geraten eine Mutter und ihr achtjähriges Kind auf die Gleise. Mutmaßlich wurden sie gestoßen“, hieß es zuerst bei der ARD. Spiegel Online schrieb: „Unter den Zug geraten“. Die taz – als einzige größere überregionale Zeitung – berichtete am Montag überhaupt nicht über das Verbrechen.
Von der Grünen Verkehrspolitikerin Valerie Wilms kam der Hinweis, mit etwas Vorsicht von Mutter und Kind wäre es gar nicht dazu gekommen:
„Wie im Straßenverkehr muss auch im Bahnverkehr die notwendige Sorgfalt bei der Benutzung der Bahneinrichtungen an den Tag gelegt werden. Dazu gehört auch, sich nicht in den Gleisbereich zu begeben…Wenn sich alle an die Regeln halten, reichen diese Maßnahmen für eine sichere Benutzung Bahnsteige aus.“
Apropos, bloß keine Instrumentalisierung: die „Süddeutsche“ brauchte nur ein paar Zeilen von dem Bahnhofsmord zur AfD:
„Zugleich haben im Netz und bei der AfD schnell wieder jene das Wort geführt, die entweder stets ihre gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausleben oder die Etikettierungen für eine Methode halten, Verbrechen zu begreifen. Würde man das auch, zum Beispiel, mit Sportschützen tun? Ein Mann, aktiv im Schützenverein, erschoss den Regierungspräsidenten von Kassel; ein anderer, ebenfalls Schütze, schoss in Wächtersbach einen Eritreer an. Die – ohnehin absurde – Verallgemeinerung blieb aus.“
Die hier hatte der Autor der „Süddeutschen“ wahrscheinlich übersehen:
Und die „Frankfurter Rundschau“ fing gleich mit der AfD an:
„Was treibt eine Frau wie Alice Weidel (AfD) dazu, mit der Herkunft des mutmaßlichen Täters ihr schmutziges Süppchen zu kochen? …Ein Mensch begeht eine Gewalttat, das ist die schreckliche, aber auch die ganze Geschichte. Es gibt Täter, und es gibt Opfer, also bitte: Hört auf, sie nach Nationalität und Hautfarbe zu unterteilen.“
Einen Begriff benutzte von vornherein keiner, der sich am Montag und Dienstag zu dem Mord in Frankfurt äußerten: Rassismus. Müsste nicht zumindest die Frage gestellt werden, ob diese Art von Hass ein Motiv für die Tat gewesen sein könnte, wenn jemand den zufällig ausgewählten Angehörigen einer anderen Ethnie tötet, und bei anderen den Mord versucht?
Gewaltakte mit ähnlichem Muster gegen Zufallsopfer gab es in den vergangenen Jahren einige.
In Nürnberg trat am 13. Dezember 2017 ein 23jähriger Afrikaner eine 73-jährige Frau auf offener Straße fast tot – ohne erkennbares Motiv.
Am 7. September 2017 stieß ein Mann einen deutschen Passanten vor dem Leipziger Hauptbahnhof an der Ampel in den anrollenden Verkehr. Das Opfer wurde schwer verletzt, der Täter – laut Augenzeugen beziehungsweise Polizei von arabischem Aussehen – konnte entkommen.
Am 17. März 2017 wurde am Bahnhof Dresden-Zschachwitz ein Mann von einem marokkanischen und einem libyschen Asylbewerber auf das Bahngleis gestoßen, das Duo hinderte ihn sogar daran, wieder auf den Bahnsteig zu klettern. Das Opfer überlebte, weil der Fahrer einer ankommenden S-Bahn noch rechtzeitig bremsen konnte. Motiv der Täter laut Polizei: der Mann hatte den beiden kein Feuer für ihre Zigaretten gegeben, weil er eilig weitermusste.
Bei der Prügeltour von vier jungen Asylbewerbern im Ambach im Dezember 2018 ging es nicht um Mord, versuchten Mord oder Totschlag, sondern nur um Körperverletzung. Aber auch hier schlugen die Täter Afghanistan und dem Iran auf Passanten ein, insgesamt 15, die ihnen zufällig in den Weg kamen.
Könnte also eine Verachtung für ethnisch Andere zu den Taten geführt haben? Nach den Schüssen eines Deutschen auf einen Eritreer in Wächtersbach nannten alle Medien die Tat rassistisch – was nach den vorliegenden Ermittlungsergebnissen auch zutrifft.
Sollte sich herausstellen, dass der Mordanschlag auf den Eritreer in Wächterbach zur Tat in Frankfurt führte, dann ließe es sich aber kaum durchhalten, die eine als rassistisch zu erklären und die andere nicht.
Die Frage nach Motiven weit über den Frankfurter Mord hinaus ist legitim, weil es für die meisten Politiker und Medien bei einer umgekehrten Täter-Opfer-Konstellation keinen Zweifel gäbe. Hätte ein weißer Deutscher ein eritreisches Kind und seine Mutter vor den Zug gestoßen, hätte ein Deutscher eine afrikanische Frau auf offener Straße fast totgetreten, hätten zwei Dresdner einen Marokkaner vor eine Bahn gestoßen und ihn daran gehindert, wieder auf den Bahnsteig zu gelangen, hätte in Ambach eine deutsche Gang auf nichtweiße Passanten eingeschlagen – das Urteil wäre glasklar gewesen: Rassismus.
Das heißt nicht, dass in jedem der genannten tatsächlichen Fälle zwangsläufig rassistischer Hass die entscheidende Rolle gespielt haben muss. Über die Beweggründe des Täters vom Frankfurter Hauptbahnhof ist noch nichts bekannt. Dass er in der Schweiz zur christlichen-eritreischen Gemeinde gehörte, muss einen Hass auf Europäer nicht ausschließen.
Im Fall des Treters von Nürnberg fand kein Strafprozess statt; er wurde in die Psychiatrie eingewiesen.
Im Ambach vermutete die Justiz als Beweggrund „Langeweile, Alkohol, Drogen, Gruppendynamik“, die Jugendlichen selbst gaben im Prozess kein Motiv an. Es geht auch nicht um die einzelnen Fälle, sondern um den völlig asymmetrischen Gebrauch des Begriffs ‚rassistisch’ in Deutschland. Während er auf der einen Seite überhaupt nicht auftaucht, werden seine Grenzen auf der anderen Seite immer weiter hinausgeschoben. Vor wenigen Tagen twitterte die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli:
„Zwei rassistisch motivierte Morde in 7 Wochen. Behörden sehen erhöhte Gefahr. „Jede Fanaltat stimuliere potenzielle Nachahmer, ebenfalls aktiv zu werden.” Hoffe, jetzt haben alle verstanden, was hier passiert. #Lübcke #Wächtersbach #Rechtsterrorismus“
Wie schon in anderen Fällen schaffte es die Politikerin, ohnehin dramatische Ereignisse noch weiter aufzuladen. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war nach dem heutigen Ermittlungsstand ein politischer, aber kein rassistischer Mord. Welcher Rassenhass sollte im Spiel gewesen sein, wenn ein Deutscher einen anderen Deutschen erschießt? Und in Wächtersbach handelte es sich, wie Chebli auch hätte nachlesen können, um keinen Mord, sondern einen Mordanschlag. Das Opfer überlebte zum Glück.
Nach dem Angriff auf den Bürgermeister von Altena durch einen arbeitslosen Einwohner im November 2017 behauptete Spiegel Online unmittelbar vor dem Prozess: „Die Staatsanwaltschaft geht von einer rassistisch motivierten Tat aus.“ Das stand schon nicht so in der Anklageschrift. Im Verfahren kam der Richter zu dem Urteil, dass der psychisch kranke Täter überhaupt nicht aus politischen Motiven und auch nicht mit Tötungsvorsatz handelte. In andersherum gelagerten Fällen schließt „psychisch krank“ immer die Frage nach anderen Motiven aus, hier reichte schon die bloße (später widerlegte) Vermutung eines politischen Hintergrunds, um auch noch „rassistisch“ als reines Klingelwort in den Text zu schreiben.
Linke benutzen das R-Wort mittlerweile beliebig. Als Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer vor einiger Zeit die Plakat-Werbekampagne der Bahn kritisierte, in der in der Mehrzahl farbige Reisende zu sehen waren, und fragte, warum das Unternehmen seine Kundschaft nicht realistisch abbildet, wiesen ihn die grünen Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock umgehend zurecht: „Boris Palmer hat eine Tür zu einem rassistischen Weltbild aufgestoßen.“
Studenten und Aktivisten, die kürzlich aggressiv gegen eine Veranstaltung zum Thema Kopftuch polemisierten, eine plural besetzte Diskussionsrunde, die an der Universität Frankfurt stattfand, warfen der Professorin und Organisatorin Susanne Schröter „antimuslimischen Rassismus“ vor. Und forderten: „Schröter raus!“
Diejenigen, die das Wort „rassistisch“ so gebrauchen, benutzen es längst als rhetorischen Knüppel. Es geht um diese Asymmetrie des R-Worts. Selbst dort, wo Rassismus sich nicht übersehen lässt, wird er weggefiltert, wenn er nicht ins Muster passt. Im Juni 2018 griffen mehrere Jugendlichen mit arabischen Wurzeln am Bahnhof Zoo einen Mann an, weil er ein israelisches Lied hörte.
„Ich will diese Judenscheiße hier nicht hören“, so einer der Täter laut BZ: „Das hier ist unsere Stadt, unser Revier, wenn ich euch noch einmal hier sehe, schlitze ich dir die Kehle auf, du Scheißjude.“
Als ein nichtjüdischer Deutscher zu Hilfe kommen wollten, schlugen sie auch ihn, und teilten ihm mit: „Du Scheiß-Alman hast hier nichts zu sagen.“
Der Vorfall drang über die Berliner Lokalmedien kaum hinaus.
Viele Lehrer an Großstadtschulen erleben, dass auf den Pausenhöfen Bezeichnungen wie „Scheiß-Alman“, „Jude“, „Christenschwein“ und „Schweinefresser“ vor allem von türkisch- und arabischstämmigen Kindern ganz selbstverständlich benutzt werden.
Für seinen Buch „Inside Islam“ besuchte der ARD-Journalist Constantin Schreiber etliche Moscheen und hörte – Schreiber spricht perfekt arabisch – den Freitagspredigten zu. In einem Artikel für die „ZEIT“ zeichnete er das Bild einer Community, die sich ganz bewusst von ihrer deutschen Umgebung abgrenzen.
„Der Bertelsmann-Religionsmonitor sagt über Muslime in Deutschland: ‚Ihre Einstellungen orientieren sich stark an den Grundwerten der Bundesrepublik wie Demokratie und Pluralität.’ Die Autorin der Studie, Yasemin el-Menouar, schreibt, für Muslime sei Deutschland inzwischen Heimat. Für die Moscheen muss ich sagen: Das stimmt nicht. Abgrenzung und die Bewahrung der eigenen Identität gegen deutsche Einflüsse sind zentrale Botschaften. Von den Imamen, mit denen ich sprach, konnte nur ein einziger wirklich Deutsch. Muslime wurden als Schicksalsgemeinschaft angesprochen: ‚Wir sind eine Diaspora!’ Am Tag vor Heiligabend warnt der Prediger schon mal vor der ‚Weihnachtsgefahr’.
Obwohl der Religionsmonitor behauptet, es gingen kaum junge Menschen in Moscheen, waren alle meine Freitagspredigten von Jugendlichen überlaufen. Zugleich fielen mir viele Flüchtlinge auf. Niemand predigte jedoch Integration. Wenn über ‚unsere Nation’, ‚unser Land’ gesprochen wurde, war nie Deutschland gemeint.“
Linke schnitzen sich ihre Rassismus-Definition so, dass sie von vorn herein in ihr Bild passt. Rassismus gegen Weiße kann es demnach gar nicht geben. Und derjenige, der jemand als Scheiß-Alman beschimpft, kommt schlimmstenfalls mit mildem Tadel davon.
Die von Annetta Kahane geleitete Antonio-Amadeu-Stiftung definiert auf der von ihr mitgetragenen Plattform „Belltower“ Rassismus so:
„Überhaupt hat Rassismus etwas mit Macht zu tun. Der Rassismusvorwurf wird von unten nach oben erhoben: Menschen die unterdrückt werden, zeigen diese Unterdrückung auf. Die Unterdrückenden sind dabei in der Mehrheit, sonst würde sich die Situation gar nicht erst ergeben.“
Was ist dann auf Schulhöfen, in Schwimmbädern, in Stadtvierteln, in denen die Autochthonen Minderheit sind?
Als ein Mitglied des Türkischen Elternrates in Hamburg nach der Armenien-Resolution des Bundestags die Deutschen als „Köterrasse“ bezeichnet hatte, ermittelte die Staatsanwaltschaft zwar wegen Volksverhetzung, stellte das Verfahren allerdings ein. Es müsse sich, so Nana Frombach, Sprecherin der zuständigen Staatsanwaltschaft, bei den kollektiv Beschimpften „um eine Gruppe handeln, die als äußerlich erkennbare Einheit sich aus der Masse der inländischen Bevölkerung abhebt“.
In vielen westlichen Großstädten wird es bald keine inländische Bevölkerungsmehrheit mit deutschen Wurzeln mehr geben. Das allein ist nicht bedrohlich. Es kommt auf die Atmosphäre an. Bleibt der Rassismus-Begriff weiter so asymmetrisch, dann wirkt er nach beiden Seiten auf Dauer so toxisch wie die Hasstaten selbst.
Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.