Es gibt Sätze, die man von allen Sendern und aus allen Redaktionen vernimmt und die so wahr und eindringlich klingen, dass man sie nicht kritisch befragt, und die doch nur Phrasen sind, die bei näherem Hinsehen ihre geistige und analytische Kargheit offenbaren. Eine dieser Phrasen lautet, dass Hessen ein Versuchslabor sei. Auch in anderen Bundesländern fanden nicht minder politische Entwicklungen statt, die Signalwirkung besaßen, weil sie das erste Mal geschahen und das bis dahin Undenkbare realisierten. In Sachsen-Anhalt hatte sich zum ersten Mal eine SPD-Regierung als Minderheitsregierung von der PDS, den heutigen Linken, tolerieren lassen, in Thüringen regiert der erste linke Ministerpräsident, der erste grüne übrigens in Baden-Württemberg. Man sollte also die berühmte Kirche im Dorf lassen.
Hessen ist kein Versuchslabor für Deutschland, doch wesentlich spannender ist, dass sich in Hessen Entwicklungen und Trends bestätigen. Die politische Landschaft wird nicht vielfältiger, sondern sie fragmentarisiert sich. Nach der Landtageswahl sind rechnerisch vier Koalitionen möglich: Schwarz-grün, Schwarz-grün-gelb, Grün-rot-gelb (man sollte daher nicht mehr von Ampel sprechen) und Schwarz-rot. Es wird deutlich, dass die Grünen alle Trümpfe im Koalitionspoker auf der Hand haben. Dass man sich auf eine große Koalition in Hessen einigt, ist nach der Unbeliebtheit der Koalition im Bund und bei einem ergrünten Ministerpräsidenten mit schwarzem Pateibuch äußerst unwahrscheinlich.
Die ehemaligen Volksparteien, CDU und SPD, verlieren im Bund dramatisch an Akzeptanz, was das Resultat der Hessenwahl nur bestätigt. Der Prozess hat Fahrt aufgenommen und wird auch nicht abgebremst oder angehalten werden können, wenn CDU und SPD weiterhin die wirklichen Ursachen für den immer weniger nur schleichenden Zusammenbruch verdrängen, weil er nicht in ihr Weltbild oder in das Weltbild der sie beratenden Demoskopen passt. Allerdings hat deren Demoskopie mit Wahlforschung so viel zu tun wie die Astrologie mit der Astronomie.
Es ist ziemlich simpel: CDU und SPD verlieren an Zustimmung, weil sie nicht mehr die Interessen ihrer Kernwählerschaft vertreten. Entheimatete Wähler suchen in großer Zahl nach neuen Interessenvertretern.
Die SPD hat sogar das Gespür für die soziale Frage verloren, denn sie besteht eben nicht in einem bürokratischen Umverteilungsakt mit dem Label soziale Gerechtigkeit. Der Facharbeiter, der Angestellte, der Lehrer hat nichts davon, wenn er weiterhin eine horrende Staatsquote berappen muss und deshalb kaum für seine Rente vorsorgen kann, während sein Steuergeld eine im Wohlstand schwelgende EU-Bürokratie zu unterhalten hat. Er hat nichts davon, wenn seine Arbeitslosenversicherung, in die er monatlich nicht wenig einzahlt, nach dem Willen der SPD für alle Arbeitnehmer der EU in allen EU-Ländern geöffnet wird, er hat nichts davon, wenn er die Existenz des politischen Leichtgewichts Macron verlängern soll. Die Bundesregierung insgesamt, aber mit großem Elan die SPD geht nach Gutsherrenart mit dem Geld der Steuerzahler um. Die Politik der SPD richtet sich objektiv gegen die Interessen ihrer Wähler.
Dass die Partei das nicht sieht, dass sie sich in einen Elfenbeinturm aus EU- und „Flüchtlingspolitik” zurückgezogen hat und meint, ihre Wähler mit sozialen Retuschen beruhigen zu können, zeigt das ganze Ausmaß des katastrophalen Zustandes der Partei von Kurt Schumacher, den sie heute als Rechten ausschließen würden, von Erich Ollenhauer, von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Auch Letzterem drohte heute wegen seiner Äußerungen zur Integration und Migration ein Parteiausschlussverfahren. Mit Blick auf ihre Wähler gilt für die SPD nicht mehr die Liedzeile „Wann wir schreiten Seit an Seit“, sondern „Völlig losgelöst von der Erde“.
Als in der Runde der Generalsekretäre jemand Neuwahlen ins Spiel brachte, ereignete sich das einzige Wunder des Abends, dass nämlich der an sich schon blasse Lars Klingbeil noch weiter erblasste. In diesem Moment hatte er die Flammenschrift an der Wand gelesen, das Menetekel, wonach man gewogen und als zu leicht empfunden wurde, zu leicht, um wieder gewählt zu werden. Die Amtsträger der SPD werden mit allen Tricks, taktischen und propagandistischen Zügen Neuwahlen zu verhindern suchen, und auch vor keiner Camouflage zurückschrecken, weil sie wissen, dass sie im Wahlergebnis irgendwo zwischen 16 und 12 % landen würden.
Seit einiger Zeit wird verstärkt das Original gewählt, das inzwischen nicht wenige Wähler in den Grünen sehen, hat die Bundeskanzlerin doch so sehr grüne Politik gemacht, dass manche schon gar nicht mehr zu glauben vermögen, dass sie ein schwarzes Parteibuch besitzt. Dabei trägt die CDU eine gewaltige Verantwortung und kann und muss die Volkspartei der Mitte in einer Zeit sein, in der grundsätzliche Veränderungen stattfinden – und die Zukunft Deutschlands auf dem Spiel steht, nicht nur in der Migrationsfrage, sondern bezüglich unseres auslaufenden, immer weniger konkurrenzfähig seienden Wirtschaftsmodells, das einseitig auf den Export setzt. Der Export wird gerade mit Blick auf China spätestens 2024 größere Einbrüche zu verzeichnen haben. Es ist vollkommen realitätsblind, dass man die Konrad-Adenauer-Stiftung nicht zum Think Tank ausbaut, in der irrigen Meinung, dass die Spitzenfunktionäre der Partei, die mit dem politischen Tagesgeschäft beschäftigt sind, über genügend Sachverstand auch im Strategischen verfügen.
In Hessen hat nur Merkels getreuer Herold Bouffier eine verheerende Niederlage eingefahren. Er redet sich auf den Zustand der Groko hinaus, doch die Ursachen liegen wesentlich tiefer. Wer als Regierungschef mit dem Argument um seine Wiederwahl bittet, dass er doch wenigstens die Abschaffung des Gymnasiums, was die Grünen wollten, verhindert hat, der gesteht doch im Grunde nur ein, dass er allein deshalb so lautlos mit den Grünen regierte, weil er treu ihre Wünsche erfüllte. Wer so die Grünen stark macht, der muss sich über dieses Wahlergebnis nicht wundern. Doch Volker Bouffier ist im Grunde typisch für eine Führungsriege in der CDU, die einmal konservativ begonnen und nun den Kompass verloren hat.
Es gibt ein Gesetz der Macht, das Politiker auswendig lernen sollten, es ist sehr einfach und geht so: Zuerst hat man die Macht und dann hat die Macht einen. Letzteres sollte jeder Politiker zu verhindern suchen. Eine Begrenzung der Anzahl der Legislaturen für einen Spitzenpolitiker wäre hierfür eine äußere Hilfe. Sollte Bouffier wieder Ministerpräsident werden, dann nur noch als schwarzes Aushängeschild einer grünen Regierung in Hessen. Wenn die CDU nicht umsteuert, wird sich der Erosionsprozess fortsetzen.
Die guten Wahlergebnisse für die Grünen stehen im Zusammenhang mit einer Wählerwanderung der SPD-Wähler, aber auch von CDU-Wählern. Vor allem das Ökowohlfühlwohlstandsbürgertum, das mit den Folgen der „Flüchtlingskrise”, die sich entgegen der Propaganda in den Medien, von Tag zu Tag verstärkt, noch nicht unmittelbar konfrontiert wird, das sich noch die Folgen einer verfehlten Wirtschaftspolitik – siehe Energie – leisten kann und das seine Kinder von der Bildungsmisere zu bewahren vermag, bildet die neue Wählerbasis der Grünen. Es lebt in gentrifizierten Stadteilen unter sich, hat in der Vergangenheit jedes noch so abenteuerliche Steuersparmodell genutzt, nur um an den Staat so wenig als möglich an Steuern zahlen zu müssen, damit er seinen sozialen Aufgaben nachkommen kann. Kinderarmut hat es nicht interessiert, weil Deutschland angeblich ein reiches Land sei, und sozial engagiert für arme deutsche Familien hat es sich auch nicht. Solches Bürgertum lebt von dem erhabenen Gefühl der Weltoffenheit und sieht nicht, dass die Globalisierung an ihr Ende kommt und die Welt nicht offen ist. Es täuscht sich über die Wahrheit hinweg, dass niemand in Europa seine Träume von Europa teilt.
Deutschlands Problem besteht in der Neigung zum Träumen, in der Abneigung gegen die unbequeme kritische Rationalität, in der fatalen Zuneigung zur politischen Theologie. Die Grünen vertreten eine politische Theologie, die auf Glaubensbekenntnissen und Dogmen aufbaut, die kritischer Hinterfragung nicht standhalten. Doch den Wirklichkeitstest verdrängen sie erfolgreich mit den Mitteln der Hypermoral, der Ideologie, des Glaubensbekenntnis, eines adaptierten Klassenkampfes. Es gelingt ihnen, den Eindruck zu erwecken, dass sie modern seien und progressiv, doch in Wirklichkeit stammen ihre Vorstellungen von gestern – darin besteht das eigentliche Geheimnis ihres Erfolges, in dem Ausschluss der Realität in einem geschlossenen Weltbild, das aus dem Recycling von Utopien zusammengesetzt wurde, aus Utopien, die zum Träumen einladen. Es ist der gestrige, der vormoderne Zug, der sie für die vermögende Mittelschicht wählbar macht.