Hans war ein Mann der Abkürzungen. Hans war ein Mann, der stets versucht war, durchs Fenster zu steigen und die Tulpen zu zertrampeln, um sich den etwas längeren Weg durch Flur und Haustür zu sparen. Hans war ein Mann, der sich zum Stolz auf seine Schludrigkeit in der Durchführung bekannt hätte, so ein Ergebnis nur schnell erreicht war.
Als Hans noch ein Kind war, ein Hänslein gewissermaßen, bekam er einmal einen Bausatz geschenkt, ein schönes Modell der Santa Maria, mit welcher bekanntlich Columbus eine Abkürzung nach Indien gesucht hatte, doch statt das Schiff selbst zusammenzusetzen, überredete er ein anderes Kind, das Modell für ihn zusammenzubauen. Als Hans ein Geschäftsmann geworden war, versuchte er immerzu, Abkürzungen zu finden, und seine Kunden waren darüber nicht allzu zufrieden, denn wenn Hans einen Auftrag erledigt und berechnet hatte, musste jemand anders es richtig machen und Hansens Abkürzungen alle entkürzen.
Ja, Hans suchte allerlei Abkürzungen, was auch seine Ehe abkürzte, den Bericht worüber wir hier ganz wegkürzen wollen, doch nachdem Hans auch sein Studium vorzeitig abgekürzt hatte, fand er sich in der Politik wieder, und in der Politik stellte Hans fest, dass seine besondere Vorliebe für Knappgedachtes und Kurzgesprungenes durchaus von Vorteil sein kann!
Hans erkannte, und er lag damit wahrlich nicht falsch, dass es Armut in der Welt gab, also rief er den Bürgern zu: »Wählt mich, ihr Armen, und ich werde jedem von euch ein Haus bauen, und ich werde euch ein Gehalt zahlen, ob ihr arbeitet oder nicht!« – Hans sah, dass die Menschen sich vor Kraftwerken fürchteten, also erklärte er: »Wählt mich, und ich werde alle Kraftwerke abschalten, auf dass niemand sich fürchten muss!« – Hans sah, dass es den Menschen im Sommer warm war, also mahnte er: »Wählt mich, und ich werde die Hitze mit einer Steuer belegen, auf dass es niemandem mehr im Sommer zu warm ist!«
Bald begann Hans, seine Versprechen auch selbst zu glauben. Hans hielt sich für moralisch und menschlich – und echte Verachtung wuchs in ihm für jene, welche nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die blanke Menschlichkeit seiner Abkürzungen und Parolen anzweifelten.
Die Welt ist kompliziert, und jede Handlung zieht viele politische Handlungen nach sich. Manchmal ist es das Menschlichere, jetzt etwas scheinbar Hartes zu tun, um später eine Besserung zu erreichen – manchmal aber erscheinen Abkürzungen jetzt vermeintlich »menschlich« (»ein freundliches Gesicht zeigen«), doch führen später zu praktischer Grausamkeit – all das sah Hans nicht, denn Hans war ein Mann der Abkürzungen.
»Besseres Leben« sagt sich leicht
Millionen Menschen weltweit tragen sich heute mit dem Gedanken, in westliche Länder zu migrieren, besonders von Afrika nach Deutschland und von Mittel- und Südamerika in die USA – sie hoffen auf ein besseres Leben.
»Besseres Leben« sagt sich leicht, und wir wissen, was damit gemeint ist – Innere Sicherheit und soziale Sicherung, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Freiheit, eine echte Chance auf Wohlstand, Bildung für alle und eine inspirierende Kulturlandschaft, et cetera. – Wer wollte es einem Menschen verübeln, sich nach einem besseren Leben in einem anderen Land zu sehnen?
Man könnte die Nachrichten zur Migration heute in vier Gruppen teilen: Erstens Menschen, die eine Abkürzung suchen, zweitens Menschen, die Abkürzungen anbieten (oder stellvertretend für die erste Gruppe fordern), drittens Menschen, die auf ordentliche Asylverfahren statt illegaler Abkürzungen setzen und dem ungerechten Recht-des-Stärkeren ein Ende setzen möchten, und viertens die Menschen, die Opfer der Konsequenzen jener Abkürzungen werden.
Sechs Grenzbeamte wurden am Freitag verletzt, als zweihundert Migranten versuchten, die Grenze zur spanischen Enklave Melilla zu überwinden – also eine Abkürzung um die legalen Verfahren zu nehmen – fünfzig von ihnen gelang es (elpais.com, 19.7.2019). Auch aus den USA wird von Versuchen berichtet, die Grenze zu stürmen (krgv.com, 19.7.2019) – sprich, eine Abkürzung zu nehmen (unter Trump ist die Zahl der Toten an der südlichen US-Grenze übrigens gesunken, von durchschnittlich 372 pro Jahr unter Obama auf nun 291, siehe foxnews.com, 20.7.2019). Wir lesen von einem kriminellen Netzwerk in Griechenland, das gefälschte Atteste und Diagnosen an Flüchtlinge verkaufte (spiegel.de, 19.7.2019) – ein (hoffentlich) illegales Geschäft mit der Hoffnung auf eine Abkürzung der Abkürzung.
Einreise und Aufenthalt
Migration ist das große Mega-Thema des frühen 21. Jahrhunderts, auch wenn Propagandisten versuchen könnten, es durch geschürte Klimapanik zu übertönen, doch »Migration« allein ist eine ungenaue Abkürzung: Das eigentliche Mega-Thema ist die illegale Migration.
Die Länder, in welche illegale Migranten ziehen wollen, haben ja alle auch legale Verfahren, mit denen man sich um eine Erlaubnis für Einreise und Aufenthalt bewerben kann, doch diese Verfahren sind nicht unbedingt einfach, und es wird eigentlich nicht jeder auf Anhieb legal ins Land gelassen – illegal einzureisen ist eine Abkürzung.
Die Migranten, die via Abkürzung in den Westen und seine Sozialsysteme einreisen wollen, werden willkommen geheißen von politischen Aktivisten – wie Hans aus dem einleitenden Bericht – welche selbst politische Abkürzungen suchen, welche »Refugees welcome!« und »Asyl kennt keine Obergrenze« rufen, statt die praktischen Implikationen unregulierter Immigration zu debattieren und die Konsequenzen realistisch zu benennen.
Doch, der Offene-Grenzen-Aktivismus ist nicht die einzige Abkürzung in dieser Debatte! – Eine weitere Abkürzung könnte als eine der Hauptursachen für den »Migrationsdruck« angesehen werden.
Kultur der Gründlichkeit
Wenn Menschen aus einem Land in ein anderes migrieren, hat die Ursache ihrer Unzufriedenheit häufig mit den Abkürzungen zu tun, die über Jahre, Jahrzehnte und Generationen hinweg im Ursprungsland genommen werden.
Kriminalität wie etwa ein Raubüberfall ist der Versuch, ein meist wirtschaftliches Ziel zu erreichen, aber nicht durch den üblichen Weg von Arbeit und sauberem Unternehmertum, sondern eben durch eine illegale Abkürzung. – Korruption ist die illegale Abkürzung von bürokratischen Entscheidungsprozessen. – Man könnte einen Krieg als sehr drastische Abkürzung politischer Mittel interpretieren (Clausewitz nannte ihn eine »Fortsetzung«). Menschen fliehen vor Diktaturen und Unterdrückung, und was ist eine Diktatur anderes als der Versuch, demokratische Debatte und die Aushandlungen von Kompromissen abzukürzen?
Der banalste Grund, seine Heimat zu verlassen, ist wohl die blanke allgemeine Armut, verbunden mit einem Mangel an Hoffnung, persönlich aus der Armut zu entkommen.
Die möglichen Gründe allgemeiner Armut einer Nation mögen verschiedene sein, doch die Grundlage nachhaltigen Wohlstands ist immer dieselbe. Wohlstand braucht als Fundament eine Kultur der Gründlichkeit in Denken und Handeln.
Menschen wandern aus Ländern aus, in denen viel zu viele Abkürzungen genommen wurden, und sie möchten in Ländern leben, wo Generationen von hart arbeitenden Bürgern nicht die Abkürzungen genommen haben, nicht im Studium und nicht in der Arbeit, nicht in der Politik und nicht in der Verwaltung.
Auf ein fernes Ziel hin
Ob Mensch oder Nation – wer es sich zur Angewohnheit gemacht hat, immer nur Abkürzungen zu nehmen, der wird mit seiner Arbeit nicht glücklich werden, selbst wenn sie an der Oberfläche eine Zeit lang erfolgreich wirken könnten, und nach aller Erfahrung wird früher oder später das Kartenhaus seiner Abkürzungen sowieso in sich zusammenfallen.
Hans der Abkürzer wird nicht glücklich werden, und am Ende seines Weges ist es nicht wahrscheinlich, dass er überhaupt an einem zufriedenstellenden Ort ankommt.
Nicht zwingend zu erwarten
Selbst wenn alle Kriege beendet und alle Krisenregionen befriedet wären, so würde noch immer der Unterschied im Wohlstands-Niveau zwischen den Erdteilen einen erheblichen Migrationsdruck bewirken.
Deutschland wurde erfolgreich, weil und indem es sich den Abkürzungen verweigerte. Unternehmen, die sogenannte »Flüchtlinge« zur Ausbildung einstellen, berichten oft, dass die jungen Auszubildende nicht verstehen, dass und warum sie monate- und jahrelang auf das Ziel Ausbildungsberuf hinarbeiten:
Der familiäre Druck, Geld nach Hause zu schicken, ist vielfach groß. Und vielen Jugendlichen ist nicht bewusst, dass eine Ausbildung langfristig lukrativer ist als ungelernte Facharbeit, die sofort Geld einbringt. (welt.de, 21.12.2007)
Menschen, die via Abkürzung nach Deutschland kommen, müssten sehr schnell umlernen, um sich wirklich integrieren zu können und produktiv am Wohlstand mitzuarbeiten statt nur von ihm zu zehren. – Wie kann ein Land, dass selbst gerade in die üble Angewohnheit der Abkürzungen und schnellen Pseudo-Lösungen rutscht, jemand anderem beibringen, dass Gründlichkeit, Fleiß und tägliche Arbeit auf ein fernes Ziel hin hohe Werte sind?
Wenn Menschen, die es verinnerlicht haben, Abkürzungen zu nehmen, auf linksgrüne Träumer treffen, die ebenso Abkürzungen nehmen – vor allem im Denken – ist nicht zwingend zu erwarten, dass das gemeinsame Vorhaben gelingen wird.
Treibsand und nasser Pappkarton
Hans der Abkürzer wird nicht glücklich werden, und nach aller Erfahrung wird er auch nicht erfolgreich sein.
Man sagt gelegentlich, das Ziel des Weges sei der Weg selbst, doch man kann es noch genauer sagen: Erst beim Gehen des Weges stellst du fest, was dein eigentliches Ziel war, und nur durch das Gehen des Weges lernst du, was Ziel und Weg dich hätten lehren können.
Wenn wir notwendige Arbeit durch eine Abkürzung ersetzen, Denkarbeit durch eine Parole oder Argumente durch eine Emotion, dann schlagen wir jedes Mal ein Stück unseres eigenen Fundaments weg und ersetzen es durch Treibsand und nassen Pappkarton.
Zum fünfzigsten Jahrestag der Apollo-11-Mondlandung ließ LEGO eine Umfrage erstellen, die feststellte, dass nur 11% der befragten Kinder davon träumten, Astronaut zu sein, aber 29% hofften, ein YouTube-Star zu sein (via prnewswire.com), also einer jener jungen Leute, die coole Sprüche in die Kamera machen und so ihren Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung deutlich abkürzen. Die Kinder von »Fridays for Future« fordern von »den Erwachsenen« »etwas zu tun« – die Generation Smartphone, von Social Media dressiert auf schnelle Abkürzungen zu kleinen Belohnungen, will auch die Revolution abkürzen – ein Jammerspiel.
Du kannst kein Leben auf Abkürzungen bauen und keine Nation auf Parolen. Wer sich einmal angewöhnt hat, in Parolen und geistigen Abkürzungen zu denken, für den erscheint jede echte Denkarbeit wie peinvolle Arbeit. – Einem »Abkürzer« echte Denkarbeit und das Berücksichtigen von Fakten abzuverlangen, das bedeutet heute, ihm echte Schmerzen abzuverlangen – es ist verständlich, dass der Abkürzer sich lautstark gegen jeden Vorschlag von eigener Arbeit und ernsthafter Gründlichkeit wehrt. – Abkürzungen zu nehmen kann wie eine Droge wirken – es ist nicht ungefährlich, einem Drogensüchtigen seine Droge vorzuenthalten, wie fatal sie für den Abhängigen auch sein mag.
In einer Kultur der geistigen Abkürzungen und Durchhalteparolen ist es eine einsame und riskante Rolle, derjenige zu sein, der seine Mitmenschen auffordert, gründlich nachzudenken, auf Abkürzungen zu verzichten und selbst echte Mühe auf sich zu nehmen – um wie viel schwerer ist es, andere Nationen und ihre Bürger zu motivieren, statt nach Abkürzungen zu suchen, ihre Probleme a) selbst, und b) gründlich zu lösen.
Wer heute ein anderes Land auffordert, (wieder) harte Denkarbeit, innere Disziplin und gründliches Problemlösen zu erlernen, der wird dafür schnell beschimpft, ja er könnte sogar für seine Aufforderung bestraft werden (siehe auch: »Ja, es gibt Kulturen, die sind „besser“ als andere«).
Auf Twitter fand man eine Zeit lang den bissigen Scherz, entlassenen Journalisten zu empfehlen, programmieren zu lernen, siehe knowyourmeme.com, @LevineJonathan – es gilt für Twitter als Belästigung und Hate Speech, entlassene Journalisten implizit darauf hinzuweisen, dass ein Beruf, den man über die Abkürzung korrekter Haltung und braven Nachplapperns erlangte, halt weniger wert und weniger stabil ist, als ein Beruf, der echtes, gründliches Lernen voraussetzt, wie eben der des Programmierers. – siehe auch: »Künstliche Intelligenz und Mäusespeck«. – Jeder kann sich heute »Journalist« nennen, es ist der ultimative Beruf für Abkürzer, und alles, was es braucht, ist ein einfacher Vorrat an Phrasen, welche »Haltung« beweisen, und schon genießt man in entsprechenden Kreisen eine Anerkennung, für welche andere Menschen jahrzehntelang diszipliniert lernen und arbeiten.
Journalisten scheinen heute oft zu jener Art von Menschen zu gehören, die gar nicht mehr anders können, als in Abkürzungen zu denken, bestimmen heute die öffentliche Debatte und die ethische Wahrnehmung. Intellektuelle Abkürzer mit Presseausweis schreiten Hand in Hand mit populistischen Politikern, welche einfache Lösungen (»CO2 besteuern!«, »Refugees welcome!«, »Kampf gegen Rechts«, »Flüge verbieten!«) als angeblich moralisch notwendige gesellschaftliche Abkürzungen verhökern. – Doch, für den Einzelnen wie für die Nation gilt: Man kann hundert Abkürzungen nehmen und feststellen, dass man sich im Kreis gedreht hat. Die Zeit und die Gelegenheiten, die Hänschen mit Abkürzungen vergeudet, holt Hans nie wieder ein.
Gründlichkeit ist die Grundlage unseres Wohlstands – lasst uns davon retten, was noch zu retten ist, und dann darauf wieder aufbauen. Lasst uns andere lehren, andere Menschen wie Nationen, wenn sie denn lernen wollen, dass langsame Gründlichkeit den Einzelnen wie auch die Nation schneller, zuverlässiger und nachhaltiger ans Ziel bringt.
Hans war ein Mann der Abkürzungen. Hans war ein Mann, der immerzu aufgeregt war, aber nie glücklich. Seid nicht wie Hans! Seid nicht Menschen der Abkürzungen. Früher oder später müsst ihr die eigentliche Arbeit erledigen, und je mehr Zeit ihr durch Abkürzungen verschwendet, um so mehr echte, schmerzhafte Arbeit sammelt ihr für später auf.
Tut jetzt, was jetzt wirklich zu tun ist. Habt Mut, das eigentliche Problem zu suchen. Verschwendet eure Zeit nicht mit Abkürzungen!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.