Die Linkspartei ist ihr radikalster Vertreter, die Grünen sonnen sich darin, die SPD kämpft dafür und die CDU hält es für einen „deutschen Wert“. Die Rede ist von einem vielbenutzten und gerne fehlinterpretierten Begriff unserer Tage. Es geht um „Weltoffenheit“ als Leitvokabel in der Flüchtlings- und Einwanderungsdebatte. So kam in einer bemerkenswerten Zusammentragung die SZ kürzlich zu dem Ergebnis: „Fast alle Parteien verstehen unter deutschen Werten wie Merkel das Grundgesetz und Weltoffenheit.“
Das ist deswegen bemerkenswert, weil es einen sehr speziellen und eigentümlichen Wert auf Augenhöhe mit der bundesdeutschen Verfassung erhebt, der höchsten Legitimationsquelle der Republik. In dieser Gleichsetzung steckt bereits ein Hauch von Sakralisierung. Und wo ein Gegenstand erstmal heiliggesprochen wurde, steht er außerhalb des Zugriffs der demokratischen Debatte. Gerade deswegen ist es wichtig, sich diesen Wert etwas genauer anzusehen, ihn zu durchleuchten und auf Widersprüche zu durchsuchen.
Weltoffenheit ist ursprünglich ein Begriff aus der philosophischen Anthropologie. Seine frühen Vertreter findet man bereits in der Renaissance. Der italienische Philosoph Giovanni Pico della Mirandola betrachtet ihn als logische Folge der göttlichen Schöpfung: Nach der Vollendung von Himmel, Erde, Pflanzen- und Tierwelt kenne der Mensch keinen festen Ort mehr. Er steht plötzlich in der Weltmitte, erkennt und schafft sich nun seinen eigenen Ort. Der Verweis auf die Entwurzelung, die mit der Weltoffenheit einhergeht, ist nicht zufällig. Fast fünf Jahrhunderte später wird Jean-Paul Sartre die Weltoffenheit mit der absoluten Freiheit des Menschen synonym setzen. Der Mensch sei also nicht mehr von Herkunft determiniert, sondern ohne Bestimmung in die Welt geworfen, wo er nun mit seiner „leeren Existenz“ umzugehen habe.
Weltoffenheit und Entwurzelung sind immer ein Paar
Diese philosophische Herleitung sollte man im Hinterkopf haben, wenn man sich mit dem umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes beschäftigt oder es gar, wie im Gegenwartsgerede üblich, zur politischen Vokabel erhebt. Die Wortherkunft lehrt uns: Weltoffenheit und Entwurzelung sind immer ein Begriffspaar, das eine ist ohne das andere nicht zu denken. Wer Weltoffenheit konstatiert, erkennt Wurzellosigkeit; und wer Wiederverwurzelung predigt, ist weltabgewandt. In der Alltagssprache bezeichnet „weltoffen“: der Welt zugewendet sein, allgemein, international und universal denkend. Auch die Nähe des Begriffs zum Kosmopolitismus ist keine sprachliche Beliebigkeit. Die antike Philosophie der Stoa, die man als eine der ältesten Lehren der „Weltoffenheit“ verstehen darf, predigte unweigerlich einen, über die griechische Polis hinausgehenden Weltstaat.
In der politischen Verwendung des Begriffs Weltoffenheit, wie ihn sowohl Katrin-Göring Eckardt als auch Angela Merkel verwenden, steht er für eine Konfliktlinie im demokratischen Diskurs. Hier: Die weltoffenen, einwanderungsfreundlichen, die komplexe globalisierte Welt verstehenden Parteien und Bürger; Dort: die nationalistischen, flüchtlingsfeindlichen unterkomplexen Kleinbürger und ihre Partei. Davon abgesehen, dass diese Trennschärfe keiner näheren Untersuchung standhält, setzt sie auch eine perfide und im Kern gefährliche Sicht auf demokratische Prozesse voraus. Denn wenn immer von den „Zwängen der Globalisierung“ die Rede ist, von den nicht-schützbaren Grenzen und der zwanghaft zusammenwachsenden Welt, wird die Demokratie, verstanden als Ausdruck der Volksherrschaft, entkernt und kleingeredet.
Die großen Argumente in der Flüchtlingsdebatte: Die Welt sei komplexer geworden, Migration sei Normalität, Grenzen seien nicht zu schützen, die Nation sei etwas Gestriges und man könne deswegen gar nicht anders, als die Grenze offenzuhalten, sind doch im wesentlichen technizistische Fortschrittsbehauptungen. Als sei die „Weltoffenheit“ gar keine politische Entscheidung, sondern eine Sache der Notwendigkeit. Richtigerweise stellt der FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler fest, dass viele Wähler „die Aufnahme von Hunderttausenden Flüchtlingen nicht als ‚alternativlos‘ betrachten“. Und weiter: „Sie akzeptieren die Behauptung von CDU, SPD und Grünen nicht, dass Staaten und Völker weitgehend macht- und wehrlos den unsichtbaren Mächten der Globalisierung ausgeliefert seien, die ihnen, gleichsam als Preis für die billigen Handys aus China, Flüchtlingsströme aus allen Armuts- und Kriegsgebieten der Welt bis vor die Haustür leiteten.“
Der Fehler, den die etablierten Parteien genauso wie viele Journalisten begehen, liegt darin, in den Wählern der AfD eine nicht-aufgeklärte Masse zu sehen, der man die Notwendigkeiten der Zeit nur nicht gut genug erklärt habe. Nicht zufällig lautete einer der meistgeteilten Online-Sprüche nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, offensichtlich fehle es im hohen Norden an guter Bildung, denn wie sonst könne ein so hohes Ergebnis der AfD erklärt werden? Es mangle also nicht an einer besseren öffentlichen Debatte, sondern allenfalls an guten Pädagogen. Doch die populistischen Umtriebe sind keine Folge von fehlender Einsicht, sie sind ein offen vorgetragener Widerspruch zum vorherrschenden „alternativlosen“ Klima.
Technizistische Fortschrittsbehauptungen
Dieses Missverständnis trägt zuweilen erstaunliche Früchte. Überall in Artikeln, Essays, Talkshows und Parteizentralen kann man derzeit die Behauptung hören, die politische Konfliktlinie des 21. Jahrhunderts verlaufe nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen „(welt)offen“ und „geschlossen“. Auf der einen Seite die aufgeklärten Etablierten, auf der anderen die ungebildeten Populisten. Diese Aussage ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn keiner der beiden Kategorien steht von ihrem Wahrheitsanspruch über der anderen. Weder weltoffen noch weltabgewandt zu sein ist „richtiger“ oder „zeitgemäßer“ als das jeweils andere. Man muss Weltoffenheit und Verwurzelung schlicht als linken bzw. rechten Begriff verstehen. Zwei Beispiele: Die Entwicklung der monarchischen „Reiche“ hin zu territorialen Nationen war im Wesentlichen ein Projekt der historischen Linken. Der konservative Adel verstand sich universalistisch, weltoffen eben, als Herrscher über die abendländische Christenheit etwa. Derart kleingeistiges wie die linke Forderung nach Nationbildung schien ihm in der Frühmoderne höchst suspekt. Anders als in der Hochphase des Marxismus. Hier betonte die historische Rechte die Nation, das Partikulare, und versuchte sie gegen den linken Internationalismus (um zeitgemäß zu reden: der linken Weltoffenheit) zu verteidigen. Beide Fraktionen tauschten mal ihre Präferenz, aber immer waren Weltoffenheit und Verwurzelung Begriffe der politischen Auseinandersetzung.
Gerade deswegen ist es grundfalsch „Weltoffenheit“ als Wert von Verfassungsrang zu sakralisieren, wie es derzeit von Linkspartei bis CDU geschieht. Weltoffenheit und Verwurzelung sind politische Forderungen, über die man öffentlich diskutieren muss. Sie sind Teil eines demokratischen Aushandlungsprozesses über die Identität unserer Gesellschaft. Wollen wir eine tendenziell multikulturelle, weltoffene Willensnation sein oder eine homogene, geschlossene Kulturnation? Hier konkurrieren zwei demokratisch-legitime Definitionen des zur Selbstherrschaft berufenen Staatvolks. Dieser Diskurs sollte nicht mit Argumenten geführt werden, die das eine oder das andere als „notwendig“ erachten, sondern mit viel Mut zum freien Diskurs. Die Debatte muss offen sein, ihr Ergebnis kann nicht feststehen.