Die grausamen Bilder des Krieges in Europa sind alltäglich geworden. Der Massenmord wird so zur Alltagserfahrung. Eine strategische Antwort Deutschlands und Europas bleibt indes nach wie vor aus. Sollen Waffen in die Ukraine geliefert werden? Anfangs war die Antwort „Nein“, dann „Vielleicht“, nun „Ja“. Und: Welche Waffen sollen geliefert werden – auch „schwere“? Um Putin zum Einlenken zu zwingen, bedarf es wirksamer Sanktionen – aber welcher? Bankgeschäfte stoppen? Energieimporte beenden? Und wer trägt dann in Deutschland die Konsequenzen?
Es geht um die wirtschaftliche Wohlfahrt oder den wirtschaftlichen Niedergang, aber die Antworten fehlen. Dabei stehen die nächsten Verschärfungen der Krise bereits vor der Tür: Die Kreditversicherer warnen vor einer wachsenden Zahl großer Insolvenzen, dann vor Lockdowns in China, unterbrochenen Lieferketten, Materialmangel, drastisch gestiegenen Rohstoff- und Energiepreisen.
Bereits jetzt steht die Wirtschaft unter Wasser: Inflation, Arbeitsmarktdefizite, Energieknappheit, Immobilienkrise mit Problemen im Wohnungsbau, Finanzmarktverspannungen. Verdrängt werden nach wie vor die entscheidenden Grundsatzaufgaben zur Sanierung der Sozialversicherungssysteme wie zum Beispiel eine längere Lebensarbeitszeit und die qualifizierte Einwanderung. Alle diese diversen Felder bleiben ohne stimmige Antwort.
Dies wäre das Feld der Bewährung der politischen Führung, insbesondere des Bundeskanzlers. Aber dort ist nur Fehlanzeige. Zu Beginn seiner Amtszeit wurde von den Medien noch milde erklärt, Scholz „merkele“ weiter. Diese Milde ist inzwischen der harten Erklärung gewichen: Scholz rattert in seiner Ratlosigkeit einfach weiter.
Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zeigten keinen positiven Scholz-Effekt. Die Grünen gewannen in Serie. Scholz dagegen erhielt den Titel „Klatschen-Kanzler“. Olaf Scholz lieferte in TV-Talkrunden dann „irritierende Auftritte eines Unirritierbaren“ („Frankfurter Allgemeine“). Die Ära verdient die Überschrift „Das Problemdesaster des Olaf Scholz“.
Wo bleibt die Führung?
„Leadership“ wird für Olaf Scholz auch zukünftig ein fernes Fremdwort bleiben. Die SPD fühlt so ihr ursprüngliches Urteil bestätigt. Schließlich hat sie ja Olaf Scholz als Bewerber um den Parteivorsitz krachend durchfallen lassen. Auch seine rhetorischen Befreiungsversuche gelingen nicht. Am 27. Februar 2022 hielt Scholz eine dramatisch arrangierte Rede im Deutschen Bundestag. Er sprach von der „Zeitenwende“ und gewann damit große Aufmerksamkeit. Aber er sagte nicht, wohin die Zeitenwende führen würde oder führen sollte. So blieb natürlich auch die im Kopf notwendige Zeitenwende aus. Medial ist von einem „Trauerspiel“ die Rede. Die demoskopischen Daten zeigen weiterhin mit rund 80 Prozent den Wunsch der Bevölkerung nach einem klaren Zukunftsbild, nach einer klaren Orientierung.
Der Wunsch blieb und bleibt unerfüllt. 70 Tage nach der „Zeitenwende“-Rede unternahm der Bundeskanzler den zweiten Versuch, mit einer groß angekündigten Rede eine Wende herbeizuführen: Er sprach zum 8. Mai. Aber auch hier kam es nicht zum großen politischen Aufbruch. Zwar schauten sich mehr als sechs Millionen Zuschauer in der ARD seine Rede an (an jenem Tag nur übertroffen vom „Tatort“ mit 7,51 Millionen Zuschauern). In den Medien wurde der Auftritt, der doch als „Ruck-Rede“ erhofft war, im Nachgang völlig zutreffend als „Zauder-Rede“ beschrieben. Das erhoffte klare Kanzlerwort zu den Krisenthemen war wieder einmal ausgeblieben.
Die SPD-Führung versuchte die Welle der Enttäuschung mit dem Hinweis abzumildern, Olaf Scholz sei „kein Entertainer“. Und der Hinweis auf die Bedingungen der Koalition hebelte den Zweifel an Olaf Scholz nicht aus. Wenn Scholz die Antworten auf die Fragen aus der Koalition schuldig bleibt, dann verlassen die Partner eben verärgert den Raum und die nächste Sitzung wird zum „Krisengipfel“ umgetauft. Die Republik befindet sich halt in einer Krisenpermanenz.
Zaudern wurde zum normalen Erfahrungsfall. Die klugen, erfahrenen Beobachter sprechen inzwischen von einer „neuen deutschen Identitätskrise“ (Roger de Weck). Evident ist auch die nachlassende demokratische Einbindung, belegt durch gesunkene Wahl beteiligung. Die Wahlberechtigten ver lieren sich im verwirrten Desinteresse. Daraus leitet die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) ab: „Wir müssen eine neue Bürgernähe entwickeln“. Nur wie?
Ohne Strategie kein Vertrauen
Es bedarf eben – ohne Wenn und Aber – eines strategischen Entwurfs der neuen Weltordnung. Um diese Arbeit können sich Koalition und Kanzler nicht her umdrücken. Ohne sie wird sich der Grundtrend der jüngsten Zeit fortsetzen: Das Vertrauen in die Politik wird weiter schwinden.
Die Republik ist in eine Orientierungslosigkeit historischer Größenordnung gerutscht. Seit 1949 hat es so etwas nicht mehr gegeben. Das orientierende Zielbild ist gänzlich abhandengekommen. Es kann daher nicht überraschen, dass die aktuellen Umfragen keine Hinweise auf Aufbruchsstimmungen signalisieren. Die Mehrheit der Bürger hegt große Zweifel, ob die Koalition die Probleme des Landes lösen kann. Die Sehnsucht nach verlässlicher Autori tät bleibt unerfüllt. Angesichts größerer Brüchigkeit und Zersplitterung der Gesellschaft muss die Politik schnell Antworten liefern, was die Gesellschaft denn zusammenhalten kann.
Das Tor zur Zukunft muss also kon zeptionell geöffnet werden. Es geht um perspektivischen Spirit, um eine visionäre Mission. Die Digitalisierung verändert sehr stark die kommunikative Substanz. Wie kann der Verlust der Symbolsprache aufgefangen werden? Politische Handlungsfähigkeit ist gefordert. Wie wird sie künftig gewährleistet – lokal, national, europäisch, global?
Das Ende der Ära der Verwirrung ist erst dann zu melden, wenn dem neuen Denken eine politische Heimat gegeben wurde. Wer die Republik der ratlosen Sinnsucher aus ihrer politischen Not befreien will, dem geht es nicht um die Traumtänzerei in eine neue historische Epoche – es geht um eine strategisch fundierte kluge Führung.