Der FC Schalke 04 hatte 30 Bundesligaspiele in Folge nicht gewonnen. Mit jeder Niederlage, die die Schalker anhäuften, stieg mein Interesse. Seit ein paar Wochen schaute ich mir ganze Spiele von ihnen an. Ich sah eine ausgelaugte Mannschaft, die sich über einen langen Zeitraum immer wieder ihrem Alltagsgeschäft stellte, aber das Fußballspielen nicht mehr mit Leben füllen konnte; die aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage war, zu siegen, sich nicht mehr von der Last lösen konnte, von einem aufgestauten Konstrukt aus psychologischen Einflüssen, die ihre sportlichen Unzulänglichkeiten noch verstärkten.
Die öffnenden Tore des Transfermarktes brachten dann einen alten Bekannten zurück: Sead Kolasinac. Ein Schalker Jung vom Typ Einmannbüffelherde. Einer, der keine Angst kennt. Einer, der Fußball arbeitet, ein echter Schalker eben. Und er staunte nicht schlecht bei seiner Ankunft über das neu errichtete Trainingszentrum. Das gab es noch nicht, als er selbst in der „Knappenschmiede“, der Schalker Jugendakademie groß wurde. Er war wohl noch einer der Letzten, die dort unter dem Rauch von Havannazigarren aufgezogen wurden – und unter dem Einfluss des nachwährenden Schmerzes der verpassten Meisterschaft von 2001.
An einem Samstag dann, es waren die letzten Minuten vor „15:30“, führte er seine Mannschaft als neuer Kapitän auf das Feld. Nach einer etwas wackeligen Anfangsphase und dem Glück des Tüchtigen ließen die Schalker das Kettenhemd der jüngeren Vergangenheit zu Boden gleiten und tanzten sich zu einem 4:0 Sieg gegen Hoffenheim.
Angetrieben von dem unermüdlichen Kolasinac, der als Außenverteidiger von hinten anschob und der Mannschaft neuen Willen, Mut und Kraft gab. Er gab Schalke sein neues altes Leben zurück.
Kolasinacs Auftritt war eine Parabel des Menschseins und seiner potentiellen Erstarkung oder Vernichtung in einer Krise.
Was sind Wille, Mut und Kraft anderes als die Bewusstwerdung des Selbst und der Bedeutung des Eigenen im vertrauten Umfeld? Da kam jemand zurück nach Schalke und zu sich selbst. Da durchbrach jemand die entfremdete Moderne und nahm das Leben zurück an sich. Das Leben, das in seinem Verein, in seiner Heimat einst wachsen und erstarken konnte, das der Verein selbst jedoch im Zuge seiner Modernisierung über die letzten Jahre verloren hatte.
So wie Schalke sich an die Moderne verkauft hat, haben wir es als gesamte Gesellschaft. Wir sehen, dass der Vertrauens- und Stabilitätsverlust in jedem Winkel unserer Gesellschaft fortgeschritten ist. Das Geld hat keinen Gegenwert mehr, unseren kulturellen Besitz bestimmen Streamingdienste, im Zuge der Digitalisierung verlieren wir unsere Privatsphäre, unsere Sprache ist politisiert und sinnentleert, unsere Demokratie droht zur Formalität zu werden.
Es geht uns allen wie Schalke. Wir haben verdammte Angst. Wir haben die Hosen so gestrichen voll, dass wir vergessen haben, wer wir sind. Wir geben unter dem politisch medialen Druck alles auf, was das Leben ausmacht; einsam irrlichternd im Irrtum der Moderne, schneiden wir uns voneinander ab.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt, der durch die allgemeine Rationalisierung und Effektivierung ohnehin schon schwand, ist nun durch die Coronapolitik in unüberbrückbare Vorbehalte getränkt. Das Vertrauen in den Nebenmann ist verloren. So kommt kein Pass mehr an, so kann keine Viererkette geschlossen nach vorne verteidigen, geschweige denn einen schnellen Angriff einleiten.
Ein neu verpflichteter Trainer würde in einer solchen Situation in die Kabine kommen und wahrscheinlich genau an diese Tugenden appellieren: die einfachen Dinge des Seins, die uns als „Mensch“ ausmachen können. Was gibt uns dann überhaupt noch das Recht zu leben? Warum soll der Mensch sein, ohne Mensch zu sein?
Und dann müsste der Trainer hoffen, dass seine Spieler sich besinnen, sich selbst wiederfinden und sich ihrer eigenen Stärken bewusst werden. Das für einander Einstehen, komme, was wolle. Sei es Corona. Und sei es selbst der Tod.
Ja, es sterben Menschen an Corona und es werden weitere sterben. Aber wurde uns das Leben nicht schon lange genommen? Und ist ist nicht der psychologische Stress, den wir einander machen, viel zermarternder als das Risiko einer möglichen Infektion?
Ist unser größter Feind nicht die eigene Paranoia vor einer Ansteckung, die uns auseinander treibt und unseren einzigen Schild gegen jede potentielle äußere Bedrohung nimmt, nämlich das Vertrauen in die Menschlichkeit, die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält in Verbindung mit der ehrlichen Anerkennung der Naturrealität samt des ihr innewohnenden Bösen?
Es war ein Hauch von William Wallace, der da an jenem Samstag durch Schalke schwebte. Wir könnten ihn im ganzen Land gut gebrauchen.