Tichys Einblick
Liberaler Presseabend

Was macht eigentlich die FDP?

Die CDU ist sich selbst entfremdet. Die SPD sieht sich selbst beim Verschwinden zu. Die AfD stellt sich selbst mehr Beine, als sie eigentlich hat. Die Linke zelebriert einen poststalinistischen Dauer-Machtkampf. Die Grünen schweigen sich zu Rekordumfragen. Wäre das nicht noch eine Chance für die Liberalen?

© Getty Images

„Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser.“ (Gerhard Schröder, im Wahlkampf 1998)

Bevor der eigentliche Text beginnt, gestatten Sie ein ganz kurzes Experiment: Bitte nennen Sie spontan aus dem Kopf so viele aktive FDP-Politiker, wie Ihnen in zehn Sekunden einfallen – dalli, dalli.

Fertig? Dann wiederholen Sie das Ganze jetzt bitte mit aktiven Politikern der anderen im Bundestag vertretenen Parteien – das sind, zur Erinnerung, in der Reihenfolge des letzten Wahlergebnisses: CDU, SPD, AfD, Linke, B‘90/Grüne, CSU.

Jede Wette: Mindestens vier von fünf Lesern fallen bei allen anderen Parteien jeweils mehr Namen ein als bei der FDP. Vielleicht sind es auch neun von zehn.

*****

„Jahr für Jahr und immer wieder gern laden wir Sie in der Adventzeit ein zum gemeinsamen Rück- und Ausblick.“ So inspiriert lädt FDP-Bundesgeschäftsführer Marco Mendorf die Hauptstadtmedien zum Presseabend der Freien Demokraten. Man geht trotzdem hin, Journalisten können erstaunlich pflichtbewusst sein und außerdem polit-pathologisch neugierig: Vielleicht passiert ja was Interessantes, wer weiß?

Auf einem ausladenden Podest begrüßt Generalsekretärin Nicola Beer die Gäste. Karl-Hermann Flach, Günter Verheugen, Guido Westerwelle – so liest sich ein Auszug aus der Liste von Beers Amtsvorgängern: Namen, von denen es keine Übertreibung ist zu sagen, dass sie deutsche und internationale Politik geprägt haben. Beer steckt in großen Schuhen.

Ihre gesamten 48 Lebensjahre bisher hat die zweifache Mutter in Hessen verbracht: erst in Wiesbaden, dann in Frankfurt. Sie hat Bankkaufrau gelernt, dann Jura studiert und wurde Fachanwältin für Verwaltungsrecht. Noch während der Lehrjahre startete sie eine typische Parteikarriere, die sie von irgendeinem Kreisvorstand der Jungen Liberalen bis in den hessischen Landtag brachte. Bei der kommenden Europawahl soll sie nun FDP-Spitzenkandidatin sein.

Beer redet monoton. Sie gilt als sehr zuverlässig und bienenfleißig – doch leider wirkt sie, man kann es nicht anders sagen, staubtrocken. Das ist kein Charakterfehler, vielleicht sogar ein Ehrentitel, aber auch keine ideale Eigenschaft für den zweitwichtigsten Job einer im Parlament vertretenen Partei im viertgrößten Industriestaat der Welt. Ein hörbares Aufatmen geht durch das Atrium der FDP-Bundesgeschäftsstelle in Berlin-Mitte, als die Generalsekretärin ihre Begrüßungsrede beendet und ihren Chef ankündigt. Das Kontrastprogramm.

*****

Christian Lindner stürmt so forsch und dynamisch zur Bühne, dass er das Gleichgewicht verliert und letztlich auf das Podium stolpert.

Die Unionsparteien hätten gerade ihre Führung ausgetauscht (CDU) oder würden das bald tun (CSU), sagt er. SPD, Grüne, Linke und AfD hätten schon nach der Bundestagswahl den Generationswechsel vollzogen. „Ich bin demnächst der dienstälteste Parteivorsitzende Deutschlands,“ witzelt der FDP-Chef.

Die Fußstapfen, in die er zu treten versucht, sind noch größer als die bei Beer: Heuss, Genscher, Lambsdorff – Lindner steht auf den Schultern von Riesen. Darauf kann man aufbauen, einerseits. Andererseits kann so ein Erbe auch schnell zur Riesenlast auf den eigenen Schultern werden. Hohe Ansprüche sind gut, weil sie abbilden, wie groß man sein könnte. Allerdings werden sie zum Problem, wenn man ihnen nicht gerecht wird – wenn man einfach nicht so groß ist.

„Tradition ist ein sicherer Kompass für Orientierung,“ wirft Lindner in den Raum. Loriot hätte an dieser Stelle wohl gesagt: „Ach was?“. Lindners Problem seit jeher: Er erscheint altklug, bei aller rhetorischer Brillanz und intellektueller Schärfe – vielleicht auch genau deswegen. Seine Sprache und sein jugendliches Äußeres erzeugen eine mächtige kognitive Dissonanz. Bart, Anzug, Krawatte und eine schon nervtötend verlangsamte Sprechgeschwindigkeit nebst dauernder Überbetonung ändern daran nichts. Irgendwie wirkt er immer zu jung für das, was er tut.

Objektiv ist er jung für das, was er tut. Seine politische Karriere begann er im Landesvorstand der Jungen Liberalen in Nordrhein-Westfalen mit gerade mal 17. Mit 19 saß er dann schon im FDP-Landesvorstand, mit 21 als jüngster Abgeordneter im Landtag, mit 25 war er Generalsekretär der Landespartei, mit 30 Generalsekretär der Bundespartei, mit 34 deren Vorsitzender. Christian Lindner fährt auf der Überholspur.

Aber wohin?

Die INSA-Analyse der Parteienpotenziale zeigte für die FDP im November eine feste Stammwählerschaft von sechs Prozent. Unter diese Marke werden die Liberalen auf absehbare Zeit nicht mehr fallen. Ihr Verbleib im Bundestag scheint damit erstmal gesichert. Das hat Christian Lindner geschafft.

Dieselbe Analyse zeigt aber auch, dass keine andere Partei ihr Potenzial so schlecht abschöpft wie die FDP. (Sehr schön und anschaulich hat das Fritz Goergen erklärt: https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/parteien-pegel/) Anders gesagt: Die FDP schafft es in der Praxis nicht, die für sich zu gewinnen, die im Prinzip durchaus für die Partei zu gewinnen wären.

Woran mag das liegen?

*****

Politisch beschwört Lindner – auch auf dem Podium des Presseabends – die Mitte. Im Kampf um diesen strategischen Raum unterscheidet sich die FDP nicht von der Union oder der SPD, und selbst die AfD hat ja die „bürgerliche Mitte“ zum Zielgebiet erklärt.

Trotzdem muss es für die FDP nicht unsinnig sein, auch dort jagen zu wollen. Nur wäre es vermutlich nicht schlecht, wenn die Partei erklärte, weshalb sie das tun möchte. Und wie. Und vor allem: was genau sie unter „Mitte“ versteht. Wird „Mitte“ schichtbezogen interpretiert? Sind in der „Mitte“ also alle, die jetzt schon zur Mittelklasse gehören? Die Mittelgut-Verdiener? Oder sind in der „Mitte“ die Bürger, die den Anspruch an sich selbst haben, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu erwirtschaften? Diejenigen, die etwas im Leben erreichen, die vorankommen wollen? Die Leistungsbereiten, Ehrgeizigen – unabhängig davon, wo sie im Moment noch stehen?

Das bleibt unklar. Niemand erklärt es – nicht dem Publikum draußen und nicht dem Parteivolk drinnen. Bleibt man bewusst im Ungefähren, um niemanden zu verprellen? Oder weiß man es womöglich selbst nicht so genau?

Die Unklarheit des Zielpublikums wird in ihrer Wirkung verstärkt durch die verloren gegangene Machtoption. Keine Partei in Deutschlands Geschichte war so sehr abhängig, hat sich so stark definiert über ihre Funktion für die Macht wie die FDP. Das, wofür ihre Gegner sie verachteten – die Rolle als Mehrheitsbeschafferin – dafür wurde sie von ihren Wählern gewählt. Heute wird die FDP für eine Regierungsbildung nicht mehr gebraucht. Im Sieben-Parteien-Parlament in der derzeitigen Konstellation fehlt der FDP eine echte Machtoption, und als eine Oppositionspartei unter mehreren ist sie nichts Besonderes.

Ob es in dieser Gemengelage eine gute Idee war, sich nach der Bundestagswahl 2017 der Regierungsbildung zu verweigern? Es heißt, Lindner sei damals aus den Koalitionsverhandlungen ausgestiegen, weil er befürchtet habe, im Bündnis mit Angela Merkel nicht den Erwartungen der Wähler gerecht werden zu können.

Bevor Lindner wirklich scheitern könne, gebe er von selbst auf, hat „Spiegel“-Autor Marc Hujer einmal in einem auch sonst wenig vorteilhaften Porträt geschrieben. Wenn Niederlagen drohten, laufe Lindner weg, statt sich zu stellen. Das ist kein Hindernis für den wichtigsten Job einer im Parlament vertretenen Partei im viertgrößten Industriestaat der Welt, aber möglicherweise ein Charakterfehler.

*****

Inhaltlich webt Lindner an einem großen, bunten Flickenteppich. Es ist von (fast) allem etwas dabei – und für (fast) jeden. Für die Homo-Ehe, gegen das Werbeverbot für Abtreibungen, für Menschenrechte, gegen zu viel Zuwanderung, für Europa, gegen zu viel Macht für die EU. Ach ja, für die Marktwirtschaft ist die FDP natürlich auch. Und für mehr Gleichstellung von Frauen.

Es ist der Alptraum der Markenführung. Keine Priorisierung, nirgends. Stattdessen ein omnipräsentes „Ja, aber“ bzw. „Ja, aber nicht so“.

Wenn es um Bürgerrechte oder um Marktwirtschaft ging, war die FDP einst Deutschlands erste, feinste und kompetenteste Adresse. Die Zeiten sind vorbei – dabei sind die Grünen mit ihrem verstörend autoritären und staatsgläubigen Bürgerrechts-Ansatz sowie die CDU mit ihrem pseudo-wirtschaftlichen Merkel-Etatismus gerade auf diesen Feldern gar keine ernstzunehmenden Gegner mehr.

*****

Personell besteht die FDP aus – nun ja, Christian Lindner.

Auf dem Presseabend im Hans-Dietrich-Genscher-Haus sind keine liberalen Altvorderen zu sehen, keine „Granden“, keine Elder Statesmen – weil es sie nicht gibt. Genscher, Lambsdorff, Westerwelle – tot. Baum und Leutheusser-Schnarrenberger melden sich alle Schaltjahre nochmal zu Wort, aber das merkt kaum jemand. Solms war schon zu seinen Glanzzeiten keine öffentliche Figur. Und die Generation, die den schlimmen Absturz 2013 zu verantworten hatte, ist abgetaucht: Rösler, Niebel, Döring hatten sowieso nie das Format früherer FDP-Spitzenleute erreicht.

Der Einzige, der nicht völlig im Schatten Lindners steht, ist Wolfgang Kubicki. Mehr lässt Lindner nicht zu neben sich.

Die Frage ist deshalb auch nicht: Wer kommt hinter Lindner?

Die Frage ist: Wer kommt nach Kubicki?

*****

Es sind viele alerte junge Männer mit gegeeltem Haar da, die Lindner beklatschen. Das ist das neue FDP-Milieu. Es mag für fünf Prozent reichen, oder auch für acht. Aber wozu sonst? Wie, womit und mit wem will diese FDP Bürger anziehen, die nicht sowieso schon so sind, wie die Partei heute ist?

Die FDP 2018 ist eine Partei der Selbstähnlichkeit.

Die Anwesenden fallen durch eine in ihrer Dominanz leicht verstörende Einheitsuniform auf: dunkler Einreiher, weißes oder blaues Hemd (offen, ohne Krawatte), Smartphone in der Sakko-Brusttasche, Harry-Potter-Brille. Frauen? Fehlanzeige.

Und diese vielen anwesenden FDP-Leute nutzen den Abend zur Kommunikation untereinander. Was Presseabend heißt (und womöglich ja wirklich als solcher vorgesehen war), dient am Ende tatsächlich der Partei zum Selbstgespräch.

Über dem Buffet hängt ein Banner: „70 Jahre FDP – neues Denken seit 1948“. Es ist ein pseudo-dialektischer Spruch aus der PR-Agentur-Hölle: ohne irgendeine emotionale Synapse, an die irgendein Wähler oder irgendeine Wählerin gefühlsmäßig andocken könnten. Ein Spruch wie die Partei: oberflächlich klug und witzig, tatsächlich aber ohne geistige Tiefe – kalt, glatt, empathielos.

Am Ausgang steht ein geschmückter Weihnachtsbaum. Darunter liegen, hübsch drapiert, viele bunt eingeschlagene Geschenkpakete.

Sie sind leer.

Die mobile Version verlassen