Roland Tichy hat am Wochenende den Vergleich zwischen der Weimarer und der Berliner Republik gezogen. Der drängt sich auf. Die Berliner Republik taumelt ähnlich wie einst Weimar und sie hat auch genauso wenig überzeugende Ideen, wie es besser werden könnte. Bleibt man im Bild, ließe sich Olaf Scholz mit Heinrich Brüning (Zentrum) vergleichen, dem drittletzten Kanzler vor Adolf Hitler (NSDAP): Seine Politik wirkt verheerend, die Wirtschaft ist am Boden, seine Motive und seine Strategien sind fragwürdig – aber unter ihm haben die Leute ein letztes Mal in vergleichsweise innenpolitischem und außenpolitischem Frieden leben können.
Nun hinken historische Vergleiche immer. Geschichte wiederholt sich nicht einfach mit anderen Darstellern. Entscheidende Konstellationen unterscheiden sich: Die Deutschen sind 2024 deutlich weltläufiger und besser gebildet als 1932. Das Land ist kein freies Radikal zwischen westlichen Verbündeten und Sowjetreich im Osten, sondern ist eingebunden in ein wirtschaftliches und militärisches Bündnissystem. Auch verfügt Deutschland 2024 über einen Sozialstaat, der die wirtschaftliche Not abfedert – vielleicht auch ihre Ursache ist. Dazu aber später mehr.
Der Wunsch, Scholz los zu sein, ist verständlich. So wie er es nach etwas mehr als zwei Jahren Regierung gegenüber Brüning war. Nur damals wie heute ist die Frage unbeantwortet: Was kommt danach? Wie sieht die Zeit nach Olaf Scholz aus? Sei es noch dieses Jahr, weil die FDP die Ampel zerbrechen lässt. Oder sei es im nächsten Jahr, wenn wieder reguläre Wahlen anstehen.
Von den Ampelparteien können nur die Grünen ihren Wählerstamm halten. Sie verlieren vielleicht ein paar Modefans. Andererseits spielt die Zeit für sie. Die SPD ist stark vertreten in den Alterskohorten, in denen aus biologischen Gründen viel gestorben wird. Diese Gruppe ist für die Grünen derzeit noch nicht so bedeutend. Daher können sie noch die Zahl der verstorbenen Stammwähler durch die der Neuwähler gut ausgleichen. Deswegen dürften die Grünen 2025 stabil bei 15 Prozent landen – vielleicht mit einem kleinen Minus X.
Die Union vereint die Wähler hinter sich, die mit der Ampel unzufrieden sind, die aber ein grundsätzliches Weiter-so wollen – und daher die AfD oder neu gegründete Parteien ablehnen. Das Potenzial liegt derzeit bei rund 30 Prozent. Aber die Union ist von dem gleichen Effekt betroffen wie die SPD. Auch sie ist stark in den Wählerkohorten vertreten, in denen statistisch gesehen häufiger gestorben wird.
Nur: Reicht das? Derzeit kommen Union und Grüne zusammen auf 45 Prozent. Und jetzt, da die Karten auf dem Tisch liegen, werden CDU und CSU noch viele Wähler von der Stange gehen, die alles wollen, nur keine Verlängerung der Amtszeit von Habeck als „Wirtschaftsminister“ und Lisa Paus als Familienministerin mit Erleichterungen von Abtreibungen als Staatsziel. Ob es also für Schwarz-Grün reichen wird, ist sehr fraglich. Selbst wenn die FDP in ihrer Selbstverzwergung fortfährt und nach der Wahl von 2025 nicht mehr im Parlament sitzt.
Schwarz-Grün droht nach 2025 eine Sperrmajorität von SPD, AfD und einer dritten, neuen Partei. Etwa der Werteunion oder dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Dann müsste eine Dreierkoalition geschmiedet werden. Welche dann zustande kommt, hängt von den Themen ab. Am wahrscheinlichsten ist aber eine übergroße Koalition aus Union, Grünen und SPD. Entscheidend als Themen werden für eine neue Regierung sein:
Finanzpolitik
Derzeit wehrt sich Merz gegen eine Aufweichung der „Schuldenbremse“. Also gegen eine grenzenlose Staatsverschuldung. Doch das ist strategischer Natur: Eine Ampel, die finanziellen Handlungsspielraum bekommt, ist nicht in seinem Sinn. Wäre er selbst an der Macht, würde er mit den Grünen sofort die Bremse lösen. Ein unbegrenzter Etat für Investitionen wäre für den Blackrock-Mann ein Traum – für Investmentgesellschaften generell. Keine Rolle spielt dann mehr die Frage, ob Deutschland nach einem nächsten großen Investitionspaket in 20 Jahren zahlungsunfähig wäre. Oder schon in zehn oder fünf Jahren. Bis dahin hätten alle Blackrock-Männer schöne Alterssitze auf Bali oder wenigstens in den Alpen – für Blackrock-Frauen gilt das auch.
Mit dem grünen Koalitionspartner ließe sich die Aufweichung der Schuldenbremse locker umsetzen. Deren Vertreter, allen voran Habeck, fordern das ja bereits selbst. Allerdings bräuchte es dann noch einen Partner, selbst wenn es zu einer schwarz-grünen Mehrheit im Bundestag reicht. Die Schuldenbremse steht in der Verfassung. Sie zu streichen, bedarf es einer Zweidrittelmehrheit. Dafür stünde das linke Bündnis Sahra Wagenknecht bereit.
Kriegspolitik
Bisher war Olaf Scholz eine der letzten Stimmen in der Koalition, die davor warnten, den Ukraine-Krieg eskalieren zu lassen. Derzeit blockiert Scholz die Lieferung von Taurus-Raketen. Der CDU geht es nicht schnell genug mit der Eskalation. Ihre Kriegsstimme Roderich Kiesewetter will nun den Krieg nach Russland tragen. Wobei er sich nicht selbst den olivgrünen Kampfanzug anziehen will, um nach Wolgograd loszumarschieren. Kommt es zum Krieg mit Russland, ist Kiesewetters Platz wahlweise der Bunker oder das Studio von Caren Miosga, wo er daran erinnern wird, dass fürs Vaterland keiner zu viel sterben kann – der Heldentod war schon immer am süßesten, wenn er andere ereilt.
Auch in dieser Frage sind die Union und Grünen eine Agnes-Marie und eine Strack-Zimmermann. Das Bündnis Sahra Wagenknecht könnte in dieser Frage indes auf keinen Fall mitziehen. Gegen einen Krieg mit Russland zu sein, ist einer der beiden Gründe, warum es zu dieser Partei überhaupt erst gekommen ist. Gelingt es Merz und Habeck, die alte Angst vor dem Russen zu schüren, wäre die Werteunion vielleicht mit dabei.
Wirtschaftspolitik
In keinem anderen Feld zeigt sich, wie blank die politische Klasse mittlerweile intellektuell ist. Zur Wirtschaftspolitik fallen ihr nur noch Lösungen ein, die längst gescheitert sind: Analphabeten ins Land lassen, um den Fachkräftemangel zu beheben. Beiträge erhöhen und Arbeit verteuern, um Rente, Pflege und Gesundheit noch irgendwie bezahlen zu können. Mit dem nächsten noch größeren Investitionspaket das erfolglose etwas kleinere Investitionspaket davor vergessen machen wollen. Und die Bürokratie abbauen – beziehungsweise viel mehr ihren Abbau fordern.
Wie bürokratisch die Grünen denken, wissen die Deutschen spätestens seit Habecks Heizhammer. Doch von Abbau reden und Bürokratie aufbauen, kann die CDU auch. Das beweist Ursula von der Leyen jeden Tag in Brüssel: Die Glöckchen am Weihnachtsmann des Klimaschutzes wegen verbieten – aber gleichzeitig dafür sorgen, dass noch mit jedem Wasserkocher ein Heft voller Sicherheitshinweise mitgeliefert werden muss, das jedes Werk von Robert Musil oder Thomas Mann in den Schatten stellt. In dieser Art, sich selbst unbürokratisch zu lesen, aber tatsächlich höchst bürokratisch zu sein, schenken sich Union, Grüne, Werteunion und Bündnis Sahra Wagenknecht wenig.
Sozialpolitik
Der Sozialstaat ist in Deutschland ausgewuchert. Dafür hat spätestens die Erhöhung des Bürgergelds um 25 Prozent innerhalb eines Jahres gesorgt. Die hohen Kosten ersticken jeden Handlungsspielraum für Investitionen, machen Arbeit so teuer, dass der Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig ist und sorgen dafür, dass es sich in einem Land mit einem Fachkräftemangel nicht rentiert, mehr, härter oder besser zu arbeiten, weil einem die Steuer jede Gehaltserhöhung wegfrisst und es sich im Bürgergeld angenehm leben lässt.
Das Problem ist nur: Der Sozialstaat bräuchte dringend einen Grünschnitt. Doch wenn damit erst einmal begonnen wird, wird schnell ein Kahlschlag draus. Schon zwischen 1998 und 2005 haben sich Grüne wie Rezzo Schlauch daran berauscht, wie viele alte Grundsätze sie bereit sind zu opfern. Mit dem Kriegs-Szenario im Hintergrund und dem realen Druck durch die Einwanderung in die Sozialsysteme könnte Schwarz-Grün den Sozialstaat derart zurückfahren, dass er seine Rolle als innenpolitischer Friedensgarant verliert. Auch hier könnte das Bündnis Sahra Wagenknecht auf keinen Fall mitmachen. Die Frage, wie sie auf die Sozialpolitik sieht, ist in der Werteunion noch nicht entschieden.
Energiepolitik
In keinem anderen Feld ist die Lage so verfahren wie in der Energiepolitik. Auch haben Schwarz-Grün hier die größten inhaltlichen Differenzen. Doch für die Grünen ist die Rückkehr der Kernkraft ein Tabu. Merz könnte sich mit demselben Verweis auf die Realität – schwer an Brennstäbe zu kommen – aus der Verantwortung stehlen wie Finanzminister Christian Lindner (FDP) in der Ampel. Bliebe das grüne Märchen von der Energieversorgung einer Industrienation aus Wasserkraft, Sonne und Wind.
Am Ende gibt es zwei ebenso unbefriedigende Varianten, wie Schwarz-Grün die Energiefrage löst: Entweder hält eine Regierung Merz an Flüssiggas aus Katar und Frackinggas aus den USA fest. Auch wenn die Preise dann in den Himmel schießen. Oder die Deutschen müssen sich daran gewöhnen, in Dunkelflauten ohne Strom dazustehen. Eine Eskalation des Krieges würde auch da Schwarz-Grün als Verkaufsargument helfen. Kiesewetter würde sicher gerne erklären, warum der gemeine Deutsche im Dunkeln leben muss, während nur noch Kriegswichtige – also zum Beispiel er – in Vollversorgung leben können.
Fazit
Fehlt nach Scholz Schwarz-Grün eine Mehrheit, dann bleibt die SPD der Partner, der am ehesten als Mehrheitsbeschaffer in Frage kommt. In der Kriegspolitik wären die Sozialdemokraten neu aufgestellt, so wie Scholz durch Boris Pistorius als Gestalter ausgetauscht wird. Das Gleiche gilt für die Finanzpolitik. In der Energie- und Wirtschaftspolitik liegt die SPD ohnehin auf Linie mit Schwarz-Grün.
Bliebe die Sozialpolitik. Dass unter der SPD der Sozialstaat kahlgeschoren wird, ist undenkbar. Sollte man meinen. Doch die Sozialdemokraten haben schon mehr als einmal gezeigt, dass sie entschlossen sind, für den Machterhalt alle Grundsätze über Bord zu werfen. Die Sozialreformen unter Gerd Schröder waren da lange nicht das drastischste Beispiel für. Eher die Bereitschaft der SPD, 1919 faschistische Milizen und Freischärler auf Arbeiter schießen zu lassen. Aber historische Vergleiche hinken immer. Wahrscheinlich ist Olaf Scholz nicht der neue Heinrich Brüning. Auch wenn sich die Deutschen mal an ihn erinnern werden, weil es unter ihm auch schon schlecht war – aber noch lange nicht so schlecht wie unter den Nachfolgern.