Eine der aussagekräftigsten Meldungen stand diese Tage in der Bild. Christian Lindner ließ Olaf Scholz wissen, dass er ihn nicht mehr zu seiner Hochzeit einladen würde. Junge Eltern kennen diesen Sound. Wenn sie ihrem Kleinkind etwas zumuten müssen, etwa ins Bett zu gehen, dann schleudert es ihnen gerne mal Sätze entgegen wie: „Dann hab‘ ich dich gar nicht mehr lieb.“ Es ist das einzige, schärfste und letzte Schwert des Kleinkinds, der Liebesentzug. Lindner zieht dieses Schwert nun gegen den Kanzler: Auf seine Hochzeit würde er den Regierungschef nicht mehr einladen. Autsch.
Auf der Handlungsebene ist das keine bedeutende Nachricht. Wenn Lindner denn nochmal heiratet, kann es dem normalen Bürger egal sein, wen er auf Sylt bewirtet. Interessant wäre höchstens die Frage, wie jemand zum Jet-Set-Millionär wird, der eigentlich immer nur im öffentlichen Dienst Geld verdient hat. Vermutlich ein besonders effektiver Umgang mit Rabattmarken. Interessant ist die prophylaktische Ausladung des Kanzlers nur, weil sie einen Einblick in das Wirken der Berliner Blase zulässt. Der Liebesentzug ist in dieser Bezugswelt eine derart harte Strafe, dass ein ehemaliger Finanzminister gar nicht mehr mitkriegt, wie sehr er außerhalb der Blase wie ein trotziges Kleinkind wirkt, wenn er diese Strafe öffentlich ausspricht.
Vor drei Jahren kehrte Friedrich Merz als konservativer Rebell in diese Bezugswelt zurück. Zumindest hatte er sich dieses Image zugelegt. Eigentlich hatte er diese Welt nie verlassen. Er hatte lediglich 20 Jahre lang auf der Ersatzbank Platz genommen, um die begabteren wie Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer oder Armin Laschet auszusitzen. In der Zeit verdiente Merz sich als Lobbyist und Rechtsanwalt.
Bis 2009 hatte der Rechtsanwalt zudem im Bundestag gesessen. Mit Mandat ausgestattet ließen sich die Interessen der Mandanten noch leichter vertreten. 20 Jahre ging es dem Ausgemusterten ganz gut in einer Welt, in der gilt: Man kennt sich, man hilft sich. In der für gestandene Regierungschefs Liebesentzug schlimmer ist als für junge Eltern. Sich vor Liebesentzug zu bewahren, ist ein banaler Schlüssel, um die Entscheidungen von Friedrich Merz offenlegen zu können – aber es ist ein Schlüssel, der erschreckend oft greift.
Merz hat in den 20 Jahren Ersatzbank gelernt, sich Images zuzulegen. Er hat aber nicht gelernt, diese mit Leben zu füllen, wenn er die Gelegenheit dazu erhält. Mit dem Image des konservativen Rebellen wurde Merz CDU-Chef, schlug in der Direktwahl Merkels Kanzleramtschef Helge Braun demütigend. Doch kaum im Amt beförderte Merz in der Union die Merkelianer, die ihn zuvor öffentlich bekämpft und beleidigt haben. Er äußerte sich nur noch grün und erklärte eine innerparteiliche Frauenquote zu seinen ersten Projekten. Wenn Merz aus Versehen eine konservative Äußerung entschlüpfte, entschuldigte er sich stets innerhalb von zwölf Stunden. Den Liebesentzug des rot-grünen Milieus wollte und konnte der CDU-Vorsitzende nicht ertragen.
Eine inhaltliche Festlegung war in Merz‘ 20 Jahren auf der Ersatzbank auch nicht machbar. Vor seiner Zeit als Reservist machte er mit dem Bierdeckel Schlagzeilen, auf dem Bürger ihre Steuererklärung abgeben können sollten. Das entsprach dem neoliberalen Sound der Zeit. Diese Forderung macht Merz nicht zu einem Neoliberalen, für den ihn manche Liberale fälschlicherweise heute noch halten. Sie machen ihn nur zu einem Zeitgeist-Reiter.
In Merz‘ 20 Jahren auf der Reservebank hat sich der Zeitgeist geändert: Merkel opferte 2015 den gefestigten Rechtsstaat, weil sie schlechte Bilder an den Grenzen fürchtete. Jede Kritik daran wurde zum Tabu, jeder Kritiker hinter die „Brandmauer“ eingesperrt. Statt der Freiheit der 90er Jahre beherrschte nun der Untertanen-Geist der Merkel-Jahre das gesellschaftliche Klima. Auf die Spitze getrieben in der Pandemie, als selbst kleine Ladenschwängel sich plötzlich zu mächtigen Vollstreckern der staatlichen Geboten aufschwangen. Als sie Kunden nicht mehr begrüßten mit „Was darf’s sein, bitte?“ sondern mit „Maske auf! Impfausweis vorzeigen! Abstand halten!“
Die deutsche Wirtschaft hat sich in Merz‘ 20 Jahren auf der Ersatzbank auch geändert. Merkel profitierte zum einen von den Hartz-Reformen unter ihrem Vorgänger Gerd Schröder (SPD). Zum anderen waren die Jahre nach der Bankenkrise eine Epoche ungestörten internationalen Handels, was für die Exportnation Deutschland gut war. Und dann floss das günstige Gas aus Russland, was der deutschen Wirtschaft ebenfalls half. Die Abhängigkeit von Wladimir Putin und ihre Folgen sind heute gut bekannt. Doch die wäre reparabel gewesen.
Was nicht reparabel ist, ist die Wirtschaftspolitik, die Merkel eingeleitet hat – zusammen mit ihrer zuerst treusten Ministerin und nun Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen. Statt staatliche Schulden abzubauen und Straßen, Schienen, Brücken und Internetnetz in Schuss zu halten und zu verbessern, steckten Merkel und von der Leyen samt ihrem Vorgänger Jean-Claude Juncker das Geld in Gigantismus.
Alles wurde gigantisch: der bürokratische Apparat in Brüssel. Die Vorschriften, die dieser Apparat zur Selbstbestätigung machen musste. Die Summen, mit der dieses bürokratische Monster sich zunehmend anmaß, der bessere Wirtschaftsentscheider zu sein. Pandemie und Krieg nutzten EU und Bundesregierung, um in ihren Förderprogrammen aus Millionen Milliarden zu machen – und bald aus Milliarden Billionen. Wenn nicht gerade Krieg oder Pandemie war, musste der Klimawandel als Begründung für die gigantische Geldumschichtung herhalten. Und Friedrich Merz? Als Lobbyist machte er Geschäfte mit dieser Geldumwälzung. Als Politiker unterstützte er die Parteifreundin von der Leyen und verschaffte ihr eine weitere Amtszeit.
Umso größer der Moloch EU wurde, desto machthungriger wurde der: Das Internet durchsuchen lassen und unbescholtene Bürger unter Generalverdacht stellen und konsequenter verfolgen als manchen Kriminellen. Die freie Rede als „Hassrede“ tabuisieren und letztlich strafrechtlich verfolgen lassen. Wahlen für ungültig erklären lassen, wenn das Ergebnis einem nicht passt. So wie in Rumänien. All das geht von der EU aus, unter der Herrschaft der Christdemokratin und Merkel-Getreuen von der Leyen.
Und was macht Merz? Was waren seine tatsächlichen Projekte in drei Jahren als Oppositionsführer? Er hat Merkelianer innerhalb der Partei befördert, selbst wenn sie ihn zuvor massiv öffentlich beleidigt hatten. Er hat eine Frauenquote durchgesetzt, der Frauen einen deutlich höheren Anteil an Führungspositionen in der Partei zugesteht, als es tatsächlich Frauen in der CDU gibt. Er hat durchgesetzt, dass kein Christdemokrat gegen den Apparatschik-Präsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) kandidiert. Er hat eine zweite Amtszeit von der Leyens ermöglicht.
Merz hat gezeigt, dass er in der Ideologie der EU verhaftet ist: „Transformation“, was in der Praxis bedeutet, das Geld der Privatwirtschaft zu entziehen, um gigantische staatliche Projekte der Planwirtschaft durchzuziehen. Grenzenlose illegale Migration zu fördern. Tabuisierung von Kritik an dieser Migration inklusive der rechtsstaatlichen Verfolgung der Kritiker. Ein Aushebeln der Meinungsfreiheit über kommunistische Kampfbegriffe wie „Kampf gegen Hassrede“. Dafür stehen nicht nur von der Leyen in Brüssel und die SPD in Berlin. Dafür steht auch Friedrich Merz, der von der Leyen stützt und die Sozialdemokraten als bevorzugten Koalitionspartner benennt.
Im Januar hat Merz vor dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos gesprochen. Er hat dort versprochen, die Migration bekämpfen und die deutsche Wirtschaft strukturell stärken zu wollen. Doch selbst das Schweizer Staatsfernsehen hat kritisiert, wie belanglos unkonkret Merz dabei blieb. Den Stopp des „Green Deals“ hat die CDU im Europawahlkampf versprochen, weil sie weiß, wie unbeliebt die gigantische Geldumwälzung ist und wie wenig die Deutschen den Brüsseler Bürokraten trauen. Doch nach der Europawahl haben die Christdemokraten so getan, als ob sie dieses Versprechen nie gegeben hätten.
Merz weiß, dass es ihm keiner ein zweites Mal glauben würde. Deswegen raunzt er nur noch was von Bürokratie abbauen und Strukturen reformieren. In der Hoffnung, dass es wie beim WEF keiner so genau wissen will. Schließlich sitzen in Davos genug, die privat an der Umwälzung oder „Transformation“ verdienen. Denen will Merz gefallen. Das ist ein banaler Grund zu handeln. Aber meistens ist das Böse halt banal. Und noch hat Lindner nicht damit gedroht, Merz zu seiner nächsten Hochzeit nicht einzuladen. Also alles gut für den Kanzler.
Sein Problem ist nur: Das Image des liberalen Erneuerers wird noch schneller zusammenbrechen als das des konservativen Rebellen. Im April wird Merz Kanzler unter Saskia Esken und/oder Robert Habeck sein. Er wird sich der EU-Transformation verpflichtet fühlen, die Schuldenbremse abschaffen und den gigantischen Staat mit Schuldengeld wuchern lassen.
Der Meinungsfreiheit hat er an diesem Wochenende bereits offen den Kampf angesagt. In weniger als zwei Jahren wird Merz ein Kanzler sein, der bei den Bürgern komplett durchgefallen ist, den in der Blase aber alle noch lieb genug haben, um ihn zu ihrer Hochzeit einzuladen.