Ich bin gebürtiger Linker: Mein Vater war Maurer und hat vor seinem tödlichen Unfall auf EDV-Experte umgeschult. Mein Stiefvater, den ich wie einen Vater liebe, war Bergarbeiter. Gute Löhne, faire Arbeitsbedingungen und bezahlbares Wohnen, Essen oder Heizen waren für uns als Familie zentrale Fragen. Das Versprechen auf ein soziales Netz, durch das keiner durchfallen könne, hat das Leben obendrein entspannt.
Doch nicht nur in politischen Fragen war ich ein Linker. Mir war es immer lieber, meine Zeit mit Linken zu verbringen. Rechts war Dorf, Katholische Kirche und Normativität. Links war Stadt, Religionskritik und der Mut, Gedanken auch mal gegen den Strich zu bürsten. Querdenker war ein positiv besetzter Begriff. Und links. Rechte wollten von Dir, dass du dem Pfarrer nicht widersprichst – Linke fanden’s gut.
Die allermeisten meiner Freunde arbeiten im Journalismus, akademischen Betrieb oder in der Politik. Diese Berufe haben eins gemein: Normativität gilt immer stärker als Voraussetzung. Ein Beispiel: Die Grünen zogen 2011 in Rheinland-Pfalz direkt von der Außerparlamentarischen Opposition in die Landesregierung ein. Sie suchten dringend Mitarbeiter. Eigentlich galt jeder, der schon vorher für sie tätig war, als gesetzt. Bis auf einen Kollegen. Der engagierte sich stark im Kampf gegen das Rauchen. Der Koalitionsvertrag mit der SPD ging ihm in dem Punkt nicht weit genug. Das sagte er auf einer Podiumsdiskussion, an der auch seine Chefin teilnahm. Danach war er raus.
Nichts kann im politischen Betrieb so schnell und nachhaltig eine Karriere ruinieren, wie eine öffentlich vertretene abweichende Meinung oder ein unbeherrschter Auftritt. Da ist es nur eine Konsequenz, sich der Normativität unterwerfen zu wollen. Die andere Konsequenz ist, sich klare Fronten zu wünschen. Denn es fällt wesentlich schwerer, sich einer Linie anzupassen, wenn diese Linie nicht klar erkennbar ist. „Wir hier – die Wendlers da“, ist folglich eine dankbare Situation. Menschen, die eine sinnvolle Alternative aufzeigen, stehen indes für Gefahr. Der Wunsch nach materieller Sicherheit ist für viele – egal ob links oder rechts – der stärkste Antrieb. So erweitern viele im Freund-Feind-Denken lieber die Gruppe der Feinde, als zu riskieren, am Ende mit einer abweichenden Meinung dazustehen.
Dass Linke heute keine Widersprüche mehr akzeptieren, zeigt sich am deutlichsten im Umgang mit dem Islam. Religionskritik galt früher als eine Säule, auf der die Linke gestanden hat. Allzumal wenn die Religion archaisch daher kam. Und patriarchalisch. Wenn Frauen unterdrückt wurden, wenn Männer ihnen ihre Vorstellung vom Leben vorgeschrieben haben.
Dass es für Frauen aus islamischen Umfeldern einen Zwang zum Kopftuch gibt – durch Drohungen oder mindestens durch normative Erwartungshaltungen –, verneinen sie. Wobei sie es nicht einmal verneinen, sondern einfach nur einen Feind in jedem sehen, der es ausspricht. Stattdessen stilisieren sie das Kopftuch zum Freiheitssymbol. Angesichts unterdrückter Frauen etwa in Afghanistan ein Hohn. Und letztlich, wie Alice Schwarzer zurecht anmerkt, rassistisch und sexistisch – weil einem Teil der Frauen so ihre Rechte abgesprochen wird. Und das aufgrund ihrer Herkunft.
Ich hatte beruflich in den Jahren 2016 und 2017 viel mit Frauenrechtsorganisationen zu tun. Ihre Mitarbeiterinnen sagten, sie sähen das Problem. Beim Vieraugentreff. Öffentlich ansprechen wollten sie es aber nicht, weil sie damit den Rechten – also dem Feindbild – Recht geben würden. Sie haben sich bis heute dazu öffentlich nicht positioniert. Genau so wie homosexuelle Freunde von mir, die sich in Berlin nicht mehr trauen, öffentlich Händchen zu halten. Und das nicht, weil da so viele Glatzen unterwegs seien. Auch sie äußern sich dazu nicht öffentlich.
Eine grüne Politikerin hatte mir ein Interview gegeben. Sie hatte es schon frei gegeben. Darin stand die Forderung nach mehr innerer Sicherheit, weil davon vor allem Frauen profitierten, die sich sicher im öffentlichen Raum bewegen wollen. Sie ließ diese Stelle nachträglich streichen. Ein mächtiger Mann der Grünen hatte ihr dazu geraten.
Wenn das Weiterkommen im Beruf gefährdet ist, stellen also viele Grün-Linke ihre Überzeugung hintenan. Das macht sie in diesen Punkten aber nicht zurückhaltender oder nachsichtiger, sondern lauter und aggressiver. Der Schrei nach dem Feind übertönt schließlich die eigenen Widersprüche – und lässt einen selbst den eigenen Verrat an den eigenen Überzeugungen vergessen.
Ich selbst hätte es mir leichter machen können. Mit 28 Jahren hatte ich eine Festanstellung in einer gesetzlichen Krankenkasse. Nahezu unkündbar. Doch das war mir zu öde. Also zog ich weiter zur Frankfurter Rundschau. Das war lange spannend. Bis unser Regionalchef verkündete, das Ziel der Arbeit für die FR sei, „den Mangel (zu) verwalten“. Also zog ich zu den Grünen weiter. Doch auf Dauer hatte ich keine Lust, aus dem Schicksal des Antiraucher-Kollegen zu lernen – und wollte wieder meine Meinung sagen können.
Um es abzukürzen: Mich nicht der Norm unterwerfen zu müssen, war mir immer so wichtig, dass ich sogar bereit war, Einbußen in meiner existenziellen Sicherheit hinzunehmen. Doch wer so weit geht, um sich nicht der Norm unterwerfen zu müssen, der kann erst recht kein Linker bleiben, da sich die westdeutsche Linke gewandelt hat: Aus den rebellischen Quertreibern der 70er und 80er Jahre ist eine Bewegung geworden, die ihre Welt in festen Strukturen verewigt sieht und in diesen Strukturen eine intolerante Normativität durchsetzen will.
Mag sein, dass ich die Welt so sehe, weil ich ein „privilegierter“ Mensch bin: weiß, männlich, heterosexuell, gesund. Als ich mit einer fünfköpfigen Familie auf 80 Quadratmetern aufgewachsen bin, war mir das nicht so bewusst. Wenn es am Ende des Monats nur noch Nudeln zu essen gab, habe ich über meine Privilegien auch vielleicht nicht ausreichend genug nachgedacht. Sodass mir die soziale Frage letztlich immer näher lag als Fragen der Identität.
Vielleicht klingt das absurd. Das liegt aber nur daran, dass es absurd ist. Denn als offener Mensch bin ich durchaus bereit, mich zumindest testweise auf die Prämisen einzulassen. Im Rahmen dieser Vorgaben stelle ich also Fragen: Ist eine transsexuelle Polin einem homosexuellen Syrer bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst vorzuziehen? Und was, wenn die Frau aus Afghanistan kommt? Oder der Homosexuelle im Rollstuhl sitzt? Oder wo bleiben bei Frauenquoten die sexuell Unentschlossenen? Ein kleiner Tipp: Sparen Sie sich solche Fragen. Die Vertreter der identitären Linke sind weder an Fragen interessiert, noch an Zwischentönen oder Widersprüchen – dann wäre für sie der Griff zum Feindbild viel schneller, einfacher und nachhaltiger.
Doch so lustig diese Widersprüche sind – so schnell schlagen sie in Ernst um. Nämlich dann, wenn die gesellschaftliche Debatte aufhört, Debatte zu sein – und sich in politischer oder ökonomischer Macht niederschlägt. Und nicht nur linke Politik ist heute identitätspolitisch ausgerichtet. Die Wirtschaft ist es auch. Ein Blick auf einen durchschnittlichen Werbeblock reicht: Die Unterdrückten von einst sind die Werbeträger von heute.
Nur: Geht es den Unternehmen wirklich um die Beseitigung von Unrecht? Wohl eher nicht. Nehmen wir einen Lebensmittelkonzern: Der benennt seine Ware um von Zigeunersauce in Paprikasauce. Das kostet ihn nicht mehr als eine ohnehin ab und an nötige Imagekampagne der Ware – beschert ihm aber eine bedeutend höhere mediale Aufmerksamkeit. Gleichzeitig kann der Konzern seinen Tarifvertrag kündigen, Bezahlung sowie Arbeitsbedingungen seiner Mitarbeiter verschlechtern. Der identitäre Linke bekommt das nicht mit – der ist damit beschäftigt, den Namen Paprikasauce gegen sein Feindbild zu verteidigen.
Es ist ein Deal zwischen Linken und Wirtschaft. Beide bekommen, was sie wollen. Der Linke, was ihm am wichtigsten ist: Recht. Und die Wirtschaft darf die Produktionsbedingungen beibehalten und das oberste Prozent der Gesellschaft weiter reicher werden. Dass Linke und Wirtschaft einen feindlichen Dualismus bilden, ist lange vorbei.
Wo das alles hinführt? Keine Ahnung. Die viel zitierte Spaltung der Gesellschaft jedenfalls wird erst einmal voranschreiten. Angesichts steigender Preise für Essen, Strom, Heizen und Mobilität wird ein großer Teil noch früher im Monat anfangen müssen, nur noch Nudeln zu essen. Es ist nett gemeint, wenn der andere Teil dabei zuruft, dass das ja nicht schlimm sei, da sie doch qua Geburt privilegiert seien. Ein echter Trost wird das aber nicht sein.
Ich werde weiter schreiben. Würde ich starre Positionen nachbeten wollen, hätte ich bei den Grünen bleiben können. Dann ginge es mir heute finanziell besser. Trotzdem fühle ich mich wohler. Denn den Satz, dass gerade Frauen ein Bedürfnis nach Sicherheit im öffentlichen Raum haben, muss ich mir nicht mehr aus einem Text streichen lassen. Schon gar nicht von einem Mann. Die Widersprüche sind das eigentlich Spannende. Am Schreiben genauso wie im Leben. Ihnen habe ich mich gewidmet. Und wenn das bedeutet, dass ich nicht mehr links sein kann – dann ist das halt so.