Tichys Einblick
Gegen jede Cancel Culture

Warum ich in diesem Text nicht über Herbert Grönemeyer schreibe

In der Pandemie haben sich viele Kulturschaffende dumm verhalten. Das muss aufgeklärt werden so wie die gesamte Ausgrenzung von Ungeimpften. Doch es ist gefährlich, ihre Werke nicht mehr genießen zu wollen.

Herbert Grönemeyer bei der Präsentation seines neuen Albums "Das ist los" in Berlin, 22.03.2023

IMAGO / Future Image

Schreib doch was über Herbert Grönemeyer, heißt es. Nicht so sehr, weil er gerade sein neues Album „Das ist los“ vorgestellt hat. Sondern weil er vor einigen Tagen „Männer“ in „Frauen“ umgetextet hat. Am Weltfrauentag. Der Grönemeyer hat während der Pandemie so viel so Dummes gesagt. Schreib doch mal was über den, heißt es. Aber ich will das nicht. Ich habe Bob Dylan zugehört, wie er „Blowing in the wind“ in einer Limbo-Version gebracht hat und war in der Saarlandhalle vielleicht der Einzige, der das geil fand. Es ist sein Song, er kann damit machen, was er will. Aber das ist es nicht, warum ich nicht über Herbert Grönemeyer schreiben will. Das geht tiefer. Das rührt mein Grundverständnis an.

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Zu einem meiner liebsten Filme gehört der Western „Chisum“. In keinem anderen Film ist John Wayne so sehr John Wayne wie in diesem Epos über den Rinderkrieg in Lincoln County. Es ist eine simple Moral, die der Film über das Motto der Figur Henry Tunstall verbreitet: „Den Bösen geht’s gut, den Guten geht’s schlecht, doch am Ende siegt immer das Recht.“ Nur wer sich gut verhält, ist ein Guter. Wer sich schlecht für das Gute verhält, ist ein Schlechter. Das mag simpel sein, das mag nur für einen John-Wayne-Film tragen, aber es ist eine Moral, die dutzende Massenmörder von Robespierre über Stalin und Pol Pot bis hin zu Erich Honecker nicht verstanden haben. Hätten sie es verstanden, hätte es keine Guillotine, keine Säuberungen, keine Killing Fields und keine Mauer-Tote gegeben.

Ja, Herbert Grönemeyer hat sich menschenverachtend über Ungeimpfte geäußert. Wie so viele deutsche Intellektuelle, die mit „Kulturschaffende“ so viel treffender bezeichnet sind. Weil das nicht nach geistiger Leistung und Individualität klingt, sondern nach sich der Obrigkeit verpflichtenden Mitläufern, die ohne eigenes Zutun einer Herde hinterherlaufen – was nur deshalb nicht auffällt, weil sie vorneweg laufen. Ich will das nicht abtun. Ganz im Gegenteil. Es muss aufgearbeitet werden, was an Hetze gegen Ungeimpfte gelaufen ist. Was an staatlich organisierter Verfolgung Andersdenkender passieren konnte. In einem Land, das sich so wahnsinnig viel darauf einbildet, es habe so wahnsinnig viele Lehren aus der Zeit gezogen, als der Staat schon mal Andersdenkende organisiert verfolgt hat. In gleich zwei sehr deutschen Diktaturen.

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Und doch habe ich gestern das Radio aufgedreht, als Grönemeyer sang, dass sie Musik nur mag, wenn sie laut ist. Weil sie taub ist, aber die Bässe spüren kann. Eine Mitgröl-Hymne par excellence und zugleich ein herzergreifend schönes Stück voller menschlicher Empathie. Auf den Song will ich nicht verzichten. Und schon gar nicht auf „Jetzt oder nie“, den ich auf dem Walkman gehört habe, wenn ich durch mein enges, repressiv katholisches Dorf gestreift bin. „Jetzt oder nie – wascht Ihr doch eure Autos!“ Rebellion auf dem Kopfhörer. Was für eine schöne Erinnerung. Richard Wagner war ein ekelhafter, widerlicher Antisemit. Und trotzdem wollen noch heute Kanzlerinnen und führende „Führerinnen der freien Welt“ nicht auf seine Musik verzichten. Warum soll ich da auf „Jetzt oder nie“ verzichten? Auf „Keine Heimat“? „Luxus“? „Mensch“? Oder „Alkohol“?

Nun, Mario, die Verfolgung der Ungeimpften muss aufgearbeitet werden. Steh da nicht im Weg. Schreib über „Männer“ und „Frauen“ und Grönemeyers Blödsinn während der Pandemie. Los, Mario, kill your darlings! Aber ich will das nicht. Und es ist nicht mal Bequemlichkeit. Nicht der Wunsch, meine Darlings nicht aufgeben zu müssen. Es geht tiefer. Ich will so nicht sein. Wenn ich anfange aufzuhören, „Jetzt oder nie“ geil zu finden, weil Grönemeyer Dummes gesagt oder getan hat, dann bin ich einer von denen. Ich habe zehntausende Euro aufgegeben, weil ich so nicht sein will. Deswegen schreibe ich nicht über aus „Männer“ wird „Frauen“. Ich will nicht so sein wie die, nicht nach einem so langen Weg. Auch wenn es weh tut. Henry Tunstall hat recht: „Den Bösen geht’s gut, den Guten geht’s schlecht, doch am Ende siegt immer das Recht.“

Ich bin aber kein Guter, wenn ich mich verhalte wie die. Ich halte T-Online meist für keinen guten Journalismus. Das ist eine linke Bekenner-Plattform, aber trotzdem zitiere ich sie in meinen Texten. Übernehme gute Texte – ja, die gibt es – in Beiträgen in den sozialen Netzwerken. Nicht weil ich T-Online gut finde, sondern weil ich es schlecht finde und mich deshalb nicht so verhalten will wie die. Wenn sie Themen übernehmen, die TE exklusiv hatte, aber das nicht anzeigen. Weil sie sich dafür schämen. Weil sie nicht zugeben können, dass ihr Gottseibeiuns etwas Gutes hatte. Weil sie Widersprüche so schlecht aushalten wie ihr eigenes Spiegelbild. Deswegen zitiere ich T-Online, wenn es sich lohnt, T-Online zu zitieren. Auch wenn es mich maßlos ärgert, wenn sie unsere Themen abkupfern, ohne das zuzugeben. Aber da muss ich durch. Ich will ein Guter sein, also muss ich mich gut verhalten: „Den Bösen geht’s gut, den Guten geht’s schlecht, doch am Ende siegt immer das Recht.“

Ich will über Cancel Culture lachen können. Ich will jeden vorführen, der meint, ein Konzert boykottieren zu müssen, weil ein Sänger Dreadlocks trägt, aber nicht nachweisen kann, dass drei seiner vier Großeltern Jamaikaner waren. Das ist übrigens eine historische Anspielung, liebe Cancler. Einfach mal nachschlagen, wer das so ähnlich gehandhabt hat. Recherchetipp: Der Suchbegriff „Ariernachweis“ hilft weiter.

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Ich will die bemitleiden, die nicht eingestehen können, dass „Wenn ein Lied meine Lippen verlässt“ ein herzergreifend berührendes Lied ist. Denn das ist es. Auch wenn Xavier Naidoo manch Dummes geDampfplaudert hat in seinem Leben. Dass er das tut, wusste ich schon Jahrzehnte, bevor Polizisten Kinder von Rodelschlitten zerrten oder SPD-Oberbürgermeister, heutige Innenminister und Möchtegern-Ministerpräsidenten eine Maskenpflicht am Rhein verhängten. Aber das ist mir doch egal. So viele Songs von Naidoo sind so schön, dass ich über missglückte Interviews hinwegsehen kann, wie die Führerin der freien Welt über Wagners Antisemitismus hinwegsieht. Ich bin dagegen, ihn gesellschaftlich auszugrenzen, weil seine Meinung nicht mehr in die Parade der Kulturschaffenden passt.

Aber warum sollte ich dann Grönemeyer ausgrenzen wollen? Wäre ich dann nicht genau wie die Cancler, die kulturschaffende Herde – nur mit einer anderen Meinung? Und es gibt die erste Regel des Ausgrenzens: Wer einmal mit dem Ausgrenzen anfängt, hört nicht auf – er macht immer weiter und das immer schneller und umfassender. Das ist übrigens auch die zweite Regel des Ausgrenzens, die dritte, die vierte und die 27-ste. Nur die 326.755-ste Regel des Ausgrenzens lautet: Am Ende liegen da Tote rum und keiner will wissen, wie es passieren konnte. So wie keiner dabei gewesen sein will.

Wenn ich Herbert Grönemeyer ausgrenze, dann muss ich das auch mit Peter Maffay tun. Dann gibt es aber auch keine „Spuren einer Nacht“ mehr, keine „Die wilden Jahre“, keine „Revanche“ und keine „Wölfe“. Nein, ich möchte das nicht. Ja, Westernhagen hat sich wie ein linientreuer Kulturschaffender gegenüber denen verhalten, die in der Pandemie montags für die Freiheit eingetreten sind, jene Freiheit, die er so wunderschön besungen hat. Doch hat er auch gesungen, dass er sich frei fühlt „Hier in der Kneipe“. Dass er kein „Dicker“ sein möchte oder „Lass uns leben“. Auch wenn der Song die Hymne meiner größten Niederlage ist – aber das ist eine ganz andere Geschichte. Eine von so vielen Trilliarden Geschichten, die Kunst auslöst – die so viel weiter und tiefer reichen, als das irdische Erkenntnisvermögen ihrer Kunstschaffenden.

Deswegen möchte ich nicht über Grönemeyer und seine „Männer“-„Frauen“ schreiben. Viel lieber legte ich seinen woken Verehrern ans Herz, sich mal „Etwas Warmes“ anzutun. Aber das trägt keinen eigenen Text. Ich möchte „Jetzt oder nie“ hören und darüber stehen, was Grönemeyer an Dummem in seinem langen Leben gesagt hat. So wie ich drüber gestanden habe, dass Bob Dylan „Blowing in the Wind“ in einer Limbo-Version gespielt hat. Tolerant ist nur, wer sich tolerant verhält. Gut nur, wer sich gut verhält. Auch wenn’s wehtut: „Den Bösen geht’s gut, den Guten geht’s schlecht, doch am Ende siegt immer das Recht.“

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