2011. In einem westdeutschen Landtag. Vier Grüne pausieren in der Fraktionsküche. Ein Abgeordneter erzählt, dass er als Schüler auf dem Pausenhof oft gemobbt und verprügelt wurde. Zwei Mitarbeiter berichten, dass es ihnen auch so ging. Jede Klasse hat ihr Mobbingopfer, manchmal sind es auch zwei – ein Schnitt also von unter zehn Prozent. In der grünen Küche sind 75 Prozent vertreten. Nur eine Stichprobe. Keine soziologische Arbeit. Aber auffällig.
Die Grünen wurden 1980 gegründet. Sie folgten als Bewegung auf die hochfliegenden Ansprüche der Studenten von 1968 und auf das Scheitern ihrer verquasten Lebensansichten im Terror der RAF. Die Berliner Tunix-Konferenz von 1978 ist ihre eigentliche Geburtsstunde. Auf der beschloss die deutsche Linke, die Befreiung des Proletariats aufzugeben. Die Arbeiterschaft hatte der Linken im Terror der RAF klar gezeigt, dass sie sich Ruhe und bürgerlichen Wohlstand wünscht, statt linker Utopien, die in ausufernder Gewalt münden. Fortan wollte sich die deutsche Linke anderen Themen zuwenden: dem Klimaschutz – damals noch Umweltschutz genannt – und der Befreiung der kolonial Unterdrückten. Vielleicht würden die einem ja folgen.
Wenn an der Stelle von der deutschen Linken die Rede ist, ist die westdeutsche gemeint. Die ostdeutsche glaubte noch bis 1989, das Proletariat zu repräsentieren. Bis die Arbeiterschaft auch dieser linken, in Gewalt ausufernden Utopie den Rücken kehrte. Die hochfliegenden Pläne der 68er und das Scheitern im Terror waren also wichtige Ausgangspunkte für die innerparteilichen Debatten der jungen Partei.
Der Historiker Gerd Koenen hat in seinem viel beachteten Buch „Das rote Jahrzehnt“ wunderbar den Zusammenhang zwischen sexueller Attraktivität und dem Erfolg einer politischen Bewegung beschrieben. Die Theorie ist simpel, aber gerade deswegen so bestechend: Junge Männer gehen dorthin, wo junge Frauen sind – und umgekehrt. 1980 bis 1983 waren dies tatsächlich noch die Friedensdemos, die es schafften, über 100.000 Teilnehmer zu mobilisieren. Doch schon zwei Jahre später hatte sich der Zeitgeist komplett verändert. Er ist ein flüchtiger Verbündeter. Angesagt waren nun Modern Talking und wirtschaftlicher Erfolg.
Nun folgten Stagnation und die Jahre, in denen die Grünen zu dem wurden, was sie heute sind: die Partei der Pausenhofopfer; die einen Umweg zum Erfolg suchen, weil ihnen der direkte Weg versperrt ist. Zu den Grünen gingen junge Männer nun nicht mehr, weil es dort junge Frauen gab, sondern obwohl es keine jungen Frauen gab. Das war für sie kein großes Ding. Sie waren auch samstagabends auf keine Partys eingeladen und mussten schon da nach Ersatz suchen. Die Partei stagnierte. Es dauerte bis 2009, bis sie ein zweistelliges Ergebnis in einer Bundestagswahl erreichte. 1990 wäre sie sogar aus dem Bundestag geflogen, wenn Besonderheiten der Wiedervereinigung sie nicht gerettet hätten.
Das war kein Verlust. Die Partei streifte nicht nur das Moder-Image des Parkas ab. Sie verlor auch den harten Kern der Fundis. Jener Gruppe, die weder zu Kompromissen noch zu Frustrationstoleranz in der Lage war. Fundis sind die Altstudenten, die es in fast jeder WG gibt. Mit schmuddeligem Haar sitzen sie auf WG-Partys, halten sich die Füße, murmeln vor sich hin und verschwinden in ihr Zimmer, wenn der Diskurs weg von Marx und hin zu Musiala kommt. Ohne diese wurde die Partei stärker.
Die Grünen wurden im neuen Jahrtausend pragmatischer. Erst hatten sie noch unter den Folgen des unglücklichen Auftritts in der Regierungsbeteiligung zu leiden. Doch eine neue Generation machte sich auf den Weg. Das ist nicht der „Marsch durch die Institutionen“, der heute so gerne als Begründung für den grünen Erfolg genommen wird. Der begann 1978 auf der Tunix-Konferenz. Wer sich damals als Student auf den Marsch begab, ist heute mindestens 65 Jahre alt. Der Marsch ist ein Mythos: Der Nachwuchs der Grünen ist im mittleren und oberen Bürgertum geboren. Der musste nicht durch die Institutionen marschieren – der wurde hineingeboren.
Einen entscheidenden Durchbruch forcierte Katrin Göring-Eckardt: Die damalige Fraktionsvorsitzende im Bundestag öffnete die Partei für Koalitionen mit der Union. Die gab es vorher nur im Saarland, einem Landesverband, der bei den Grünen aus guten Gründen als Paria-Verband gilt. Außerdem gab Göring-Eckardt Koalitionen mit den Linken endgültig ihren Segen und beendete so einen Kampf, den die CDU zwei Jahrzehnte nach der Einheit letztlich vergeblich gekämpft hatte.
Durch diesen Zug waren die Grünen nun in einer strategisch hervorragenden Situation: Sie hatten die alte Rolle der FDP geerbt. Die Rolle des Züngleins an der Waage. Die Mitglieder aller anderen Parteien – die AfD stand da erst am Anfang – mussten es sich mit den Grünen gut halten. Denn die konnten eines Tages zum Koalitionspartner werden und daher in Sachen eigener Karriere ein Wörtchen mitreden. Dazu kam, dass die Grünen nie eine linke Partei der Arbeiterschaft waren. Genauso wenig, wie linke Journalisten sich noch um das Proletariat kümmern. In der Folge wurden die Medien immer grüner und somit zu einem wichtigen Verbündeten der Partei.
Spätestens 2019 begannen die Grünen vom Koenen-Effekt zu profitieren. Greta Thunberg sei Dank waren sie nun die politische Bewegung, zu der junge Männer gingen, um junge Frauen zu treffen – und umgekehrt. Auf den Klimademos musstest du als 16-Jähriger sein. Um mitreden zu können oder um an die Handynummer der süßen Kleinen mit den braunen Haaren zu kommen. Jetzt schossen die Umfragewerte der Grünen in die Höhe. Die erste grüne Kanzlerschaft schien 2021 nicht mehr nur möglich, sondern schon sicher zu sein.
Das klappte bekanntlich nicht. Was Annalena Baerbock politisch und in der PR alles falsch gemacht hat, ist schon oft genug beschrieben worden und gilt als bekannt. Doch es änderte sich auch gesellschaftlich etwas. Für 50-Jährige waren die Lockdowns schlimm. Sie mussten das, was ihr Leben ausmachte, um Jahre verschieben. Doch die meisten konnten das mit Lebenserfahrung im Rücken managen.
Eine Partei entwickelt sich in Wellen. Die Mitgliedschaft schält sich immer wieder. Deswegen gibt es nicht den Grünen. Aber es gibt Archetypen von Grünen: Die ökologisch überzeugte 70-Jährige, die der Partei immer die Treue hielt – auch, weil sie im Gegenzug dafür jahrzehntelang ein gut bezahltes Mandat erhielt. Der 24-jährige Hipster, der in den Klimastreiks zu den Grünen fand und jetzt hängengeblieben ist. Der 35-jährige Studienabbrecher, der als „wissenschaftlicher Mitarbeiter“ mehr Geld erhält als ein Elektriker-Geselle. Oder eben der ehemalige Abgeordnete in der Mitte seiner 50er, an dessen politischer Karriere am Anfang das Mobbing auf dem Pausenhof stand.
In der Summe machen sie die Partei aus. Unterschiedlich sind sie, doch es gibt Bindelinien: das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, obwohl das nicht stimmt. Das Wissen darum, dass sie eine starke Organisation hinter sich brauchen – NGO, Partei oder Staat – weil sie es allein nicht schaffen. Oder der Glaube, keine Meinung zu vertreten, sondern Wahrheiten, weil die Grünen als einzige Partei im Besitz dieser seien. Wobei auch das letztlich nicht mehr als geborgtes Selbstvertrauen ist. Eine gefakte Identität.
Der aktuelle Gegenwind stellt diese Bindelinien in Frage: Warum sollte man sich weiter selbstlos engagieren, wenn dabei kein gut bezahltes Mandat mehr herausspringt? Warum sollte man Schutz in einer Organisation suchen, die den offenbar doch nicht so wirklich bieten kann? Warum sollte man als Studienabbrecher Grüner sein, wenn man dann neben seinem „Engagement“ noch Taxi fahren oder Bürgergeld beziehen muss, um seine Miete zu zahlen?
Am härtesten aber trifft die Grünen, dass ihr Anspruch auf die Wahrheitsvertretung nun in Frage steht. Ein Jahrzehnt lang haben Medien ihnen suggeriert, dass sie diesen hätten. Die blinde Begeisterung von Journalisten für die Grünen geht sogar soweit, dass ZDF-Journalisten im Angesicht von 4,1 Prozent und einem Rausflug aus dem Landtag immer noch von einem „Sieg auf ganzer Linie“ sprechen. Nun widersprechen immer mehr Bürger den Grünen und ihren Journalisten. Mehr als ein Drittel sagt bei Umfragen, dass die Grünen die Partei sind, die sie auf keinen Fall wählen würden – und ein Teil von ihnen hält sie sogar für gefährlich.
2014 hat Göring-Eckardt die Grünen strategisch neu ausgerichtet – und das genial. Inhaltlich gelang ihr das nicht. Sie veranstaltete einen Freiheitskongress, der zum großen Flop wurde – eben, weil die Grünen alles andere als freiheitlich sind. Sie denken totalitär, aber noch sind ihre Mittel zur Umsetzung begrenzt. Wer mal Würstchen in einer Fraktionsküche gegessen hat, kennt den totalitären Zug der Grünen. Wer mal mit einer Flasche der Marke Coca Cola über einen grünen Parteitag gegangen ist, erfährt den großen Wunsch, der die Grünen antreibt: andere belehren und fremdbestimmen zu können. Nichts fehlt dann: vom Zuckergehalt der Brause bis hin zu den politischen Verstrickungen des Konzerns aus Atlanta.
Wer im Glauben an die eigene Unfehlbarkeit war, dem muss jede Strategie für den Fall fehlen, wenn sich diese Unfehlbarkeit als Irrtum erweist. Das erklärt die Hilflosigkeit der Grünen, die derzeit gerne totalitär reagieren würden, deren Mittel dazu aber noch limitiert sind. Mimosen, die sich hinter Organisationen versteckt haben. Etappenkrieger, die nun erfahren müssen, wie die Front auf sie zurückt.
Der besagte Abgeordnete vom Beginn der Geschichte hat übrigens Karriere in einem anderen Bundesland gemacht. Doch dann wurde das ehemalige Pausenhofopfer geschasst. Er hatte einen Politiker kritisiert, der mächtiger war als er – und als Frau in der Opferpyramide der Grünen über ihm stand. Nun verbringt er seine Zeit damit, auf X politische Gegner hart zu attackieren. Mut. Attacken. Gedeckt durch üppige staatliche Bezüge und aus der Sicherheit des Internets heraus. Ein Gratismut-Krieger. Besser lassen sich Grünen nicht beschreiben. So vielfältig sie sind, ist der Gratismut ihr gemeinsamer Nenner.