Tichys Einblick
Kampf Mensch gegen Maschine

Warum die Demokratie verblasst

Wenn EU-Funktionäre „Demokratie-Defizite” in Mitgliedsstaaten beklagen und Konservative der EU vorwerfen, undemokratisch zu sein, dann steht zu befürchten, dass der Begriff seine Bedeutung verloren hat. Brauchen wir überhaupt Demokratie – und wenn ja, warum?

picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Das Ringen zwischen „Föderalisten“ und „Souveränisten“ in der EU kann auch als Ringen um die Zukunft der Demokratie verstanden werden. Beide Seiten beschuldigen einander, undemokratisch zu sein. 2022 verstieg sich das EU-Parlament gar zu einer Resolution, wonach Ungarn keine „vollwertige Demokratie“ mehr sei. Der relativen Mehrheit der Abgeordneten zufolge hat die Regierungspartei alle relevanten Schaltstellen der Macht besetzt, und kann Medien, Wirtschaft, Justiz – kurzum: die ganze Gesellschaft – nach Belieben beeinflussen. Im Fachjargon nennt man das „state capture“. Ein weniger polemischer Begriff wäre „Zentralisierung der Macht“.

Genau das werfen Souveränisten der EU vor: die schleichende Übertragung von immer mehr Kompetenzbereichen der Mitgliedsstaaten an EU-Institutionen, die Einführung von immer mehr Regeln, um unwillkommene Inhalte aus den sozialen Medien heraus zu filtern, immer mehr Bedingungen, die Mitgliedsstaaten erfüllen müssen, um nicht mit Bußgeldern belegt oder mit dem Entzug von EU-Geldern bestraft zu werden.

Bürger können in ihren Ländern immer noch wählen gehen, um eine eigene Regierung zu haben – aber ihre Stimmen sind immer weniger wert, da der Spielraum der nationalen Regierungen von Jahr zu Jahr geringer wird, den Wählerwillen auch implementieren zu können.

Zentralisierung der Macht auf der nationalen Ebene, oder Zentralisierung der Macht auf der supranationalen Ebene: Es sind zwei verschiedene Ansätze, um in einer globalisierten Welt die politischen Entscheidungsprozesse schlanker und wettbewerbsfähiger zu machen.

Derweil hat das EU-Parlament aufgehört, überhaupt noch die Wähler zu repräsentieren, behauptete Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán in seiner Rede vom 27. Juli im siebenbürgischen Bad Tuschnad (ungarisch Tusnádfürő, rumänisch Baile Tusnad). Die Abgeordneten wollen das nicht einmal, sagte er. Ihm zufolge verachten die Politiker das Wahlvolk, oder zumindest einen Großteil der Wählerschaft.

Da es Orbán ist, werden das im offiziösen Deutschland wenige glauben. Aber der klassische englische Liberale Konstantin Kisin sagte dasselbe, in einem Podiumsgespräch mit mir am 3. August in Esztergom: Politiker haben aufgehört, das zu repräsentieren, was Wähler wollen. Man könnte es auch so paraphrasieren: Die repräsentative Demokratie siecht dahin. Der Schein wird gewahrt, aber das Wesentliche fehlt.

Eine Illustration: Bei den EU-Wahlen warb die nominell konservative Europäische Volkspartei (EVP) mit konservativen Inhalten (zum Beispiel strenge Migrationspolitik). Aber ihre so erhaltenen Stimmen konservativer Wähler trug sie zur linken Seite des politischen Spektrums, indem sie ein Bündnis einging mit Grünen, Sozialdemokraten und Liberalen. In diesem Sinne waren die EVP-Politiker also nicht gewillt, die Wünsche ihrer Wähler zu repräsentieren.

Als Teil dieses Manövers wurde die neue, konservative Parlamentsfraktion „Patrioten für Europa” daran gehindert – entgegen den eigenen Regeln des Europaparlaments –, die ihnen formal zustehenden Schlüsselpositionen in diversen Kommissionen zu besetzen. Die Abgeordneten warfen also ihr eigenes demokratisches Regelwerk aus dem Fenster, und verwehrten es der „Patrioten”-Fraktion, ihre Wähler wirksam repräsentieren zu können.

Bei den jüngsten französischen Parlamentswahlen kooperierten alle Parteien jenseits des konservativen Rassemblement National (RN), um diese Partei daran zu hindern, ihren gesellschaftlichen Rückhalt angemessen in Parlamentssitze zu verwandeln. Sie stimmten sich ab, um in den allermeisten Wahlkreisen nur jeweils einen Kandidaten gegen den des RN ins Rennen zu führen. Im Endergebnis bekam die linke „Neue Volksfront“ nur ein Viertel der Stimmen, aber 30 Prozent der Parlamentssitze (180 von 577). RN kam auf 37 Prozent, aber nur 140 Parlamentssitze. Die RN-Wähler sind im neuen Parlament also unterrepräsentiert.

Warum um alles in der Welt wollen EU-Funktionäre und viele Politiker gar nicht, dass Wähler fair repräsentiert werden? Eine Erklärung kann ihr sozialer Hintergrund sein – die meisten von ihnen sind Akademiker, die mit vielen konservativen, oft weniger gebildeten Wählern wenig gemein haben. Der Anteil von Akademikern in der Bevölkerung stieg seit 1960 von weniger als 10 auf mehr als 40 Prozent. Klar, dass das auch ideologische Konsequenzen hat.

Aber vielleicht liegen die Gründe tiefer. Vielleicht verwandelt sich die Demokratie vor unseren Augen in etwas, was nur noch wenig gemein hat mit dem, was wir an Schulen und Universitäten lernen. Das Wort ist noch da, aber wird zunehmend zum leeren Schlagwort, mit dem die Entrechtung weiter Teile der Bevölkerung kaschiert wird.

Was uns an Schulen und Universitäten beigebracht wird ist, dass wirtschaftliche und politische Systeme im Laufe der Geschichte kamen und gingen, indem ökonomische Umwälzungen zu Anpassungen der Machtstrukturen führten. Insbesondere lernen wir, dass die Demokratie als Folge des Kapitalismus entstand. Eine neue, einflussreiche wirtschaftliche Elite entstand – die Bourgeoisie –, die auch in der Politik mitreden wollte. Anfängliche Ungleichgewichte wurden später korrigiert, als das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, infolgedessen Wohlstand durch Steuern auch zu den ärmeren Schichten der Gesellschaft umgeleitet wurde. Die bestanden jetzt aus Wählern und hatten dadurch politischen Einfluss. Das stärkte den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Seither ist es das, was wir Demokratie nennen. Sie entstand, nebenbei gesagt, Hand in Hand mit dem Aufstieg des modernen Nationalstaates. Kapitalismus, Nationalstaat, Demokratie: Diese Dinge entstanden zusammen. Werden sie zusammen wieder verschwinden?

Rational betrachtet, erfüllt die Demokratie bestimmte wünschenswerte Funktionen. Sie ermöglicht unblutigen Machtwechsel, ohne Bürgerkriege und Revolutionen. Die Demokratie ist ein Mechanismus, über den wichtige gesellschaftliche Probleme artikuliert werden können, indem Wähler für Parteien stimmen, die diese Probleme aufgreifen. Wir haben die Demokratie nicht, weil sie so schön ist, sondern weil sie funktioniert.

Aber das ist nicht der Ton, in dem wir heute über Demokratie reden. Wir reden über sie, als wäre sie eine Religion. Wähler und Parteien, die echte, legitime Themen ansprechen, und damit ihre demokratische Funktion erfüllen, relevante Probleme zu artikulieren – Migration, steigende Krinimalität, übergriffiger Staat –, werden wie Häretiker im Mittelalter an den Pranger gestellt und verteufelt: Sie seien „undemokratisch“.

Der Demokratiebegriff wird heute nicht mehr praktisch-analytisch benutzt, sondern als ideologische Keule. Auf diese manipulative Weise wird das Wort seines Inhaltes entleert, von wirtschaftlichen, politischen und medialen Eliten verwendet, die damit den demokratischen Prozess selbst delegitimieren wollen – die Veränderung der Parteienlandschaft als Folge wechselnder Probleme in der Gesellschaft –, wenn und falls dieser Prozess ihre Machtstellung bedroht, den Status quo.

Kann es sein, dass die tatsächliche Demokratie weniger praktisch und funktional geworden ist, nicht mehr die Essenz des Westens – sondern dass sie allmählich zum Hindernis wird für jene Eliten, die die moderne, globalisierte Welt managen?

In seinem einflussreichen Buch „21 Thesen für das 21. Jahrhundert“ (Random House, 2018) warnt Yuval Noah Harari, dass wir vor einer wirtschaftlichen Transformation stehen, die die Demokratie funktional gesehen überflüssig machen könnte. Er argumentiert, dass das demokratische Modell bisher besser funktionierte als autokratische Systeme, weil Menschen Probleme effizienter lösen, wenn sie die Verarbeitung von Informationen dezentalisieren – mehr Beteiligte, mehr Leistung. Diktaturen, in denen nur wenige Mächtige alle wesentlichen Entscheidungen treffen, scheiterten deswegen, weil sie weniger fähig seien, Informationen effizient zu verarbeiten.

Aber im digitalen Zeitalter, schreibt Harari, werden zentralisiertere Machtmodelle dank dem Aufstieg künstlicher Intelligenz effizienter – effizienter als demokratische Machtstrukturen. Wenn künftig künstliche Intelligenz Probleme besser löst als Menschen, warnt Harari, dann könnte ein großer Teil der Bevölkerung „nutzlos“ und die Aufgabe, die Gesellschaft zu organisieren, von Algorithmen übernommen werden. Er mag diese Vorstellung nicht und gibt Ratschläge, wie das vermieden werden könnte.

Das ist seine düstere Prophezeiung. Aber noch sind wir nicht da: In der Gegenwart, so Harari, sind „Menschen mit Computern“ effizienter als „Menschen ohne Computer“ und vorerst auch effizienter als „Computer ohne Menschen“. Teamarbeit also zwischen Mensch und Maschine, bis der Mensch irgendwann überflüssig wird.

Menschen mit Computern: Von computergesteuertem Börsenhandel bis hin zu multinationalen Wertschöpfungsketten klingt das wie ein Synonym für Globalisierung und den Aufstieg globaler Eliten. Die Art von Leuten, die die EU gern managen würden wie einen großen Konzern. Gern behalten sie das Wort „Demokratie“ als Aushängeschild, während sie die Welt digital steuern.

Kein Wunder, dass die „Konferenz über die Zukunft Europas“ (2020-2021) aus Diskussionen von Bürgerforen bestand, deren Mitglieder über Algorithmen ausgesucht worden waren. Kein Wunder, dass deren Empfehlungen unter anderem die Einführung von „Bürgerräten“ enthielten, um die Politik zu inspirieren – auch sie ausgewählt über Algorithmen. Nichts davon wurde umgesetzt, aber man darf davon ausgehen, dass solche Ideen wiederkommen. Wie auch die Idee transnationaler Listen bei Europawahlen, womit das Band zwischen Wählern und ihren Ländern zerschnitten würde.

In diesem Sinne ist das „populistische“ Aufbäumen überall in Europa im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf zwischen Mensch und Maschine – ein Ringen um Freiheit und Menschenwürde.

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