Tichys Einblick
Mensch vor Raubtier

Warum der Wolf nicht zu Deutschland gehört

Bis zu 2.500 Wölfe streifen derzeit durch die Bundesrepublik, Tendenz ständig steigend. Selbsternannte Naturschützer jubeln, Landwirte fürchten um ihre Existenz und fluchen. Zurecht: In unserem dicht besiedelten Land haben große Raubtiere keinen Platz. Eine Streitschrift.

IMAGO

Märchen transportieren Lehren fürs Leben. Eine im Wortsinn überlebenswichtige Lektion lautet seit vielen hundert Jahren: Gebt Acht vor dem Wolf.
„Rotkäppchen und der Wolf“ oder „Der Wolf und die sieben Geißlein“ von den Gebrüdern Grimm, „Die drei kleinen Schweinchen“ von Joseph Jacobs, „Peter und der Wolf“ von Sergei Prokofjew – es ist kein Zufall, dass hier überall vor dem Archetypus des gefährlichen Wolfs gewarnt wird.

Den bösen Wolf gibt es freilich nur im Märchen. Der Wolf ist nicht böse. Er ist auch nicht gut. Er ist einfach, was er ist: ein großes Raubtier, ein Fleischfresser, ein Jäger. Er ernährt sich von anderem Leben. Er tötet, um selbst zu überleben.

Das tun Katzen und Krähen auch – die übrigens beide inzwischen mindestens ebenso viel zum Aussterben seltener Vogelarten beitragen wie der Mensch. Aber der Wolf jagt halt keine kleinen Singvögel. Er ist groß. Der handelsübliche städtische Tierfreund hat normalerweise keine Ahnung, wie groß: bis zu 90 cm Schulterhöhe, bis zu 160 cm Länge (ohne Schwanz), bis zu 65 kg schwer (in Mitteleuropa, in Amerika mehr). Damit ist der Wolf mindestens 50 Prozent größer und schwerer als ein ausgewachsener Schäferhund.

Canis lupus ist kein friedliches Streicheltier. Er ist eben nicht einfach nur ein größerer Hund, genau wie ein Tiger eben nicht einfach nur eine größere Katze ist. Deshalb ist der Wolf seit tausend Jahren eine Gefahr für den Menschen, vor allem für den Bauern.

Das ist jetzt wieder so.

Inzwischen können deutsche Landwirte nachts zum Einschlafen tote Schäfchen zählen. Mindestens 4.500 Nutztiere sind im Jahr 2023 von Wölfen gerissen worden: Schafe und Ziegen, Rinder und Pferde. Für 2024 liegen die Zahlen noch nicht vor, doch es geht ohne Zweifel so weiter.

Es trifft nicht die Massentierhaltung in ihren zugemauerten Zuchtfabriken. Es trifft die Kleinbauern, die – oft als Bio-Landwirte – ihr Vieh artgerecht auf der Weide halten. Das sind Menschen, die mehr als nur eine kommerzielle Verbindung zu ihren Tieren haben. Sie sind bei der Geburt dabei und helfen bei der Aufzucht, nicht selten nächtelang mit dem Babymilchfläschchen.

Natürlich ist das Vieh ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage, aber gerade deshalb kümmern sie sich sorgfältig darum: an sieben Tagen in der Woche und zu Uhrzeiten, zu denen der tierliebe Großstadtmensch sich von seiner leicht übergewichtigen Schmusekatze verabschiedet und in den Club geht (spät abends) oder vom Feiern nach Hause kommt (früh morgens).

Der Landbewohner steht bei Sonnenaufgang auf, schaut als erstes nach seinen Tieren – und sieht dann das:

So etwas passiert mittlerweile quasi täglich irgendwo in Deutschland. Im Jahr 2023 sind 610.000 Euro an Entschädigungen für von Wölfen gerissene Tiere an die Bauern geflossen. Doch dadurch bekommt der Landwirt auch nicht die Bilder aus dem Kopf, wenn er morgens völlig unerwartet seine Schafe tot oder – vielleicht noch schlimmer – halbtot auffindet.

Die Wolfsromantik hat dazu geführt, dass in einigen Teilen Deutschlands inzwischen der Landwirt die am stärksten gefährdete Spezies ist.

Kein Wunder, dass die Rufe nach einer Bejagung des Wolfs in Deutschland immer lauter werden. Die Gegner führen vor allem den Tierschutz als Argument an. Da stellt sich schon die Frage: Wie ist das mit dem Tierschutz für zerfleischte Ponys?

„Herdenschutz“ heißt es dann. Das ist mittlerweile das Zauberwort, um die Wiederansiedlung des Wolfes bei uns zu rechtfertigen und um praktisch jede Forderung nach einem Abschuss wegzudrücken. Dank Elektrozäunen und besonders ausgebildeten Herdenschutzhunden seien die landwirtschaftlichen Nutztiere vor den Raubtieren sicher, heißt es.

Ja, wenn es so einfach wäre.

Es geht nicht nur ums Geld, obwohl das ein wichtiger Punkt ist. Im Jahr 2023 sind bundesweit rund 21 Millionen Euro an Steuergeldern für den Herdenschutz ausgegeben worden – zusätzlich zu den riesigen Investitionen, die von den Bauern selbst kommen.

Hochspannungszäune bauen sich nicht über Nacht. Und wir wären nicht in Deutschland, wenn es dafür nicht unzählige kleinteilige Vorschriften gäbe. Beispiel Sachsen: Als Mindestschutz ist dort ein 90 Zentimeter hohes Weidenetz definiert. Oder ein Litzenzaun, auf dem Strom anliegt. Oder ein 1,20 Meter hoher Festzaun. Der Zaun muss bis zum Boden reichen, damit der Wolf sich nicht unten durchgräbt. Ferner dürfen weder das Gelände selbst noch aufgestellte Wassertränken eine sogenannte „Einsprunghilfe“ bieten.

Bei diesen Vorgaben ist es keine große Überraschung, dass vorschriftsmäßige Herdenschutzzäune gar nicht überall gebaut werden können – Almen oder Deichgebiete etwa fallen aus.

Vor allem aber ist am Ende kein Zaun wirklich wolfssicher. Denn Isegrim lernt, und er lernt schnell. Die behördliche „Fachstelle Wolf“ in der Oberlausitz bestätigt, dass mehrere Tiere die Fähigkeit entwickelt haben, auch Hochspannungszäune springend und kletternd zu überwinden.

Die Herdenschutzhunde sind ein besonders trauriges und sehr deutsches Thema.

Im Oberbergischen Land, in dem eine nordrhein-westfälische Bäuerin auf ihrem Hof Tiere züchtet, sind mittlerweile so viele Wölfe eingewandert, dass der Landstrich offiziell als Wolfsgebiet ausgewiesen wurde. Die Bedrohung für die 46 Nutztiere der Nebenerwerbslandwirtin ist evident und akut. Die Frau hat dann vorschriftsgemäß viel Geld in Elektrozäune und in sieben Herdenschutzhunde investiert. Letztere haben manchmal, artgerecht und nicht wirklich verwunderlich, gebellt.

Das allerdings hat einem Nachbarn nicht gefallen. Man kennt diese Sorte: gebürtige Städter, wohlhabend geworden, die nicht selten aus Statusgründen aufs Land ziehen – von dem sie eine bestenfalls naive, meist aber völlig wirklichkeitsfremde Vorstellung haben. Am neuen Wohnort angekommen, klagen sie dann gegen alles, was das Land zum Land macht: läutende Kirchenglocken, riechende Gülledünger – oder eben bellende Hunde.

In der Stadt finden sie meist noch gleichgesinnte Richter, in unserem Fall beim Oberverwaltungsgericht Münster. Das ist auf die Idee gekommen, den Herdenschutzhunden Ruhezeiten zu verordnen: Mittags und nachts dürfen sie nicht mehr draußen die Herde schützen, sondern müssen irgendwo drinnen eingesperrt werden. Im Einzelfall gilt das auch außerhalb der Ruhezeiten, nämlich „bei unzumutbarem Gebell“ (Az. 8 B 833/23).

Das Interesse des Nachbarn an einem Landleben ohne Hundegebell sei wichtiger als das Interesse der Landwirtin, ihre Nutztiere zu schützen, fanden die Richter. Wölfe sind im Wesentlichen dämmerungs- und nachtaktiv: Sie jagen also genau zu den Zeiten, in denen die Herdenschutzhunde jetzt grundsätzlich wegsperrt werden müssen.

Deutschland ist das einzige Land, in dem die Wölfe nicht heulen, sondern Tränen lachen.

Herdenschutz ist eine Schimäre. In Wahrheit geht es um etwas anderes. Der Wolf ist zum Symbol eines echten Kulturkampfs geworden. Für seine Fans ist er kein Raubtier, sondern Ausdruck einer vermeintlichen Rückbesinnung zu dem, was sie sich unter „Natur“ vorstellen. Deshalb muss er geschützt werden – nahezu um jeden Preis.

Das führt zu absurden Ergebnissen. Denn der liebe Wolf reißt halt nicht nur landwirtschaftliche Nutztiere – sondern auch gefährdete Wildtiere, die geschützt sind und deren Bestand bei uns in Naturschutzprojekten mit erheblichem Aufwand mühsam stabil gehalten wird:

Je mehr Argumente die Wirklichkeit gegen den Wolf liefert, desto hartleibiger werden seine Verteidiger. Ausfälle gegen Landwirte mehren sich. Manche Tierhalter seien halt „zu blöd zum Herdenschutz“, war von einem Vertreter des Freistaats Sachsen jüngst auf einer Veranstaltung zu hören. Das ist eine Ohrfeige für jeden Schafzüchter, der von seinen Tieren lebt und deshalb auch entsprechend in deren Schutz investiert hat.

Mittlerweile sägen nicht wenige Wolfsschützer auch recht massiv an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit. Kurz vor dem Jahreswechsel wurde in der hessischen Gemeinde Driedorf ein Wolfsrudel gesichtet – das es nach offiziellen Angaben gar nicht gibt.

Die sächsische „Fachstelle Wolf“ bestätigte zuletzt, dass im Vogtland zwei Kälber durch Wolfsriss getötet wurden. Angeblich habe es sich um ein einzelnes Tier gehandelt. In der Umgebung seien keine sesshaften Rudel bekannt. Jagdprofis halten das für abwegig: „Kein Wolf frisst 40 Kilo Fleisch in einer Nacht.“

Dieselbe „Fachstelle Wolf“ beziffert den weltweiten Wolfsbestand auf 170.000 Tiere. Neutrale Zoologen gehen dagegen von bis zu 250.000 Tieren aus. Das seit drei Jahren wieder grün geführte Bundesumweltministerium zählt aktuell in Deutschland 1.600 Wölfe. Der Deutsche Bauernverband hält die amtliche Erfassung für lückenhaft und geht von 2.500 Tieren aus.

Da könnte einem schon der Gedanke kommen, dass die Wolfsfans die Population ihres Lieblingstiers absichtlich etwas herunterrechnen.

So oder so sind Wölfe nicht ansatzweise gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Entsprechend nüchtern geht man mit ihnen außerhalb Deutschlands um – in Ländern, die nicht so sehr zu weltanschaulicher Hysterie neigen.

Frankreich – 80 Prozent mehr Fläche als Deutschland, 20 Prozent weniger Einwohner – will im kommenden Jahr jeden fünften seiner knapp 1.000 Wölfe abschießen.

Norwegen und Schweden sind zusammen ein riesiges Gebiet mit sehr kleiner Bevölkerung. Auf ca. 775.000 km2 leben insgesamt nur etwa 16 Millionen Menschen – und etwa 500 Wölfe. Beide Länder zusammen wollen den Bestand auf 300 Tiere verringern.

Deutschland ist sehr viel kleiner und hat eine viel größere Bevölkerung: Auf ca. 355.000 km2 leben bei uns gut 84 Millionen Menschen – aber bis zu 2.500 Wölfe (siehe oben). Und doch wollen wir den Bestand immer noch weiter erhöhen.

Außer den Zwergstaaten Malta, Liechtenstein und Luxemburg sind in der EU nur noch Belgien und die Niederlande dichter besiedelt als Deutschland. Polen hat nur etwa halb so viele Einwohner pro Quadratkilometer. Trotzdem wollen wir, im viertgrößten Industriestaat der Welt und in einem der am dichtesten besiedelten Länder des Kontinents, überall den Wolf hinlassen.

Warum?

Der Wolfswahn entspringt einem naiven Naturverständnis, das Menschen als Störfaktor ansieht. Diesen schrägen Blick auf unsere Welt haben fast immer nur Leute, die eine Tanne nicht von einer Fichte unterscheiden können und eine Lärche nicht von einer Lerche.

Wenn man irgendwo in Deutschland aus dem Fenster schaut, dann sieht man niemals unberührte Natur. Man sieht Kulturlandschaft, von Menschen geformt. Das gesamte Gebiet der Bundesrepublik ist, wie es ist, weil Menschen es über Jahrhunderte bearbeitet haben: beackert, bewirtschaftet, bebaut.

Deutschland ist kein Urwald, sondern vom Menschen geprägt.

Der Wolf war hier auch mal zuhause. Aber überall in der Schöpfung konkurrieren Lebewesen um Ressourcen. Auch Fläche ist eine Ressource. Und auf dem Gebiet der Bundesrepublik ist für den Menschen und den Wolf gleichzeitig kein Platz. Natürlich hat der Mensch hier Vorrang – es sei denn, wir wollen die Weidehaltung aufgeben und nicht mehr angstfrei im Wald spazieren gehen.

Das sieht nicht jeder so. Die Bevorzugung des Wolfs bedeutet dann aber zwangsläufig die Benachteiligung des Menschen. Hinter der so laut propagierten Wertschätzung für eine andere Spezies verbirgt sich also in Wahrheit eine heimliche Geringschätzung für die eigene.

Das zeigt sich überall dort, wo nicht nur die Schäden in der Landwirtschaft, sondern sogar die Gefährdungen für den Menschen kleingeredet werden. Doch es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wir nicht nur immer mehr Wölfe haben, sondern dass sie uns auch immer näherkommen (zum Beispiel hier und hier und hier).

Dass Wölfe auch Menschen direkt gefährlich werden können, ist kein Märchen. Es passiert nicht oft, aber es passiert. Zwischen 2002 und 2020 sind in Europa und Nordamerika insgesamt 14 Angriffe von Wölfen auf Menschen dokumentiert. Zwei Fälle endeten tödlich.

Wollen wir wirklich im Namen des Artenschutzes nicht nur getötete Nutztiere, sondern womöglich auch getötete Menschen in Kauf nehmen?

Wölfe – wie alle Geschöpfe Gottes – sind großartige Tiere. Es lohnt sich, für ihr gesichertes Überleben zu arbeiten. Das tut man sinnvollerweise in den Karpaten, auf dem Balkan, in der nordosteuropäischen Taiga und ähnlichen Gebieten: in den großen, dünn besiedelten Regionen des Kontinents.

Aber nicht in Deutschland.

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