Tichys Einblick
Transbayer

Warum der Bayernhass keine Magengeschwüre verhindert

Leute, die sich von Trachten getriggert fühlen, regieren morgen möglicherweise in Berlin. Die Mentalitätsfestung im Süden knacken sie trotzdem nicht. Ihr Ressentiment schadet ihnen mehr, als die Südstaatler sich umgekehrt an ihrer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit stören

Trachtenkapelle in Oberbayern

IMAGO / Zoonar

In meinem früheren Leben als Redakteur gehörte ein leitender Redakteur zu meinen Vorgesetzten (ein Wort aus tiefer Vergangenheit übrigens), der sagte, er könne Leute, die Tracht tragen, generell nicht leiden. Solche grundsätzlichen Empfindungen stehen jedem frei. Auch leitenden Mitarbeitern von Medien aus Berlin Mitte. Es handelt sich um Geschmacksurteile.

Allerdings stehen nicht alle Vorlieben und Ablehnungen dieser Art auf der gleichen Ebene. Wer beispielsweise als Medienmitarbeiter sagen würde, er könnte generell keine Kopftuch- oder Rastalockenträger ausstehen, der bekäme gerade bei leitenden Berliner Redakteuren der oben beschriebenen Sorte keinen Fuß mehr auf den Boden. Was mich angeht, komme ich sowohl mit dem Anblick von Rastalocken als auch von bayerischer Tracht gut zurecht. Letztere trage ich sogar ab und zu selbst. Es gibt gelegentliche Trachtenträger, etliche Leute, die neutral zu dem Thema stehen, und ausgeprägte Verächtlichmacher von Tracht – zumindest einer ganz bestimmten. Es sind die gleichen, die auch das Oktoberfest gern endgültig delegitimieren würden.

Als die Staats- und Regierungschefs zum G-7-Treffen in München einflogen, standen Vertreter des indigenen Gastgebervolkes in Trachten Spalier. Das führte zu einem Entrüstungssturm unter einigen Dutzend Nachwuchspolitikern von SPD und Grünen. Nun kann jemand wie so oft einwenden, es würde sich ja um wenige einzelne Abgehängte aus Berlin handeln, der Hauptstadt der Abwärtsbewegung, oder ähnlichen Sprengeln der Hoffnungslosigkeit. Andererseits lässt sich an ihrer getriggerten Wut mehrerlei ablesen. Zum einen, welche Ansichten und Werte der politische Nachwuchs der Regierungsparteien teilt. Und zum zweiten, was Weltoffenheit bedeutet – und was eben nicht.

Dem Juso und Mitgründer des SPD-Klimaforums Tim Vollert etwa war dieses Begrüßungszeremoniell voll beziehungsweise boah unangenehm.

Und zwar ohne nähere Begründung. In bestimmten Milieus reicht schon ein Foto, um seinen Widerwillen mit anderen zu teilen. Über ein Schuhplattler-Video, das der amerikanische Journalist Jake Tapper aufnahm und twitterte, und zwar augenscheinlich ohne irgendwelche Bekundungen des Widerwillens, schrieb der Sprecher der Juso-Hochschulgruppe an der Universität Bonn Fabian Albrecht: „Ich hasse Bayern dafür, dass wir international diesen Ruf haben.“

Wobei ja nur die Bayern und eigentlich nur das Oberland diesen Ruf genießt, weniger Bonn, Berlin und die Jusos. Abgesehen davon besteht Albrechts Kernbotschaft darin, dass Hass gegen ein Land, eine Tradition und überhaupt Indigene ganz in Ordnung geht, solange es sich um eine in seinen Kreisen anerkannte gruppenbezogene Herabwürdigung handelt.

Auch die designierte Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes dürfte sich nach ihrer Installation höchstwahrscheinlich nicht mit antibayerischem Trachten- und Brauchtumshass befassen, jedenfalls nicht in Form von Kritik. Als die Taz, deren Überschriftenautoren zu den besten Kräften innerhalb der Redaktion gehören, die Anwesenheit indigener Völker beim G7-Auftakt lobte, konnte die Grünen-Abgeordnete Deborah Düring das keinesfalls lustig finden, sondern twitterte umgehend eine längere Ermahnung an die Taz-Mitarbeiter.

Indigene Völker gehören nach Ansicht der Abgeordneten gegen Hass und Hetze, für Klimagerechtigkeit und Antifaschismus nämlich keinesfalls auf eine Stufe, auch wenn sie einander darin gleichen, dass sie beide nicht am G7-Tisch sitzen. Unter Krisen leiden die Oberbayern tatsächlich weniger als die von den Parteien Vollerts, Albrechts und Dürings beherrschte Hauptstadt, was Düring, die unter anderem die Wiedereinsetzung der Vermögenssteuer fordert, zumindest gern teilweise korrigieren möchte. Ihre Bachelorarbeit verfasste Düring über Ressourcenkonflikte, ein Thema, das sich in Berlin bestens studieren lässt. Zumindest in den zentralen Stadtteilen der Stadt wölbt sich über den allgemeinen Verfall im öffentlichen Raum die Religion der pietistisch-provinzlerischen Verkniffenheit strenger Observanz unter besonderer Beachtung von Fleisch-, Humor- und Bayernscham und der Vermeidung von Erwerbsarbeit außerhalb des Steuergeldsektors. Auch hierbei handelt es sich um Folklore, zu der aber weder hübsche Kleidungsstücke noch originelle Tänze gehören. Trotzdem prägt sie Land und Leute.

Die verschiedenen Brauchtums- und Heimatbegriffe hier und da wirken sehr unterschiedlich in der großen weiten Welt. Wenn ich auf Reisen irgendwo erwähnte, dass mein Hauptwohnsitz in Bayern liegt, genauer in München, reagierten bisher alle und ausnahmslos positiv, egal ob in Israel, Italien, Island oder Vietnam. Erstaunlich viele verbinden ihre Assoziationen zu Bayern mit ihrem generellen Deutschlandbild. Insofern liegt der Juso-Funktionär schon richtig. Den meisten fallen Fußball, Bier, BMW und überhaupt der Verbrennerautobau ein, vielen auch das Oktoberfest. Auf der internationalen Diskussionsplattform Quora schrieb einmal ein Brasilianer sinngemäß, er bewundere speziell die Bayern für ihre Fähigkeit, in Kostümen zu tanzen, große Mengen Bier zu vertilgen und am nächsten Morgen in der Fabrik wieder in hochpräziser Manier Automobile zusammenzuschrauben. Es handelt sich zweifellos um ein Klischee, aber um keines der beleidigenden Sorte. Jedenfalls war es mir beim Lesen nicht unangenehm. In Saigon entdeckte ich gleich hinter der Oper einen Wandfries, der Deutsche vielleicht nicht aus der Perspektive des ganzen globalen Südens und auch nicht documentatauglich, aber zumindest aus Sicht des Wandfriesgestalters darstellt.

Es handelt sich also um den schon von dem brasilianischen Hobbyethnologen charakterisierten Stamm, der traditionelle Kleidung, Musikinstrumente und gute Laune zur Schau trägt, und von dem es außerdem heißt, er könnte gutes Bier und noch bessere Fahrzeuge herstellen. Die Trachten für Männer wie für Frauen gefallen sehr vielen im Ausland, denn sie lassen fast jede Silhouette besser aussehen. Dass die Einheimischen in Bayern meist trotzdem etwas anderes tragen und die wenigsten Stammestänze beherrschen, wissen die Leute außerhalb auch. Bei ihnen verhält es sich schließlich nicht anders. Aber sie verstehen und schätzen den Vergleich zwischen ihrer Tradition und der von anderen. Anders, als es in den von Vollerts und Dürings beherrschten westlichen Bildungsstätten gepredigt und geglaubt wird, pflegen die meisten Leute weltweit ein positives Verhältnis zu Tradition und Folklore, sowohl bei sich als auch bei anderen. Kulturelle Aneignung halten sie für unschädlich, egal in welcher Richtung.

Ich versuche so gut wie nie, im Auslands Klischees über Deutschland zurechtzurücken. Denn erstens enthalten sie meist einen wahren Kern. Zweitens sagen sie auch etwas über den Betrachter. Eine erstaunliche Zahl von Leuten weltweit begeistert sich beispielsweise für „Derrick“-Folgen. Ich konnte das nie recht begreifen; ich für meinen Teil fand die über sieben Perserbrücken musst er geh’n-Geschichten vom Kommissar und vertrottelten Unternehmerwitwen etwa so anregend wie Tweets von Jusofunktionären. Und bestimmte Dinge sollte man sowieso keinem Ausländer erklären, beispielsweise, dass es sich weder bei Stephan Derrick noch Horst Tappert um sehr typische Deutsche handelt. Viel typischer für dieses Land ist eher, dass ein Journalist für einen engagiert zustimmenden Text zur Absetzung von „Derrick“ beim ZDF wegen Tapperts Waffen-SS-Vergangenheit einen Henri-Nannen-Preis bekommen könnte. Und dass viele Deutsche in Hamburg und Berlin das nicht komisch fänden, sondern sehr angemessen. Aber hier befinden wir uns auf der Metaebene, von der sich ein Schuhplattler so angenehm abhebt.

Die Kommunikationsprobleme bei der kulturellen Übersetzung liegen oft daran, dass diejenigen, die Bayern, Beerfest, Tracht und BMW sympathisch und Derrick für das Musterbild des zuverlässigen Deutschen halten, entweder schon lange nicht mehr oder noch nie in Deutschland waren. Sie ahnen nicht, welche Abenteuer allein das Reisen hier inzwischen bereithält, von gestrichenen Flügen und verschwundenen Koffern an den Airports Düsseldorf, Nürnberg und anderswo zu Zügen, die mit Tempo hundert, geschlossenem Bistro und ohne Funknetz durchs Land zuckeln, dafür aber mit Ökostromwerbung und Maskenpflicht. Und dass ein Landesentdecker auch per Auto an manchen Stellen nicht weiterkommt, weil sich gerade vier Bürgerkinder unter dem Lob einer grünen Hauptstadtpolitikerin auf die Fahrbahn pattexen, während es der Polizei schlecht bekäme, würde sie Hände und Problem so lösen wie die Kollegen in Paris.

Sie wissen nicht, dass manche Abgeordnetenbauten in Berlin nach zehn Jahren schon wieder saniert werden müssen, und dass in diesen Bauten eine Düring-Generation webt und west, für die es zum Ehrenkodex gehört, keine Lebensminute mit wertschöpfender Arbeit zu verschwenden. Schon gar nicht würden sie verstehen, warum diese Kreise darauf bestehen, große Teile der Autoindustrie des eigenen Landes zur Abwanderung in den Rest der Welt zu zwingen, der auch in zwanzig Jahren noch mit Verbrennern fahren wird. Wenn sie keine Autos mögen, gut, ihre Sache, denken sich die Beobachter von anderswo. Aber mögen sie denn kein Steuergeld?

Was uns zurück zu den unterschiedlichen Bräuchen in Deutschland selbst bringt. Das, was Leute boah unangenehm finden und was sie lieben, unterscheidet sich von Milieu zu Milieu. Der Juso Tim Vollert etwa, dem eine ordentlich gekleidete Begrüßungsdelegation auf dem Münchner Flughafen ein Graus ist, liebt wiederum bestimmte Rituale in der Hauptstadt, die Einheimischen dort geläufig sind, während Beerfest- und Derrick-Fans in Saigon davon nichts ahnen, und Nachrichten davon womöglich für erfunden halten.

Auch der Queer-und Bürgerbeschimpfungsbeauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann pflegt einen Heimatbegriff und schätzt ein bestimmtes Ritual in der Kölner Südstadt, mit dem Fußballbegeisterung durch Antifa-Sticker und „nie wieder Deutschland“-Rufe erst für sein Milieu akzeptabel gemacht werden muss. Seine Mitteilung stammt zwar noch aus der Zeit vor dem Amtsantritt, sein altes Heimatgefühl dürfte aber noch intakt sein.

Die einfachste Lösung bestünde darin, dass jemand wie Vollert eben eine Umgebung schätzt, in der sommerliche Massenschlägereien zur Folklore gehören und Lehmann, Staatssekretär im besten Nie-wieder-Deutschland aller Zeiten, sich bei seinen Antifaaktivisten in der Kölner Südstadt zuhause fühlt, aber beide die Trachtler und Gebirgsschützen im bayerischen Oberland in Ruhe ließen. Kurzum, eine Art neuer Westfälischer Frieden: Niemand muss die Vorlieben des anderen mögen. Aber er sollte sie tunlichst in Ruhe lassen. Um den berühmten Satz von Muhammad Ali abzuwandeln: Noch nie hat ein Trachtler versucht, den Friedrichshain-Kreuzbergern vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Ein Trachtler will auch keine Gesellschaftsexperimente veranstalten. Er will nichts transformieren. Sondern einfach in Ruhe gelassen werden.

Bis jetzt scheitert dieser Neue Westfälische Kulturfrieden allerdings, und zwar sehr eindeutig an einer Seite. Aus mehreren Gründen dient beispielsweise das Münchner Oktoberfest sehr vielen, die sich dort sowieso nie blicken lassen, als riesiges Projektionsfeld für ihre Feindbilder, ohne die kein gesamtgesellschaftliches Transformationsprojekt gelingt. Dort auf der Wiesn kommt eben viel zusammen: Traditionelle Kleidung, die auch von vielen asiatischen und afrikanischen Besuchern hochgeschätzt wird und überhaupt zeigt, was bunt sein bedeutet. Eine Lebensfreude mit tausend blühenden Bierblumen, an der die Vollert-Düring-Stokowski-Ataman-Verkniffenheitskultur nie und nimmer Freude haben kann. Außerdem ein überwiegend binäres Geschlechterverständnis. Auch bei der legendären schwulen Wiesn im Zelt der Fischer Vroni tummeln sich ganz überwiegend cis-Männer, die sich von Sven Lehmann eher nicht vertreten fühlen und sogar behaupten würden, dass sie keinen Beauftragten brauchen, sondern noch eine Maß.

Es hatte also seinen Grund, warum nach der Kölner Silvesternacht von 2015/16 die linke Aktivistin Anne Wizorek beim ZDF gleichzeitig mit einer journalistischen Aktivistin bei der ARD ganz dringend auf das Oktoberfest zu sprechen kommen wollte, um von den Kölner Ereignissen abzulenken. Bekanntlich durfte Wizorek damals im Gebührenfernsehen die Behauptung über eine „offizielle Dunkelziffer“ von massenhaften Vergewaltigungen auf dem Oktoberfest verbreiten, die sich als frei erfunden herausstellte. Es handelt sich übrigens um die Aktivistin, die kürzlich die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade durch den Obersten Gerichtshof so kommentierte, dass dadurch die Körper von Frauen patriarchale Verhandlungsmasse würden.

Leute, die eine Bedrohung von Frauen mal betonen und mal herunterreden, je nachdem, wie es in ihr Weltraster passt, brauchen auch sehr dringend eine Möglichkeit, eine ins Riesenhafte verzerrte Bedrohung ganz woandershin zu projizieren, beispielsweise auf ein Volksfest, bei dem es hochgerechnet auf die Zeit und die Menge der Besucher sehr viel friedlicher und harmonischer zugeht als im Berliner Columbiabad.

Screenshot via Twitter / Argonerd

Zu dem verständlichen Neid auf die schöne Landschaft kommt bei den Bayern- und Trachtenhassern auch noch das ebenfalls berechtigte Gefühl, diese Mentalitätsfestung im Süden nicht so einfach knacken zu können. Denn das, was Berliner Beauftragte, Aktivisten im ZDF und künftige rotgrüne Politiker von sich geben, dient eben überwiegend der Festigung eigener Anhänger. Die Wirkung lässt schon an den Grenzen der zentralen Stadtbezirke nach, und dort, wo Menschen sogar viel Geld für eine auf Jahrzehnte haltbare Lederhose ausgeben und sie nicht auf Anweisung und nicht als Botschaft tragen, sondern nur zu ihrer Freude, dort kommen die Kulturkriegsbotschaften nur noch als laue und trotzdem noch übelriechende Luftbewegung an.

Es gab im Frühjahr die dringenden Warnungen von Karl Lauterbach und des grünen Gesundheitspolitikers Janosch Dahmen vor dem Oktoberfest 2022.

Screenshot Bild.de

Und schon während des Frühjahrsfests auf der Wiese fragte eine Bayernbeauftragte des Spiegel, ob die Festivität überhaupt verantwortbar wäre, wenn im Ukrainekrieg Menschen sterben.

Screenshot Spiegel.de

Es liegt ja auf der Hand, dass Menschen im Bombenkeller von Mariupol besser ausgehalten hätten, hätten sie die Gewissheit gehabt, dass in Deutschland aus Solidarität mit ihnen die Theresienwiese verrammelt wird.

Je näher das Oktoberfest in diesem Jahr nach zweijähriger Pause rückt, desto stärker wird auch der Chor derjenigen werden, die jetzt endlich ihre Chance sehen, das falsche Brauchtum final auszutreiben. Irgendeine Begründung – Krieg woanders, toxische Maskulinität, Energieverschwendung oder eben die Schädigung des deutschen Ansehens durch Trachten – wird der gebühren- und steuerbetriebene Plapperapparat schon finden.

Es gibt neben der Hartnäckigkeit der schwererziehbaren Südstaatler noch einen anderen Grund, warum sich selbst wohlgesinnte Kreuzberger sich öfters heimlich dorthin sehnen, in den Süden, und sich dafür hassen, so, wie sich manche mittlere DDR-Funktionäre heimlich nach den Annehmlichkeiten des Westens sehnten und sich dafür hassten. Gewiss, auch in Bayern ist nicht alles gold, auch im Oberland nicht. Neuerdings gibt es sogar Windräder am Starnberger See. Und Transformationsanhänger auch im Land selbst, nach deren Willen noch mehr Bäume für mehr Windräder fallen und die Anlagen viel näher an Wohnhäuser heranrücken sollen. Aber immerhin neigen die Mentalitätsbayern nicht dazu, ihr eigenes Biotop derart großflächig zu zerstören, wie es die Mentalitätsberliner mit ihrem tun.

Ich bin in München zuhause, aber ab und zu ein wenig auch in Berlin, in der Nähe der Yorckbrücken. Schauen Sie sich hier an, wie sich ein grüner Kreuzberger Bezirksstadtrat die Zukunft der Yorckstraße vorstellt.

Die Radfahrer sollen eingepfercht von zwei antimobilistischen Schutzwällen in die Mitte der Straße; die beiden Randstreifen, die rechts und links für den Autoverkehr blieben würden, wären verlässlich zugestaut – also auch die Kreuzungen, über die ein Radfahrer abbiegen müsste. Der größte Teil des Autoverkehrs würde die bisher noch halbwegs ruhigen Nebenstraßen fluten, bis er auch dort verboten würde, was bedeutet, dass Firmen und Läden, die auf Lieferfahrten angewiesen sind, sich aus der Gegend und am besten ganz aus der Stadt verabschieden. Sollten sich die Schutzwälle tatsächlich durchziehen, hätten auch Fußgänger ein Problem, die Straße abseits der Ampelübergänge zu kreuzen. Kurzum, es würde für alle schlechter, für Radfahrer auf ihrem pseudoprivilegierten Mittelstreifen, für Autofahrer, für Gewerbetreibende, für Anwohner, und ganz besonders für Alte, die nicht mehr auf die Radpiste können, für Pflegebedürftige und für Leute, die plötzlich krank werden und dann etwas länger auf den Notarzt warten, der auch in diesen Quartieren nicht mit Lastenrad zu ihnen eilt, jedenfalls nicht bei Eis, Schnee und Dauerregen. Es wird also für alle dauerhaft ähnlich schlechter werden wie jetzt schon in der südlichen Friedrichstraße oder in der Kreuzberger Bergmannstraße, in die der grüne Baustadtrat für hunderttausende Euro Blockadesteine wälzen und abstoßend hässliche Holzkonstruktionen wuchten ließ.

Ein wohlgesinnter Hauptstädter muss das alles gut und progressiv finden, obwohl er weiß, dass es für ihn persönlich schlecht ist, so wie DDR-Funktionäre, die nicht wichtig genug waren, um eine Zugangsberechtigung für Sonderläden zu ergattern, die kein Westgeld hatten und auch nicht reisen durften, sehr genau wussten, wie schlecht für sie selbst die Verhältnisse um sie herum waren, für die sie Mitverantwortung trugen, und die sie vor allem pflichtschuldigst bejubeln mussten. So etwas macht auf Dauer krank und hasszerfressen. Den Druck mildert nur vorübergehend, wer seinen Hass woandershin leiten kann. Aber auch das hilft nur sehr wenig gegen die kommenden Magengeschwüre und schlimmere Malaisen. Wenn beim spontanen Durchbruch des Wimmerls dann auch der Sanitätswagen ewig braucht oder gar nicht durchkommt, verflucht auch ein Männerduttträger in Berliner Creativentracht sein Schicksal.

Was mich angeht: Ich habe mein seelisches Auskommen als Transbayer gefunden, was in meinem Fall bedeutet: von Sachsen nach Bayern, also von einem ehemaligen Königreich und aktuellen Feindstaat zum anderen.

Ich genieße es, mit einem traditionell angetrieben öffentlichen Verkehrsmittel, das eine bequeme Fahrradmitnahme erlaubt, in den kurzen Schreibpausen eine bildschöne Landschaft zu durchqueren, meist aber mit Rad, nur nicht zu schnell.

Sonnenuntergänge sollte man generell in einer schönen Umgebung erleben. Vor allem, wenn man sich selbst auf dem Korridor zum Vorzimmer des Alters befindet.

Tracht steht ganz nebenbei Älteren fast genauso gut wie Jüngeren. Der Süden vergilt den Hass mit Transfermitteln. Auch das ist eine Haltung. Seine Schönheit behält er für sich.

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