Das neue Politbarometer ist da, und jetzt wissen wir, wer die Wahl gewinnt? Der Schein trügt. Denn unter der Verhältniswahl gibt es gar keine Sieger und Verlierer. Das zeigt ein Blick auf die Ergebnisse der sieben führenden Umfrage-Institute, die vom dem bekannten Internet-Portal www.wahlrecht.de regelmäßig gesammelt, auf dem neuesten Stand gehalten und veröffentlicht werden. Fasst man diese Datensammlung zu drei Klassen (Tiefstwert, häufigster Wert und Höchstwert) zusammen, ergibt sich das nachfolgende Bild:
CDU und CSU erlangten bei sieben Umfragen im August 2017 dreimal 38% und dreimal 39% der Zweitstimmen. Sie sind also weit davon entfernt, alleine den Wahlsieg zu erringen. Die anderen Parteien sind zwar auch keine Wahlsieger, ziehen aber in das Parlament ein. Wirkliche Wahlverlierer, die nicht in das Parlament einziehen, sind nur die „Sonstigen“, die „Splitterparteien“, die wahrscheinlich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern werden. Sie werden am häufigsten mit 4% der Zweitstimmen beziffert.
Insgesamt werden wohl 4% der Zweitstimmen „unter den Tisch fallen“. In Wahrheit fallen sie aber nicht einfach weg. Denn die 11 Mandate, die dem Stimmanteil von 4 Prozent entsprechen, werden von den sogenannten Splitterparteien anteilig auf die privilegierten Parlamentsparteien umgeschichtet. Es ist also 2017 wieder zu erwarten, dass 11 Abgeordnete im Bundestag einen Sitz bekleiden, den die Wähler einer anderen Partei zukommen lassen wollten. (Sperrklausel-Zugewinn) – Ein wirklich gerechtes Wahlverfahren sieht anders aus!
Zu viel für eine „Groko“ und zu wenig für Schwarz-Gelb
Dieser Webfehler der Verhältniswahl ist aber keineswegs der größte. Weil es bei den Zweitstimmen regelmäßig keine absoluten sondern nur relative Wahlsieger gibt, wissen die Wähler im Ergebnis nicht, was aus ihrer Stimme wird. Sie geben ihre Stimme ab, wer mit wem eine Koalition bildet, das können sie – wenn überhaupt – nur mittelbar beeinflussen. Eine „Groko“ ist natürlich immer möglich. So wie es aussieht sind aber auch andere Dreierbündnisse denkbar, ohne dass die Wähler gefragt wurden, welche Konstellation sie denn haben wollen. Wir wählen die Abgeordneten, aber nicht unmittelbar sondern nur mittelbar. Und was danach passiert, das entscheiden die Parteien hinter verschlossenen Türen. Das ist der große Pferdefuß der Verhältniswahl.
Doch bleiben wir bei den Wahlprognosen. Sie beziehen sich allein auf die Zweitstimmen und ignorieren die Erststimmen vollständig. Und in ihrer kurzsichtigen Gedankenlosigkeit tun das die Wahlforscher dauerhaft. Bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 hat die Erststimme eine mandatsrelevante Rolle gespielt. Zieht man beide Stimmen von einander ab, ergab sich folgendes Bild:
- 1.331.848 CDU-Erststimmen-Wähler wählten die CDU-Abgeordneten nicht mit der Zweitstimme;
- 300.398 CSU-Erststimmen-Wähler verweigerten der CSU die Landesstimme;
- 1.588.650 SPD-Erststimmen-Wähler gaben der SPD nicht die Listenstimme.
- 169.527 Zweitstimmen-Wähler der Linken wählten umgekehrt den örtlichen Wahlkreiskandidaten der Linken nicht mit der Erststimme;
- 513.045 Zweitstimmen-Wähler der Grünen gaben dem örtlichen Wahlkreisbewerber der Grünen nicht die Wahlkreis-Stimme;
- 1.053.983 FDP-Zweitstimmen-Wähler verweigerten dem örtlichen Wahlkreisbewerber der FDP 2013 die Direktwahl gingen also mit der Erststimme fremd oder vergaben sie gar nicht.
Und weil ungefähr jeder zweite Zweitstimmen-Wähler der FDP dem Wahlkreis-Kandidaten der Liberalen nicht die Erststimme gibt, muss man sich nicht wundern, dass z.B. die FDP in 14 von 18 Wahlgängen kein einziges Direktmandat erlangt hat. Weil aber die FDP trotzdem in den Bundestag einzog, ausgenommen 2013, muss man sich natürlich fragen, wozu die Erststimme überhaupt gut sein soll. Und noch etwas: Hätte die FDP 2013 nur in drei von insgesamt 299 Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewonnen, wäre sie unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde mit 28 Listenplätzen in den Bundestag eingezogen. („Grundmandate“) Und dabei hätte die Union leicht nachhelfen können. – Konrad Adenauer hat das mehrmals getan. Angela Merkel tut es nicht. Der Physikerin ist die Mechanik der Zweistimmen-Wahl „ein Buch mit sieben Siegeln“.
Der Supergau für die Wahlforschung
Die Wahlforscher erwähnen das alles mit keinem Wort. Deshalb hat keines der Forschungsinstitute 2013 vorhergesagt oder am Wahlabend hochgerechnet, dass es vier Überhänge in vier Bundesländern gab (je eines in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und im Saarland), alle bei der CDU, die dann ausgeglichen wurden, aber nicht durch vier, sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Niemand hat dieses Wahlergebnis kommen sehen. Das Endergebnis war für die stumpfsinnige Wahlforschung, die sich allein auf die Zweitstimme konzentriert und die Erststimme vollkommen ignoriert, der „Supergau“, der bisher größte aller denkbaren Betriebsunfälle.
Und das ist ganz besonders wichtig: Kann eine Steigerung des Stimmensplittings dazu führen, dass Schwarz-Gelb – entgegen allen Vorhersagen – doch möglich wird, so wie das 2009 ja der Fall war? Hat es damals nicht 24 Überhänge gegeben, die nach neuem Recht durch 49 Ausgleichsmandate kompensiert würden? Soll Angela Merkel als CDU-Vorsitzende die Parole ausgeben, in ausgewählten Ländern z.B. im Saarland oder Mecklenburg-Vorpommern mit der Erststimme CDU und mit der Zweitstimme die FDP zu wählen? Wie viele Mandate fehlen überhaupt zur Mehrheit von Schwarz-Gelb? Und wie kann man sie sich unter Anrechnung von Überhang und Ausgleichsmandaten in einer Doppelwahl mit zwei Stimmen beschaffen? Hat denn die CDU mit 4 Überhängen von den 29 Ausgleichsmandaten, die 29013 nachgeschoben wurden, mit 13 davon selbst nicht den „Löwenanteil“ am Mandatsausgleich erhalten? Erlaubt ist doch was gefällt: Warum soll man das nicht ausnutzen?
Drastische Verzerrungen des Wählerwillens
Wie wenig die Politiker, die das Wahlrecht ja geschaffen haben, das Werk ihrer Hände wirklich durchschauen, zeigt die Wahl von 1976. CDU und CSU siegten mit 48,6 % der Zweitstimmen: Es fehlte nur ein Mandat zur absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament! Und trotzdem oder gerade deswegen wurden CDU und CSU von der Regierungsbeteiligung ausgeschlossen und mussten als stärkste politische Kraft in die Opposition gehen. Die Verhältniswahl kann also zu drastischen Verzerrungen des Wählerwillens führen. Und das kommt auch vor.
Die Pointe der Wahl von 1976 war aber eine andere. Damals fehlte, wie gesagt, nur ein Mandat zur absoluten Mehrheit der Sitze im Parlament. Dieses Mandat hätte der Oberbürgermeister von Bonn, der bekannte CDU-Politiker, Hans Daniels, erreichen können. Wenn die CDU es akzeptiert hätte, dass er als parteiunabhängiger „Bürgerkandidat“ von 200 Wahlberechtigten aus der Mitte des Wahlkreises aufgestellt wird und ihm keinen Gegenkandidat aus den Reihen der CDU entgegengestellt hätte, er also auf Betreiben der Parteiführung auch mit den Erststimmen der CDU-Wähler im Wahlkreis Bonn gewählt worden wäre, dann wäre er neben der CDU als parteiunabhängiger Bürgerkandidat zusätzlich in den Bundestag eingezogen. Die CDU hätte also zusammen mit Hans Daniels die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag schon 1976 leicht haben können, wenn sie den Durchblick gehabt hätte.
Wäre Dummheit strafbar, der CDU-Vorsitzende, Helmut Kohl, wäre damals ins Gefängnis gewandert. Sie ist es nicht, deshalb kam Helmut Kohl mit einer milderen Strafe davon. Er wurde erst 1982 Bundeskanzler.
Der Autor hat ein „umstürzlerisches“ Taschenbuch zum Wahlrecht geschrieben, das es in sich hat. Hier die entsprechenden Links:
Verlagsankündigung: https://www.lesejury.de/manfred-c-hettlage/buecher/bwahlg-gegenkommentar/9783961380183
Kurze Leseprobe: http://www.manfredhettlage.de/taschenbuch-zum-wahlrecht-leseprobe/
Textauszug: http://www.manfredhettlage.de/taschenbuch-zum-wahlrecht-textauszug/
Sonstige Internet-Beiträge zum Wahlrecht: http://www.manfredhettlage.de/beitraege-zum-wahlrecht/