Bisher ist es noch niemandem gelungen, auch nur einen einzigen Wahlkreis-Sieger konkret zu benennen, der ein unzulässiges Überhangmandat bekleidet. Das verwundert eigentlich nicht, denn mit einem unzulässigen Mandat könnte man ja gar kein Abgeordneter werden. Wem sein Mandat nicht zusteht, der kann von vorneherein nicht in den Bundestag einziehen. Von der Existenz der geheimnisvollen „Überhangmandate“ sind nicht nur die gesetzgebenden Volksvertreter überzeugt, sondern auch die Verfassungsrichter, die Wissenschaftler, Juristen und Journalisten, ja die öffentliche Meinung insgesamt. Überhangmandate erinnern daher irgendwie an die geheimnisvollen „Ufos“. Nur wenige haben diese unbekannten Flugobjekte schon gesehen, die meisten nur aus Presse und Medien davon erfahren. Die herrschende Meinung ist aber überzeugt, dass es sie gibt.
Umsturz der herrschenden Meinung
Kein Parlament der Welt kann aus einer unbestimmten Zahl von Mitgliedern bestehen, die keine verbindliche Obergrenze kennt. Das sehen die gesetzgebenden Volksvertreter aber nicht ein und haben in das Gesetz hineingeschrieben, dass die Zahl der Mitglieder keine feste, den Wählern vorgegebene Größe ist, sondern „Abweichungen“ möglich sind, sprich Überhang- und Ausgleichsmandate hinzukommen können. Der Gesetzgeber hat also die Türe zu den Überhangmandaten nicht verschlossen, sondern ausdrücklich geöffnet. Es dürfen also mehr Volksvertreter in den Bundestag einziehen, als dort Sitze zur Verfügung stehen. Und das ist der Geburtsfehler des deutschen Wahlrechts.
Und damit stehen sie hoffnungslos „im Wald“. Konkret haben die Wahlleiter 2013 zu den 299 Direktmandaten 4 fälschlich sogenannte „Überhänge“ zum Wahlergebnis hinzugezählt, was zu allem Überfluss dann zu 29 nachgeschobenen Ausgleichsmandaten geführt hat. Der Ausgleich überstieg den vermeintlichen „Überhang“ damals um das Siebenfache! Eine Zumutung für jede Logik! 2017 waren von den Wahlleitern jenseits der 299 Wahlkreise 46 imaginäre „Überhangmandate“ hinzugemogelt worden, die von ihnen diesmal sogar durch 65 Ausgleichsmandate egalisiert wurden. 2021 verstiegen sich die Wahlleiter dazu, um – außerhalb der 299 Wahlkreise – einen irrealen „Überhang“ von 34 Mandaten aus der Luft zu greifen und diesmal sogar, um 104 zusätzliche Ausgleichsmandate nachträglich aufzustocken.
Kurzum gab es 2013 statt 598 insgesamt 631 Mitglieder des Bundestags. Nach 2017 saßen wiederum nicht 598, sondern diesmal 709 und 2021 sogar 736 Volksvertreter im Berliner Parlament. Dieser grobe Unfug führte endlich doch zu einem völligen Umsturz der herrschenden Meinung, die ja nichts anderes als ein herrschender Irrtum war. Deshalb ist es gut und richtig, dass sich die Ampel-Koalition von dem bisher vorherrschenden Irrtum trennen will und in 1. Lesung eine vollkommene Runderneuerung des Bundeswahlgesetzes in Aussicht gestellt hat. „Das Wahlgesetz soll so reformiert werden, dass die Regelgröße des Bundestages von 598 Sitzen sicher eingehalten wird“ (BT-Drucksache. 20/3250, Seite 21). Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die völlige Unterbindung von Überhang- und Ausgleichsmandaten ist der Schlüssel zur Erneuerung des BWahlG.
„Verbundene Mehrheitswahl“
Leider bleibt es aber bei einer bloßen Absichtserklärung. Denn die Regierungskoalition will am bisherigen Wahlrecht „eisern“ festhalten, also „Abweichungen“ von der Sollzahl der Mitglieder des Bundestages weiterhin zulassen, auch nicht mit einer Stimme wählen, die Zahl der Wahlkreise nicht auf die Zahl der Sitze im Bundestages anheben und vor allem auch Direktmandate akzeptieren, für die es keine Wahlkreise gibt. – Doch so geht es nicht. Der Wahlgesetzgeber kann keine Zustimmung erhalten, ohne wirkliche Besserung zu geloben.
Am schwersten hätte das die CDU in Baden-Württemberg getroffen: Bei der letzten Bundestagswahl sind dort zum Beispiel 10 fälschlich sogenannte „Überhänge“ entstanden, alle bei der Landes-CDU, 15 nachgeschobene Ausgleichsmandate kamen hinzu. In 33 der 38 Wahlkreise des Landes konnte der örtliche CDU-Verband 2021 einen herausragenden Sieg erringen. Ein außergewöhnlicher Wahlerfolg! Nach neuem Recht wären schon 2021 die 10 sogenannten „Überhänge“ wegefallen, und in Berlin hätte die badisch-württembergische CDU-Landesgruppe fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Doch die Regierungskoalition hat ihren Reformvorschlag ohne die Wähler gemacht. Und natürlich sind die Baden-Württemberger in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages selbstbewusst genug, um sich dagegen auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde zu wehren.
Der Gang nach Karlsruhe kommt
Wie jedes Gesetz muss nach der zweiten und dritten Lesung der Bundespräsident das neue Bundeswahlgesetz unterschreiben und verkünden. Und das darf er nicht tun, wenn er nach sorgfältiger Prüfung zu der Überzeugung kommt, dass die Reform nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. So etwas kommt vor, ist aber sehr selten. Immerhin hat Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung nicht unterschrieben – und die Flugsicherung wurde nicht privatisiert.
Wahlkreis-Sieger ziehen in den Bundestag ein. Das garantiert das Grundgesetz. Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion, auch die CSU als Regionalpartei prüft bereits die Rechtsmittel, mit denen sie sich zur Wehr setzen können, falls gewählten Wahlkreis-Siegern aus ihren Reihen der Zutritt zum Bundestag verwehrt werden sollte, obwohl sie mit den meisten Stimmen gewählt worden sind. Gegen ein Gesetz kann vor dem Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG von Bundesorganen und anderen Beteiligten Verfassungsbeschwerde geführt werden. Darüber hinaus kann auch jeder Wahlberechtigte in Karlsruhe Beschwerde führen, wenn das Grundrecht der unmittelbaren, freien und gleichen Wahl vom Gesetzgeber mit Füßen getreten wird.
Der Gang nach Karlsruhe kommt. Damit muss man rechnen.