Tichys Einblick
Der Gang nach Karlsruhe kommt

Das Wahlrecht soll reformiert, aber nicht geändert werden

Der Deutsche Bundestag ist dickköpfig, und alle im Hohen Hause vertretenen Fraktionen weigern sich, die Bürger nur mit einer Stimme auszustatten, wie das allgemein üblich ist. Wenn man zwei Stimmen hat, kann man sie gegeneinander richten. Und das macht keinen Sinn.

IMAGO / Jochen Eckel

Bisher ist es noch niemandem gelungen, auch nur einen einzigen Wahlkreis-Sieger konkret zu benennen, der ein unzulässiges Überhangmandat bekleidet. Das verwundert eigentlich nicht, denn mit einem unzulässigen Mandat könnte man ja gar kein Abgeordneter werden. Wem sein Mandat nicht zusteht, der kann von vorneherein nicht in den Bundestag einziehen. Von der Existenz der geheimnisvollen „Überhangmandate“ sind nicht nur die gesetzgebenden Volksvertreter überzeugt, sondern auch die Verfassungsrichter, die Wissenschaftler, Juristen und Journalisten, ja die öffentliche Meinung insgesamt. Überhangmandate erinnern daher irgendwie an die geheimnisvollen „Ufos“. Nur wenige haben diese unbekannten Flugobjekte schon gesehen, die meisten nur aus Presse und Medien davon erfahren. Die herrschende Meinung ist aber überzeugt, dass es sie gibt.

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Doch wie kann es überhaupt dazu kommen, dass im Bundestag regelmäßig mehr Volksvertreter Sitz und Stimme haben, als es dort Sitze gibt? Um zur Wahrheit vorzudringen, muss man etwas tiefer pflügen. Der Bundestag hat seit 2002 insgesamt 598 Mitglieder. Davon werden 299 in Wahlkreisen und weitere 299 über die Landeslisten der Parteien gewählt. Jeder Wähler hat zwei Stimmen, eine Erststimme für die Wahl der Wahlkreisabgeordneten und eine Zweitestimme für die Wahl der Landesliste. Hätten die Wähler nur eine Stimme, könnten die leidigen Überhangmandate gar nicht entstehen. Aber der Deutsche Bundestag ist dickköpfig, und alle im Hohen Hause vertretenen Fraktionen weigern sich, die Bürger nur mit einer Stimme auszustatten, wie das allgemein üblich ist. Wenn man zwei Stimmen hat, kann man sie gegeneinander richten. Und das macht keinen Sinn.
Umsturz der herrschenden Meinung

Kein Parlament der Welt kann aus einer unbestimmten Zahl von Mitgliedern bestehen, die keine verbindliche Obergrenze kennt. Das sehen die gesetzgebenden Volksvertreter aber nicht ein und haben in das Gesetz hineingeschrieben, dass die Zahl der Mitglieder keine feste, den Wählern vorgegebene Größe ist, sondern „Abweichungen“ möglich sind, sprich Überhang- und Ausgleichsmandate hinzukommen können. Der Gesetzgeber hat also die Türe zu den Überhangmandaten nicht verschlossen, sondern ausdrücklich geöffnet. Es dürfen also mehr Volksvertreter in den Bundestag einziehen, als dort Sitze zur Verfügung stehen. Und das ist der Geburtsfehler des deutschen Wahlrechts.

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Es gibt 598 Mitglieder des Bundestages, aber nur 299 Wahlkreise. Auch das ist nichts Halbes und nichts Ganzes, gesetzgeberisches Stückwerk also: Die „personalisierte“ Verhältniswahl bleibt auf halbem Wege stehen. Niemand kann 598 Plätze im Bundestag durch die Erststimme „personifizieren“, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Und es kommt erschwerend hinzu: Weil es nur 299 Wahlkreise gibt, kann es jenseits davon für weitere „Überhangmandate“, die der Wahlleiter zu den 299 ordentlichen Direktmandaten regelmäßig hinzuaddiert, überhaupt kein Raum geben. Die Wahlleiter zählen zu den 299 gewöhnlichen Direktmandaten weitere „Überhangmandate“ hinzu, für die es gar keine Wahlkreise gibt.

Und damit stehen sie hoffnungslos „im Wald“. Konkret haben die Wahlleiter 2013 zu den 299 Direktmandaten 4 fälschlich sogenannte „Überhänge“ zum Wahlergebnis hinzugezählt, was zu allem Überfluss dann zu 29 nachgeschobenen Ausgleichsmandaten geführt hat. Der Ausgleich überstieg den vermeintlichen „Überhang“ damals um das Siebenfache! Eine Zumutung für jede Logik! 2017 waren von den Wahlleitern jenseits der 299 Wahlkreise 46 imaginäre „Überhangmandate“ hinzugemogelt worden, die von ihnen diesmal sogar durch 65 Ausgleichsmandate egalisiert wurden. 2021 verstiegen sich die Wahlleiter dazu, um – außerhalb der 299 Wahlkreise – einen irrealen „Überhang“ von 34 Mandaten aus der Luft zu greifen und diesmal sogar, um 104 zusätzliche Ausgleichsmandate nachträglich aufzustocken.

Kurzum gab es 2013 statt 598 insgesamt 631 Mitglieder des Bundestags. Nach 2017 saßen wiederum nicht 598, sondern diesmal 709 und 2021 sogar 736 Volksvertreter im Berliner Parlament. Dieser grobe Unfug führte endlich doch zu einem völligen Umsturz der herrschenden Meinung, die ja nichts anderes als ein herrschender Irrtum war. Deshalb ist es gut und richtig, dass sich die Ampel-Koalition von dem bisher vorherrschenden Irrtum trennen will und in 1. Lesung eine vollkommene Runderneuerung des Bundeswahlgesetzes in Aussicht gestellt hat. „Das Wahlgesetz soll so reformiert werden, dass die Regelgröße des Bundestages von 598 Sitzen sicher eingehalten wird“ (BT-Drucksache. 20/3250, Seite 21). Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die völlige Unterbindung von Überhang- und Ausgleichsmandaten ist der Schlüssel zur Erneuerung des BWahlG.

„Verbundene Mehrheitswahl“

Leider bleibt es aber bei einer bloßen Absichtserklärung. Denn die Regierungskoalition will am bisherigen Wahlrecht „eisern“ festhalten, also „Abweichungen“ von der Sollzahl der Mitglieder des Bundestages weiterhin zulassen, auch nicht mit einer Stimme wählen, die Zahl der Wahlkreise nicht auf die Zahl der Sitze im Bundestages anheben und vor allem auch Direktmandate akzeptieren, für die es keine Wahlkreise gibt. – Doch so geht es nicht. Der Wahlgesetzgeber kann keine Zustimmung erhalten, ohne wirkliche Besserung zu geloben.

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Die Regierungskoalition will zwar einen Neuanfang machen, an dem missratenen Gesetz aber in weiten Teilen festhalten. Vor allem will sie nicht wahrhaben, dass es die leidigen „Überhangmandate“ überhaupt nicht gibt, weil es keine Wahlkreis-Sieger geben kann, für die keine Wahlkreise zur Verfügung stehen. Wahlkreis-Sieger ohne Wahlkreise sind gesetzgeberisch eine wahrhaft abenteuerliche Idee. Denn mehr als 299 Wahlkreise gibt es nicht. Der Gesetzgeber muss den Wahlleitern also zur Auflage machen, dass sie zu den 299 Direktmandaten, auf keinen Fall weiter „Überhangmandate“ hinzuzählen dürfen. – Doch das tut er leider nicht! In der ersten Lesung zum neuen Bundeswahlgesetz vom 29. Januar 2022 kam es ans Licht: Die „personalisierte“ Verhältniswahl soll künftig durch die „verbundene Mehrheitswahl“ ersetzt werden. Alles keine Rechtsbegriffe, sondern nebulöse Schlagworte, aber mit fatalen Folgen. Im Klartext will die Regierungskoalition die fälschlich sogenannten „Überhangmandate“ dadurch aus der Welt schaffen, dass sie weiterhin mitgezählt werden dürfen, obwohl es für sie keine Wahlkreise gibt, dass aber nachträglich eine entsprechende Zahl von demokratisch legitimierten Wahlkreis-Siegern aus dem Bundestag gleichsam herauskatapultiert werden, und diejenigen mit den schwächsten Wahlergebnissen zuerst.

Am schwersten hätte das die CDU in Baden-Württemberg getroffen: Bei der letzten Bundestagswahl sind dort zum Beispiel 10 fälschlich sogenannte „Überhänge“ entstanden, alle bei der Landes-CDU, 15 nachgeschobene Ausgleichsmandate kamen hinzu. In 33 der 38 Wahlkreise des Landes konnte der örtliche CDU-Verband 2021 einen herausragenden Sieg erringen. Ein außergewöhnlicher Wahlerfolg! Nach neuem Recht wären schon 2021 die 10 sogenannten „Überhänge“ wegefallen, und in Berlin hätte die badisch-württembergische CDU-Landesgruppe fast ein Drittel ihrer Mitglieder verloren. Doch die Regierungskoalition hat ihren Reformvorschlag ohne die Wähler gemacht. Und natürlich sind die Baden-Württemberger in der CDU/CSU-Fraktion des Bundestages selbstbewusst genug, um sich dagegen auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde zu wehren.

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In Bayern gibt es zum Beispiel 46 Wahlkreise. In 45 davon hat die CSU bei der letzten Bundestagswahl den Sieg errungen. Und 11 von den 45 Wahlkreis-Siegern wurde ihr ein vermeintliches „Überhangmandat“ angedichtet, die der CSU angeblich nicht zustehen können, obwohl ihr 2021 das politische bravouröse Kunststück gelang, über die 34 Listenplätze hinaus sogar noch 11 weitere Direktmandate zu erzielen. Nach neuem Recht wären diese 11 direkt gewählten Wahlkreis-Sieger 2021 aus dem Bundestag nachträglich herausgekippt worden, und diejenigen mit den schwächsten Erststimmen-Anteilen zuerst. Die CSU-Landesgruppe hätte 2021 also ein Viertel ihrer Mitglieder verloren – wenn da nicht die Wähler wären, denen man ihre verfassungsrechtlich garantierte Personenstimme nicht wegnehmen kann.

Wie jedes Gesetz muss nach der zweiten und dritten Lesung der Bundespräsident das neue Bundeswahlgesetz unterschreiben und verkünden. Und das darf er nicht tun, wenn er nach sorgfältiger Prüfung zu der Überzeugung kommt, dass die Reform nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. So etwas kommt vor, ist aber sehr selten. Immerhin hat Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherung nicht unterschrieben – und die Flugsicherung wurde nicht privatisiert.

Wahlkreis-Sieger ziehen in den Bundestag ein. Das garantiert das Grundgesetz. Nicht nur die CDU/CSU-Fraktion, auch die CSU als Regionalpartei prüft bereits die Rechtsmittel, mit denen sie sich zur Wehr setzen können, falls gewählten Wahlkreis-Siegern aus ihren Reihen der Zutritt zum Bundestag verwehrt werden sollte, obwohl sie mit den meisten Stimmen gewählt worden sind. Gegen ein Gesetz kann vor dem Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe des Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG von Bundesorganen und anderen Beteiligten Verfassungsbeschwerde geführt werden. Darüber hinaus kann auch jeder Wahlberechtigte in Karlsruhe Beschwerde führen, wenn das Grundrecht der unmittelbaren, freien und gleichen Wahl vom Gesetzgeber mit Füßen getreten wird.

Der Gang nach Karlsruhe kommt. Damit muss man rechnen.

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