Erinnert sich noch wer an Edmund Stoiber? Am Abend der Bundestagswahl 2002 stieg der damalige Spitzenkandidat der Union als Gewinner und neuer Kanzler in München ins Flugzeug – und landete in Berlin als Verlierer.
Damals war nach den Umfragen zwar schon Monate vorher klar gewesen, welche Parteien ins Parlament einziehen würden und welche nicht. Aber ob das schwarz-gelbe oder das rot-grüne Lager gewinnen würde, war noch während der Stimmauszählung unklar. Am Ende verteidigte Gerhard Schröder mit seiner SPD das Kanzleramt, und CSU-Mann Edmund Stoiber blieb bis zum Ende seiner Karriere Ministerpräsident von Bayern.
Bei der kommenden (vorgezogenen) Bundestagswahl im Februar 2025 ist es genau umgekehrt: Gleich vier Parteien könnten ins Parlament einziehen – oder eben auch nicht. Aber der nächste deutsche Bundeskanzler steht trotzdem schon so gut wie fest. Und seine Regierung auch.
Wie kann das sein?
Dazu muss man sich einerseits die Wahlumfragen der acht wichtigsten Umfrage-Institute ansehen – und das Wahlrecht andererseits. Die Institute sind (in alphabetischer Reihenfolge): Allensbach, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, Infratest-dimap, INSA, Institut Wahlkreisprognose, Ipsos und YouGov.
Für ihre sogenannte „Sonntagsfrage“ („Wen würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären?“) verwenden die verschiedenen Institute unterschiedliche Methoden, um den Kreis der Befragten – das sogenannte „Panel“ – festzulegen. Teilweise sind diese Panels der Institute auch noch unterschiedlich groß, und die Umfragen werden zudem oft in verschiedenen Zeiträumen gemacht.
Zusammen mit noch ein paar anderen Faktoren führt das dazu, dass sich die Ergebnisse bei der Sonntagsfrage mitunter ganz erheblich voneinander unterscheiden. In dem Moment, als dieser Text hier fertiggestellt wurde, sah nach den jüngsten verfügbaren Umfragen die Bandbreite bei den Parteien so aus:
- CDU/CSU 32,0 – 37,0 %
- AfD 17,0 – 19,0 %
- SPD 14,0 – 16,0 %
- Grüne 10,0 – 14,0 %
- BSW 4,0 – 8,0 %
- FDP 3,0 – 5,0 %
- „Linke“ 2,5 – 4,0 %
- Freie Wähler 1,0 – 3,0 %
Wahlumfragen sind keine Prognosen, aber sie zeigen die aktuelle politische Stimmung. Neben möglichen inhaltlichen Schwächen haben diese Umfragen zusätzlich auch immer eine rechnerische (statistische) Fehlertoleranz. Die liegt zwischen einem und drei Prozentpunkten. Wenn eine Umfrage zum Beispiel die FDP bei 4,5 Prozent und damit nicht im Parlament sieht, dann ist es allein schon wegen dieser statistischen Fehlertoleranz absolut möglich, dass die Liberalen bei der Wahl, sagen wir: 5,1 Prozent der Stimmen bekommen und damit doch in den Bundestag einziehen.
Die statistische Fehlertoleranz der Umfragen lässt derzeit bei gleich vier Parteien keine sinnvolle Prognose darüber zu, ob sie im neuen Bundestag vertreten sein werden oder nicht. Das gilt für das BSW, die FDP, die „Linke“ und sogar für die Freien Wähler.
Dazu kommt eine spezielle Festlegung im Wahlrecht: die sogenannte Grundmandatsklausel. Sie besagt, dass jede Partei, die bundesweit in mindestens drei Wahlkreisen das Direktmandat gewinnt, dann automatisch mit ihrem gesamten Zweitstimmen-Ergebnis ins Parlament einzieht – und zwar ausdrücklich auch dann, wenn die Partei ansonsten unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt.
Das ist der Weg, auf dem es die „Linke“ wieder in den Bundestag schaffen will: Die drei Oldies Gregor Gysi (in Berlin-Köpenick), Bodo Ramelow (in Erfurt) und Dietmar Bartsch (in Rostock) wollen in der „Aktion Silberlocke“ jeweils ihre Wahlkreise gewinnen und damit ihre stark schwächelnde Partei doch noch ins Parlament schubsen.
Etwas überraschend, aber keineswegs aussichtslos haben sich auch die Freien Wähler vorgenommen, mit demselben Trick erstmals in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Außer mit dem in Bayern enorm populären Landeswirtschaftsminister Hubert Aiwanger im Wahlkreis Rottal-Inn rechnet sich die Partei noch im Oberallgäu mit der Landrätin Indra Baier-Müller, in Landshut mit dem Landrat Peter Dreier und in Augsburg mit dem Gersthofener Bürgermeister Michael Wörle Chancen auf mindestens drei Direktmandate aus.
Der nächste Bundestag könnte also einerseits so aussehen:
- CDU
- CSU
- AfD
- SPD
- Grüne
Er könnte aber auch so aussehen:
- CDU
- CSU
- AfD
- SPD
- Grüne
- BSW
- FDP
- „Linke“
- Freie Wähler
Fünf Parteien oder neun Parteien: Da wird doch wohl das Rennen um das Kanzleramt bis zum Schluss spannend bleiben, würde man denken. Falsch gedacht. Denn ganz egal, wie der nächste Bundestag zusammengesetzt ist – die Regierung steht im Prinzip schon fest. Der nächste Bundeskanzler heißt Friedrich Merz – wenn er sich nicht noch in einem Anfall geistiger Umnachtung in einem unpassenden Moment wie weiland Armin Laschet um den Wahlsieg grinst.
Koalitionspartner wird die SPD sein. Das ist die Partei, die immer so tut, als habe sie mit den Problemen des Landes nichts zu tun. Dabei sollte man ab und zu in Erinnerung rufen, dass die Sozialdemokraten in den vergangenen 26 Jahren insgesamt 22 Jahre in der Bundesregierung saßen. Dabei stellten sie zehn Jahre lang den Bundeskanzler und zwölf Jahre lang den Vizekanzler.
Unter ganz bestimmten Bedingungen – bei sehr wenigen Parteien im Parlament – könnte es für CDU/CSU und SPD sogar zu einer Zweier-Koalition reichen. Falls nicht, stehen die Grünen zur Mehrheitsbeschaffung bereit. Eine schwarz-rot-grüne Koalition hätte nur unter sehr ungünstigen Umständen – in einem Parlament mit sehr vielen Parteien – keine sichere Mehrheit.
Politisch wird sich also absehbar nicht viel ändern in Deutschland. Der Kanzler hat einen anderen Namen, aber vermutlich zwei von drei Parteien der gescheiterten Ampel werden weiterregieren – mit denselben gescheiterten Figuren an der Spitze. „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.“ Das war Jahrzehnte lang ein Slogan der linken Reichshälfte in Deutschland. Ironischerweise war der Satz nie so wahr wie heute, da linke Parteien die Regierung dominieren.
Anderswo – in den USA etwa, oder in Argentinien – ändern Wahlen politisch wirklich etwas. In der EU eher nicht.
Das liegt maßgeblich daran, dass die herrschende EU-Politiker-Kaste versucht, sich und ihre Pfründe hinter der sogenannten „Brandmauer“ in Sicherheit zu bringen. In Deutschland hat die erste grüne Bundeskanzlerin das eben gerade noch einmal deutlich gemacht: Angela Merkel hat den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder öffentlich dafür getadelt, dass er eine Koalition der Union mit den Grünen ausschließt. „Unklug“ sei das, meinte Merkel – und führte als Beleg „erfolgreiche“ schwarz-grüne Bündnisse auf Landesebene an.
Nun kann man absolut trefflich darüber streiten, ob Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein wirklich „erfolgreich“ regiert werden. Vor allem die desaströse wirtschaftliche Entwicklung in beiden Bundesländern spricht recht deutlich dagegen. Aber Merkels Intervention aus dem Ruhestand hatte erkennbar ja auch gar nicht den Zweck, irgendwelche belastbaren Fakten zu liefern.
Der Altkanzlerin ging es vielmehr darum, ihre immer noch überall in der CDU versteckten Resttruppen zur Ordnung zu rufen: Wehe, Ihr verlasst meinen Grünen-Kurs. Der Subtext dieser Botschaft war ebenfalls überdeutlich: Sehr viele Menschen in der Union haben ihre Karrieren allein Merkel zu verdanken – und Karriere unter Merkel konnte nur machen, über wen die Machtfrau genug wusste, um ihn handzahm zu halten.
Merkels scheinbar so harmloser taktischer Zwischenruf war in Wahrheit eine Warnung.