Tichys Einblick
Suche nach dem Kapitän für die Titanic

Wahlkampf in Zeiten des Niedergangs – ein überflüssiger Luxus? 

Warum wird der Bundestag noch gewählt? Das Bundesverfassungsgericht oder die EU-Kommission könnten die Bundesregierung einfach festlegen. Das läge eigentlich nahe. Wirklich mündig wollen die Deutschen in Europa ja eigentlich sowieso nicht sein.

imago images/photothek

Deutschland befindet sich, so könnte man zumindest meinen, bereits im Wahlkampf. Seit die noch amtierende Bundeskanzlerin freilich in mühsamer jahrelanger Arbeit das früher noch irgendwie vage erkennbare politische Profil der CDU immer eleganter zurechtgefeilt hat, so dass von der alten Mitte-Rechts Partei nur noch eine fast leere Hülse übrig geblieben ist, fragt man sich allerdings, welchen Sinn diese alten Rituale noch haben sollen. Könnte nicht das Bundesverfassungsgericht, das ja auch die Umweltpolitik dieser und jeder zukünftigen Regierung durch sein jüngstes Urteil der Entscheidungsgewalt des leider wenig vertrauenswürdigen Wählers ganz bewusst entzogen hat – um so, wie es hieß, die Interessen zukünftiger Generationen zu schützen – einfach eine angemessene Zusammensetzung des Bundestages durch Gerichtsurteil festlegen? Das läge doch eigentlich nahe, denn offenbar sind in Deutschland Richter die besseren Politiker, oder halten sich zumindest dafür, und das Modell einer gelenkten Demokratie besaß in der Bundesrepublik nach den schlechten Erfahrungen von Weimar ja ohnehin immer viele Anhänger, wenn auch vielleicht nie so viele wie heute.

Unabhängig davon sind einstweilen wenig klare Konfliktlinien zwischen den drei größeren Parteien zu erkennen. Woher sollten diese auch kommen? – CDU und SPD sind seit vielen Jahren Koalitionspartner und CDU und Grüne werden es nach der Wahl vermutlich werden, wenn die CDU nicht doch noch soweit in der Wählergunst absinkt, dass sie den Anspruch auf das Kanzleramt verliert – was zur Zeit allerdings als gut denkbar erscheint. Wobei sie sich wohl auch dann wie jetzt in Stuttgart den Grünen als Juniorpartner zum politischen Nulltarif andienen würde.

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Erste Diskussionen zwischen den drei Personen, die als halbwegs ernsthafte Kanzlerkandidaten in Fragen kommen – was für Olaf Scholz allerdings nur sehr eingeschränkt gilt – etwa zu Fragen der Europapolitik lassen wenig Differenzen erkennen. Eigentlich wollen alle drei immer mehr Europa und immer weniger Deutschland und alle drei halten es für grundsätzlich falsch, auch nur laut darüber nachzudenken, wie man am Besten deutsche Interessen in Europa – notfalls auch im Konflikt mit Nachbarn wie Frankreich oder Italien – vertreten könnte. Freilich ist die Auflösung Deutschlands in einem europäischen Bundestaat für Frau Baerbock und wohl auch für den amtierenden Finanzminister von der SPD eine echte Herzensangelegenheit, für Laschet so wie vieles andere auch vermutlich nur der Weg des geringsten Widerstandes, den er im Zweifelsfall deshalb wählen wird, weil alles andere mühsamer wäre. 

Nun mag es andere Politikfelder geben, wo noch residuale Gegensätze zwischen CDU und Grünen zu erkennen sind, sehr viele sind es aber nicht, und Laschet ist sicher auch nicht der Richtige, um das Profil der CDU in Wahlkampfzeiten zu schärfen. Dazu ist er zu sehr ein Mann des Systems Merkel, deren Taktik es ja gerade war, das politische Programm ihrer politischen Rivalen selektiv zu übernehmen, um deren Wahlkampf ins Leere laufen zu lassen, was gegenüber der SPD auch recht gut gelang. 

Das allerdings funktioniert so nicht mehr. Wenn man 16 Jahre lang die Gemeinsamkeiten zwischen der CDU und den konkurrierenden Parteien links der Mitte betont, dann ist es kaum noch möglich, im Wahlkampf den Hebel umzulegen. Und mittlerweile könnten viele Wähler auf die Idee kommen, dass das Original – die Grünen – der billigen Kopie, der CDU, doch vorzuziehen ist, zumal Laschet die Gunst der Medien, etwa des ÖRR, in viel geringerem Maße als die zuletzt nahezu divinisierte Merkel genießt. Und so muss man sich auch nicht wundern, wenn selbst ganz traditionelle Unions-Wähler bis hin zu den betagten, gut katholischen Bewohnerinnen von Altersheimen, die 60 Jahre lang nur CDU gewählt haben, jetzt plötzlich darüber nachdenken, für die fesche Annalena zu stimmen.

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Als Nachfolgerin von Merkel und ihrer nach links stets offenen Politik ist sie im Grunde genommen viel glaubwürdiger als Laschet, nicht nur, weil dieser ein Mann ist – schon per se ein fast unverzeihlicher Fehler, den Laschet besser hätte vermeiden sollen – , sondern auch, weil er zu sehr wie der typische bürgerliche Provinzpolitiker alten Schlages wirkt. Ein verschmitzter und bauernschlauer „wheeler and dealer“, wie man im Englischen sagen würde, also jemand, der sich auf die Gefälligkeitspolitik und die notwendigen Tauschgeschäfte des politischen Alltags versteht, und dabei auch bereit ist, Fünfe grade sein zu lassen. Der aber nur sehr vage Vorstellungen von der Zukunft des Landes hat, das er regieren soll, sondern eigentlich nur möglichst geräuschlos den status quo und, wenn es nicht anders geht, auch den unvermeidlichen Niedergang verwalten will. Das durchaus noch existente, wenn auch in den letzten 20 Jahren heterogener und kleiner gewordene konservative oder wirtschaftsliberale Lager wird Laschet aber auch nicht wirklich mobilisieren können – dazu verkörpert er zu sehr eine rheinische Flexibilität und Wendigkeit, die von Prinzipienlosigkeit oft nur sehr mühsam zu unterscheiden ist.  

Dass die CDU sich ausgerechnet für Laschet entschieden hat, und damit eigentlich für den schwächsten der drei, respektive mit Söder vier Kandidaten, die für die Führung des Wahlkampfes bereit standen, ist charakteristisch. Man hat eigentlich gar keinen Willen mehr, den eigenen Niedergang aufzuhalten, und wichtiger als ein erfolgreicher Wahlkampf war den Funktionären offenbar das Ziel, die eigene Machtposition in der Partei, die sie durch oft fast blinde Anpassung an den Kurs Merkels erlangt oder abgesichert hatten, zu erhalten. Ein Parteivorsitzender Merz oder ein Kanzler Söder – so opportunistisch dessen Äußerungen auch oft sein mögen –  hätten diese Machtposition gefährdet, also entschied man sich für Laschet, der für niemanden eine Gefahr ist – weder innerhalb der CDU noch außerhalb.

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Allerdings wundert man sich schon ein wenig, dass überhaupt noch Politiker in Deutschland das Kanzleramt anstreben und kann das eigentlich nur mit Naivität oder blindem Ehrgeiz erklären, denn der Nachfolger Merkels wird mit schier unlösbaren Problemen konfrontiert sein. Merkel selber war und ist eine Meisterin darin Krisen auszusitzen, ohne sie wirklich zu überwinden, Probleme unter den Teppich zu kehren oder in die Zukunft zu verschieben, und damit ihren Nachfolgern zu überlassen. Sie hat sich durch den verfrühten Ausstieg aus der Kernenergie bei gleichzeitigem Rückzug aus der Kohleverstromung auf eine Energiepolitik eingelassen, die unter den in Deutschland gegebenen Standortbedingungen bestenfalls wagemutig und exorbitant teuer ist, im schlimmsten  Fall aber zum periodischen Zusammenbruch der Stromversorgung führen kann. Von einer nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates und der Renten kann überdies heute nach der partiellen Rücknahmen der Reformen, die Schröder als Bundeskanzler durchgesetzt hatte, weniger denn je die Rede sein, ein Problem, das durch die demographische Entwicklung und durch die zu geringe Zuwanderung gut qualifizierter Arbeitskräfte – bei weiterhin relativ starkem Zuzug gering Qualifizierter – noch verstärkt wird.

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Das größte Problem ist und bleibt aber die Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone, gegen die sich Merkel zwar immer wieder einmal ebenso halbherzig wie phantasielos gewehrt hat, die aber durch den sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds ihrer Vollendung jetzt nahe ist – so wie es die französischen politischen Eliten von Anfang an, also schon bei der Schaffung des Euro, beabsichtigt hatten. Macron wird nach seiner absehbaren Wiederwahl als Präsident zusammen mit der Mehrzahl der anderen Euroländer darauf dringen, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme durch die EU in Billionenhöhe zum Normalfall wird, in der sicheren Erwartung, dass Deutschland über seine Beiträge zum EU-Haushalt immer einen überproportional hohen Anteil am Schuldendienst übernehmen wird. Wird es dagegen von einer Regierung Laschet-Baerbock sonderlichen Widerstand geben? Das ist so gut wie undenkbar, denn auch Laschet will ja vor allem ein guter Europäer sein und den deutschen Rheinbund loyal an der Seite Frankreichs in die europäische Zukunft führen. Von einer Regierung, an deren Spitze die Grünen stehen, ist diesbezüglich noch weniger zu erwarten, sie wird die französischen Pläne für eine Schuldenunion eher noch versuchen massiv zu überbieten. 

Unabhängig davon wird die von Frau Lagarde an der Spitze der EZB mit Leidenschaft betriebene gigantische Ausweitung der Bilanzsumme der EZB und die kaum noch kaschierte monetäre Staatsfinanzierung zumindest mittelfristig wohl doch zu einer erhöhten Inflation und in jedem Fall zu noch höheren Immobilienpreisen führen. So begeistert die meisten Deutschen, zumindest die unter 50-Jährigen, jedoch von der EU sind, die für sie fast ein Kultobjekt ist, und so sehr sich viele sicherlich wünschen, nur noch als Europäer zu leben, und keine Deutschen mehr sein zum müssen, eine bezahlbare Wohnung hätte man dann doch ganz gerne. Auch sonst muss man bezweifeln, dass die Bereitschaft, sich mit einem deutlich niedrigeren Lebensstandard, auch auf Grund immer höherer steuerlicher Belastungen zufrieden zu geben, wirklich gar so groß ist. Es wird auch deshalb und wegen der kostspieligen deutschen Umweltpolitik, die darauf abzielt, alle anderen Industriestaaten moralisch zu überbieten – leider oft ohne die erhofften nachhaltigen ökologischen Effekte -, zu einem verstärkten Verteilungskampf in der Gesellschaft kommen.

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Die Gewinner dieser Konflikte werden Parteien sein, die versprechen, durch noch mehr Sozialausgaben, aber auch dirigistische Maßnahmen wie den nur vorübergehend gescheiterten Berliner Mietendeckel oder eine Vermögenssteuer den negativen Verteilungseffekten von Geldmengenvermehrung und Inflation entgegenzuwirken. Dem wird die CDU wenig entgegenzusetzen haben, zumal auch ihr früher übliches Bestehen auf leidlich soliden Staatsfinanzen im neuen Umfeld sinnlos geworden ist. Welchen Sinn hat eine deutsche Schuldenbremse, wenn auf EU-Ebene und bei den meisten Euro-Staaten, für die Deutschland so oder so in immer größerem Umfang mithaftet, die Schulden ungebremst steigen? Und das werden sie natürlich in den nächsten Jahren, denn eine Rückkehr zu geringeren Schuldenquoten ist in Ländern wie Frankreich und Italien unvorstellbar geworden und würde auch von der Bevölkerung nicht akzeptiert werden. 

Von daher ist es vielleicht sogar verständlich, warum sich die CDU für Laschet als Spitzenkandidaten entschieden hat. Wenn es nur noch darum geht, mit leicht schiefem Lächeln und rheinischer Fröhlichkeit die Weiße Fahne aufzuziehen und die Waffen vor jenen politischen Gegnern niederzulegen, denen ohnehin die Zukunft gehört, dann ist er dafür sicher der richtige Mann, übrigens auch dann, wenn es ihm mit Mühe und Not doch gelingen sollte, in einer Koalition mit den Grünen Kanzler zu werden, denn auch dann werden die Grünen, nicht die CDU den Kurs der Regierung in den meisten Fragen bestimmen. 

Über die realen Probleme Deutschlands wird in diesem Wahlkampf nicht gesprochen

Das Grundproblem der CDU ist, dass sie, um wieder konkurrenzfähig im Wettstreit mit den anderen Parteien zu werden, bereit sein müsste, die realen Probleme, vor denen dieses Land steht, zu benennen. Das kann sie aber nicht, weil sie viele dieser Probleme in den Merkel-Jahren selber geschaffen hat, etwa in der Energie- und Sozialpolitik, oder weil sie andere Fragen, wie die Kosten der dysfunktionalen Währungsunion oder der zum Selbstzweck gewordenen europäischen Integration bewusst für tabu erklärt hat. Das Gleiche gilt für die auch von der CDU verbreitete Vorstellung, dass Deutschland ein unendlich reiches Land sei, das immer genug Geld für zusätzliche Ausgaben zur Verfügung haben werde, sei es nun für die Stabilisierung der Eurozone, eine exorbitant teure Energiepolitik, oder eine neue Flüchtlingskrise, auch diese Idee ist jeder Kritik entzogen worden.

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Von daher hat dieser Wahlkampf etwas zutiefst Unwirkliches, er ist ein bloßes Schattenboxen, denn die größeren etablierten Parteien haben sich darauf geeinigt, die wirklichen Probleme, vor denen Deutschland steht, gar nicht erst zu benennen. Dieses Schweigekartell wird auch von AfD und FDP nicht wirklich aufgebrochen. Von der AfD nicht, weil diese im Wesentlichen damit beschäftigt ist, sich ständig weiter zu radikalisieren und damit zu marginalisieren, und von der FDP nur sehr selten, weil sie trotz partiell ganz vernünftiger Ansätze Angst vor der eigenen Courage hat, wie sich immer wieder zeigt, etwa bei der Diskussion über den EU-Wiederaufbaufonds. Auch ist für die FDP die Versuchung zu groß, am Ende doch nur Klientelpolitik für geplagte Spitzensteuersatz-Zahler zu betreiben oder sich als linksliberale post-bürgerliche Partei für diejenigen zu inszenieren, denen die Grünen zu staatsaffin und nicht chic genug sind, die sich aber ebenso wie die Wähler der Grünen zu den Lebensstil-Linken rechnen.

Von daher stellt sich in der Tat die Frage, ob wir uns dieses Jahr den ganzen Wahlkampf nicht auch schenken könnten. Sollten wir nicht wirklich auf den eingangs erwähnten Gedanken zurückkommen, den allwissenden Richtern in Karlsruhe die Auswahl des neuen Bundesstages und damit auch der neuen Regierung zu überlassen, oder – noch besser – der EU-Kommission in Brüssel, die damit auch sicherstellen könnte, in Berlin immer einen zuverlässigen und willigen Partner für ihr unbegrenztes Machstreben zu finden? Wir würden uns damit viel ersparen und schlimmer als nach einem konventionellen Wahlkampf wäre das Ergebnis vermutlich auch nicht. Wirklich mündig wollen die Deutschen in Europa ja gar nicht sein, dann ist ein weiser Vormund, der dem Wähler die Entscheidung abnimmt, vielleicht doch das Beste. Das Zeitalter der Demokratie geht in Europa – jedenfalls auf dem Kontinent – ohnehin dem Ende entgegen, denn diese Staatsform ist mit der immer stärkeren Übertragung von Entscheidungskompetenzen an supranationale Institutionen und an die Gerichte, sowohl nationale wie europäische, nicht wirklich kompatibel. Damit wird man sich abfinden müssen. 

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