Journalisten erhalten an Wahlsonntagen in der Regel gegen 16 Uhr von befreundeten Politikern „Polls“. Diese Polls sind repräsentative Umfragen, die direkt an den Wahllokalen erhoben werden. Sie sind aber nur für den internen Gebrauch gedacht. Denn eigentlich herrscht ein Veröffentlichungs-Verbot für solche Umfragen, solange gewählt wird – damit Prognosen das Ergebnis nicht beeinflussen. Doch auch ganz ohne Polls können sich Journalisten dieser Tage sonntags bereits gegen 14 Uhr ausmalen, in welche Richtung die Reise geht: Ist die Wahlbeteiligung außerordentlich hoch, schneiden die konservativen Parteien schwächer ab, als es die Umfragen im Vorfeld versprachen.
Das rechte Motiv, die schweigende Mehrheit stehe hinter ihnen, stimmt nur bedingt. Insofern, dass eine Mehrheit der Bürger unzufrieden ist. Nicht nur in Deutschland. Und dass die Ergebnisse der konservativen Parteien sich aus dieser Unzufriedenheit speisen. Es gibt eine Unzufriedenheit über die Migrationspolitik. Die wünscht sich eine überwältigende Mehrheit vernünftig: dass kommen und bleiben darf, wer hier arbeitet und sich an die Regeln hält. Aber dass gehen muss, wer hier straffällig wird und sich nur in der sozialen Hängematte ausruhen möchte.
Doch dieser Unzufriedenheit am Status quo steht gegenüber, dass die konservativen Parteien keinen eigenen Lebensentwurf zu bieten haben. Ihre „Denkfabriken“ kommen zu geradezu armseligen und lächerlichen Ergebnissen. Die speisen sich aus dem, was die Ära Ronald Reagan und Margaret Thatcher an Gedankensteinbrüchen übriggelassen hat. Deswegen auch der häufige Bezug konservativer Autoren auf die 80er Jahre. Und ansonsten setzen sie auf sehr viel: Der grün-woke Zeitgeist ist Mist. Was stimmt, aber halt noch keinen eigenen Gegenentwurf bedeutet.
Über die Qualität linker Lebensentwürfe zu schreiben, wäre ein anderes Thema. Derzeit ist es aus einem einfachen Grund kein so wichtiges Thema. Vor allem in Deutschland nicht. Hier sind die grün-woken Ideengeber seit knapp zehn Jahren. Sie brauchen keine Ideen, Mehrheiten zu bekommen. Sie setzen auf Ideen, sich an die Macht zu heften. Das Bündnis aus linken Sammlungsparteien und ehemaligen bürgerlichen Parteien, das sich in Frankreich gerade schmiedet, gibt es in Deutschland schon. Es besteht aus Linke, SPD, FDP, Grüne, CDU und CSU. Dieses Bündnis Kartellparteien zu nennen, lehnen manche konservative Vordenker vehement ab – ohne aber dafür einen besseren Begriff zu etablieren.
Im Bündnis Sahra Wagenknecht sehen eben diese Vordenker nun Steigbügelhalter für die Union und andere Parteien des Kartells. Nun. Das Bündnis Sahra Wagenknecht ist noch keine sieben Monate alt. Es ist noch an keiner Landesregierung, geschweige denn an der Bundesregierung beteiligt. Allerdings hat es laut Umfragen gute Perspektiven, dass sich das nach den Wahlen im September ändert. Mal abgesehen davon, dass das Wort Steigbügelhalter im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ reichlich diskreditiert ist, ist es unfair, unsachlich und unzutreffend, es gegenüber dem Bündnis Sahra Wagenknecht anzuwenden.
Drei wesentliche Forderungen unterscheiden das BSW von den Kartellparteien: die Abkehr von der Identitätspolitik, der Wunsch nach einer entideologisierten, vernünftigen Einwanderungspolitik und die deutlich geringere Solidarität mit der Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland. Vor allem in diesen Punkten wird sich das Bündnis bewähren müssen, falls es im Herbst Macht in ostdeutschen Ländern übernimmt.
Die Ukraine-Frage spielt dabei keine Rolle. Außen- und Verteidigungspolitik wird nicht an Elbe oder Saale gemacht, sondern ausschließlich an der Spree. In Sachen Identitäts- und Einwanderungspolitik können Landesregierungen durchaus Zeichen setzen und sogar mehr: Gendern die Behörden? Weht bei jeder Gelegenheit die Regenbogenfahne? Wendet ein Land konsequent geltende Gesetze gegen abschiebepflichtige Ausländer an? Liefert das Bündnis Sahra Wagenknecht in diesen Punkten, dann ist es eben alles andere als ein Steigbügelhalter. Dann ist es eine neue politische Alternative für Positionen, wie sie bisher in Deutschland nicht zu finden war: vernünftig in der Gesellschaftspolitik, links in der Sozialpolitik.
Mag sein, dass das Bündnis Sahra Wagenknecht auch nicht liefern wird. Zumal es seine inneren Schwächen hat. In einer Partei, in der Oskar Lafontaine etwas zu sagen hat, wird früher oder später Streit ausbrechen. Dann wird die Geschichte des Bündnisses halt kurz bleiben. So wie die Geschichte der Parteien zu Ende gehen wird, die permanent nicht liefern. Heißen sie Linke, FDP, SPD oder irgendwann auch mal CDU.
Es gibt eine große Unzufriedenheit mit der Politik. In Europa wie in Deutschland. Sie ist aber nicht deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Mehrheit: Eine große Schnittmenge ist zugleich unzufrieden mit dem, was die Kartellparteien ihnen liefern, und lehnt trotzdem einen Staat nach Ideen der AfD ab. Wer in dieser Schnittmenge lebt, wird immer nur so lange rechts wählen, so lange keine rechte Mehrheit droht. Wer aber regieren will, braucht eben diese Mehrheit und die kann nicht ausschließlich darauf beruhen, sich einig zu sein, was man nicht will. Das wird Frankreich bald recht bitter lernen müssen.
Es muss stattdessen ein Politikangebot geben, das sich mit dem deckt, was sich eine gesellschaftliche Mehrheit in Kernfragen wünscht. Da ist eine vernünftige Einwanderungspolitik wichtig, aber längst nicht alles entscheidend. Viel wichtiger werden Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Innenpolitik und vor allem Verteidigungspolitik sein. Hakt man da bei Anhängern, Abgeordneten oder Mitarbeitern der AfD nach – aktuellen wie ehemaligen –, kommt sehr schnell die Leere an gemeinsamen, tragenden Positionen zur Schau. So lange das so bleibt, so lange wird die Rechte starke Wahlergebnisse einfahren. Aber mit dem Frust klarkommen müssen, trotzdem keine Regierungsoptionen zu haben.