Tichys Einblick
Junge Autoren bei TE

Was in Berliner Wahllokalen am Sonntag passierte

In Berlin konnten Bürger teils über Stunden nicht wählen oder bekamen falsche Stimmzettel. Um das Vertrauen in die Demokratie nicht zu erschüttern, wäre eine Wiederholung notwendig.

IMAGO / Seeliger

Während die Bundestagswahlen und die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern weitgehend friedlich und organisiert ihren Lauf nahmen, herrschte in Berlin teilweise blankes Chaos. Kilometerlange Schlangen, fehlende Wahlzettel, wütende Wähler und verzweifelte Wahlhelfer – Berlin hat seinem Ruf an diesem Sonntag mal wieder alle Ehre gemacht.

Als ich vormittags grade selbst in der Schlange am Wahllokal in Friedrichshain-Kreuzberg stand und im Schneckentempo der Wahlurne näher rückte, erreichte mich die Nachricht einer Bekannten aus dem Prenzlauer Berg. Sie stand in einer so langen Schlange, dass unter den wütenden Leuten das Gerücht aufkam, dass die Letzten abends nicht mehr wählen können würden. Im Verlauf des Tages wurden aus immer mehr Bezirken und Wahllokalen extreme Schlangen und Wartezeiten von bis zu drei Stunden gemeldet. Für einige ältere und kranke Menschen eine nicht auszuhaltende Zumutung – viele gaben nach ein oder zwei Stunden erschöpft auf und verzichteten aus gesundheitlichen Gründen gezwungenermaßen auf ihr Wahlrecht.

Damit aber nicht genug. In mehreren Wahllokalen gingen die Stimmzettel aus. Nach Informationen der Welt berichtete ein Wahlleiter: „Drei Wahlen und der Berliner Marathon zusammen, das konnte nicht gut gehen.“ Die Wahlleitung habe zwischendurch sogar die Polizei angefordert, weil Unruhen drohten. Ein anderer Verantwortlicher eines Wahllokals habe gesagt, dass er am Vorabend einen Koffer mit Stimmzetteln beim Landeswahlleiter abgeholt habe. „Aber die waren nur für den Anfang. Es hieß, dass im Wahllokal Stimmzettel ausliegen würden, aber da war nichts. Am frühen Nachmittag war abzusehen, dass die Stimmzettel nicht ausreichen würden“. Viele Wahlhelfer versuchten verzweifelt neue Stimmzettel zu organisieren – sie versuchten mit Taxis oder ihrem Privat PKW zum Bezirksrathaus zu gelangen, blieben aber im Marathon stecken. Man hörte, dass sogar Leute auf Fahrrädern losgeschickt wurden, um irgendwie an die Stimmzettel zu gelangen. Zumindest in einem Fall brachte die Polizei persönlich Stimmzettel in ein Wahllokal.

Betroffen war unter anderem der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, dessen Stimmzettel auf wundersame Weise nach Kreuzberg gelangt waren. Von 14.00 Uhr bis 14.45 Uhr hieß es sogar, man müsse die „Wahl unterbrechen“. Die Kreuzberger griffen derweil zu radikaleren Maßnahmen: Dort wurden Stimmzettel „in Absprache mit der Landeswahlleitung“ am Kopierer nachgedruckt. Zuvor hatten einige Wahllokale aber anscheinend, ohne es zu merken, die falschen Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf an die Wähler ausgegeben. All diese Stimmen sind nun ungültig – wie viele Wähler so um ihr Wahlrecht gebracht wurden, ist unklar. Betroffen waren wohl vor allem die Stimmzettel für die Zweitstimmen zur Wahl des Abgeordnetenhauses. In Wilmersdorf sollen entgegen der Aussage des Bundeswahlleiters aber auch Stimmen für die Bundestagswahl betroffen gewesen sein.

Auch in Mitte gab es Verzögerungen, weil die Wahlteams zweier Wahllokale nicht rechtzeitig in das Gebäude kamen. Die elektronische Schließanlage des Gebäudes funktionierte anscheinend nicht richtig. Der Wahlvorsteher Alexander Radebach sagte: „Wir mussten die Feuerwehr rufen, die mit dem Notschlüssel das Gebäude öffnen konnten.“

Die Berliner Wähler, die sich bis spätestens 18 Uhr angestellt hatten, standen zum Teil wohl noch bis etwa 20.15 Uhr in den Schlangen, die immer und immer länger geworden waren – zu einer Zeit, als bereits die ersten Hochrechnungen veröffentlicht wurden. Die Grundsätze „allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ scheinen für diese Menschen also nicht mehr gegolten zu haben. Die Frage, in wie vielen der 2.257 Berliner Wahllokale es solche Probleme gab, konnte Landeswahlleiterin Petra Michaelis nicht beantworten. Laut dem Leiter der Landeswahlleitungs-Geschäftsstelle Gert Baasen sei die Zahl seiner Schätzung nach im oberen zweistelligen oder unteren dreistelligen Bereich. Als betroffene Bezirke nannte er Charlottenburg-Wilmersdorf, Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg.

Laut Bild sei das Ganze für Frau Michaelis unverständlich. „In der Theorie“ seien die verschwundenen Wahlzettel vorhanden gewesen. Man habe 110 bis 120 Prozent Wahlzettel drucken lassen – was mit denen passiert ist? Keine Ahnung. Insgesamt waren die Statements der Landeswahlleiterin mit sehr vielen Fragezeichen verbunden.

Neben dem Marathon wird als ein möglicher Grund der Mangel an Wahlhelfern diskutiert. Zwar habe es in diesem Jahr besonders viele Freiwillige gegeben – 34.000 im Vergleich zu den üblichen 21.000. Am Abend vor der Wahl sollen aber viele Freiwillige abgesprungen sein. Allein im Bezirk Pankow sollen am Vorabend der Wahl 70 Wahlhelfer gefehlt haben. Man munkelt, dass es anfangs nur so viele Freiwillige gab, weil registrierte Wahlhelfer in der Impfpriorisierung hochgestuft wurden, als es noch nicht genug Impfstoff für alle gab.

Der Job des Wahlhelfers ist wenig attraktiv. Eine Freundin von mir nahm als Wahlbeobachter an der Auszählung in einem der Kreuzberger Wahllokale teil, die die Charlottenburger Stimmzettel bekommen hatten. Dort wurden zwar neue Zettel geliefert, aber die Wahlhelfer schienen ziemlich überfordert. Etwa als ein Mann angerannt kam und Papiere durch das geöffnete Fenster schmiss, um kurz danach wieder davon zu rennen. Nach dem ersten Schreck war klar, dass er seine Briefwahlunterlagen reingeschmissen hatte. Aber wie geht man damit um? Zählen kann man die Stimme nicht, so einfach wegwerfen aber auch nicht. Allgemeine Ahnungslosigkeit machte sich breit – und Müdigkeit. Die acht Wahlhelfer saßen von morgens früh bis tief in die Nacht in ihrem Wahllokal – eine Ablösung gab es nicht. Irgendwann waren sie so müde, dass sie sich immer wieder verzählten. Eine Mitarbeiterin etwa legte versehentlich die Stimmzettel der CDU auf den Stapel für die Stimmen der Linken. Für den annähernd 24-stündigen Einsatz bekamen sie zwischen 50-60 Euro Aufwandsentschädigung

Der Wahltag in Berlin verlief insgesamt also genau so, wie man es im rotrotgrün regierten Berlin gewohnt ist: unvorbereitet, chaotisch und schlecht durchdacht. Da viele Wähler nicht mehr unvoreingenommen wählen konnten oder komplett auf ihr Wahlrecht verzichten mussten – sei es aus gesundheitlichen Gründen, die die Wartezeit unerträglich machten oder weil der Wahlzettel fremdverschuldet ungültig war – müsste die Wahl zumindest in Teilen wiederholt werden. Davon hört man in Berlin aber kein Wort.

Sehen Sie hier die Analyse des Verfassungsrechtlers Ulrich Vosgerau zum Thema bei TE Live: 

Anzeige
Die mobile Version verlassen