Tichys Einblick
Regierungsbildung

Wähler wählen – Parteien entscheiden?

Der von Justizminister Heiko Maas geleitete SPD-Parteitag in Bonn war ein grobe Mandatsanmaßung. Das gilt auch für die Mitgliederentscheidung der SPD.

© Sascha Schuermann/AFP/Getty Images

Wie das Verfassungsgericht am 6. Februar bestätigte, liegen ihm fünf Anträge vor, um darüber Klarheit zu schaffen: Zuständig für die Wahl des Bundeskanzlers sind die vom Volk ge­wählten Abgeordneten. Würde der Bundespräsident seines Amtes walten und den Volksver­tretern einen Vorschlag unterbreiten, wäre die Kanzlerwahl im Handumdrehen erledigt. Denn sie findet nicht nach langer Debatte auf irgendeinem Parteitag, sondern ohne Aus­sprache im Bundestag statt. Der von Justizminister Heiko Maas geleitet SPD-Parteitag in Bonn, war also ein grobe Mandatsanmaßung. Das gilt auch für die Mitgliederentscheidung der SPD.

Koalitionen kann man nicht erzwingen. Auch der Bundespräsident nicht. Versucht er dem Parlament trotzdem eine GroKo aufzudrängen, dann hat dieses erzwungene Bündnis – wenn es überhaupt zustande kommt – jedenfalls kein langes Leben. Die SPD hat in das „Sondierungs­papier“ ja schon den „dolus eventualis“ aufnehmen lassen, dass sie sich das Recht vorbehält, zur Halbzeit aus dem Regierungsbündnis auszusteigen. Doch das war gar nicht notwendig, denn Koali­tionsverträge sind unverbindlich wie Spielschulden. Man kann sie nicht einklagen. Eine Koalition kann man jeden Tag verlassen. Dafür braucht man keine Vertragsklauseln und keine Einwilligung des Koalitionspartners.

Die guten alten Zeiten sind vorbei, als es noch vier oder sogar nur drei Fraktionen im Bundestag gab. In das Berliner Parlament wurden nach den Bundestagswahlen sechs Fraktionen gebildet. Unverändert reicht es für eine „Jamaika-Koalition“ wie für eine GroKo. Mit der AfD will niemand ein Regierungsbündnis eingehen. Das will auch die AfD nicht. Und wenn niemand eine Koalition eingehen will, dann kommt sie nicht zustande. – Das ist der Pferde­fuß der Verhältniswahl – nicht zuletzt für die Wähler.

Die politische Konstellation würde sich bei Neuwahlen nur ändern, wenn es gleichsam einen „Erdrutsch“ der Wähler gibt. Davon ist die SPD nach den neuesten Zahlen wohl nicht mehr allzu weit entfernt. Trotzdem ist eher wahrscheinlich, dass Neu­wahlen keine ganz andere Konstellation bringen. Die Bewegungen der Wähler, die man erwarten darf, sind dazu wohl noch nicht groß genug. Das schätzt auch der Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, so ein. Auch deshalb spricht er sich gegen Neuwahlen aus. Denn sie würden an der verfahrenen Lage auch dann nichts ändern, wenn es nicht mehr für eine große Koalition reicht.

Ein Blick auf Spanien ist hilfreich

Ein kurzer Blick nach Spanien lohnt. Die Spanier wollten es 2016/17 nicht glauben, dass die Verhältniswahl ein Koalitionen förderndes Wahlsystem ist. Es muss versagen, wenn die Fraktionen in den Parlamenten keine Koalitionen eingehen wollen. Die spanischen Wähler haben am 20. Dezember 2016 und am 26. Juni 2017 zweimal abgestimmt, von einem dritten Urnengang im Herbst 2017 jedoch Abstand genommen. Ihren Vorsitzenden, Pedro Sanchez, haben die Sozialisten der PSOE „in die Wüste geschickt“, weil er keine Koalition bilden, aber auch eine Minderheitsregierung blockieren wollte. Inzwischen ist Mariano Rajoy unter Mitwirkung der PSOE zum Ministerpräsidenten gewählt worden, ohne dass es zu einer Koalition mit den Sozialisten kam.

Auch in Deutschland kann die SPD sehr wohl einer großen Koalition fernbleiben, ohne dass es zu Neuwahlen kommen muss. Das zeigt ein Blick in das Grundgesetz. In Art. 63 GG heißt es: „Der Bun­deskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt.“ Gesetzt den Fall, Frank-Walter Steinmeier schlägt Angela Merkel dem Bundestag vor und sie wird von einer geheimen Mehrheit gewählt, dann ist sie vom Bundespräsidenten zu er­nennen. Die SPD kann also in der Opposition gehen, und trotzdem entsteht eine Minderheitsregierung, die nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG gestürzt werden kann.

Minderheitsregierungen sind unbequem, das trifft zu. Und sie erinnern ja auch an das Ende der Wei­marer Republik. Doch die Weimarer Reichsverfassung kannte kein konstruktives Misstrauensvotum. Deshalb kam es in den elf Jahren vom Februar 1919 bis März 1930 zu 16 Regierungen. Es gibt aber noch eine andere Grundrechtsgarantie. In Art 65 GG heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richt­linien der Politik“. Er kann vom Parlament also nur insoweit an der Machausübung gehindert werden, als es das Grundgesetz erlaubt. Bei der Gesetzgebung ist das der Fall. Rechtsverordnungen, zu denen die Regierung auf der Grundlage bestehender Gesetze ermächtigt ist, sind davon nicht betroffen. Schlichtes Regierungshandeln ohnedies nicht.

Gegen den Willen der SPD kann der Bundespräsident den Bundestag also nicht auflösen und auch keine Neuwahlen ausschreiben. Der Preis ist allerdings, dass die SPD-Fraktion dafür sorgt, dass ihre Abgeordenten Angela Merkel zur Kanzlerin wählen. Art. 63 Abs. 2 GG stellt es klar: „Gewählt ist, wer die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsident zu ernennen.“ Die drohenden Neuwahlen kann die SPD-Fraktion auf diesem Wege abwenden. Und wenn sie nach der Kanzlerwahl nicht mitregieren und gar keine Koalition ein­gehen will, dann braucht sie auch keinen Koalitionsvertrag, keine Parteitage und keine Mitgliederbe­fragungen.

An Aufträge und Weisungen nicht gebunden

Bei Licht besehen ist es die Führungsschwäche von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die zu dem Verhandlungsmarathon geführt hat. Hätte er angekündigt, dass er der konstituierenden Versamm­lung des Bundestages einen Vorschlag zur Kanzlerwahl unterbreiten werde, wäre der ganze Spuk auf einen Schlag verschwunden. „Der Bundestag tritt spätestens am 30. Tage nach der Wahl zusammen.“ (Vgl. Art. 39 Abs. 2 GG) Die Entscheidung wäre von den allein zuständigen Volksvertretern also spätestens am 24. Oktober 2017 getroffen worden, und zwar ohne Rückdelegation der Verantwortung auf Parteitage, ohne Mitgliederbefragungen, und – falls die Abgeordneten der SPD bei der Kanzlerwahl mitmachen – auch ohne Neuwahlen.

Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ So steht es in Art 38 Abs. 1 GG. Das wird allgemein als freies Mandat bezeichnet. Das Gegenteil, das sogenannte imperative Mandat ist dem Grundgesetz fremd. Die ganze Posse der Kanzlerwahl, die vor allem den Europäern, aber auch dem Rest der Welt vorgespielt wird, fußt ja auf dem Versuch, das freie Mandat von innen her auszuhöhlen. Der Bundes­präsident hätte es in der Hand, diesem grausamen Spiel ein Ende zu setzen.

Es kann nicht sein, dass die Wähler wählen, und die Delegierten der Parteitage oder sogar die gesamte Parteimitgliedschaft entscheiden. An die Stelle der Volkssouveränität tritt die Parteiensouveränität. „Wenn die Wähler nicht das letzte Wort haben, dann haben sie auch nicht das entscheidende Wort.“ (Vgl. Schmidt-Bleibtreu, u.a., Grundgesetz, 2008, § 38, Rdnr. 14.) Hier berühren wir den springenden Punkt. Wer Kanzler wird, das entscheiden die Abgeordneten. Doch wer Abgeordneter wird, das entscheiden die Wähler. Sie tun das, indem sie auf amtlichen Stimmzetteln den Namen des Bewerbers kennzeichnen, dem sie sich anvertrauen wollen. Und wenn man sich den amtlichen Stimmzettel an­schaut, mit dem abgestimmt wird, dann kommt es zu einer Überraschung.

Das Prinzip „one man one vote“ verlässt man nicht ungestraft

Die Deutschen stimmen nicht mit einer Stimme ab, sondern mit zwei. Und wenn man zwei Stimmen hat, dann kann man sie auch gegeneinander richten. Ein solches Verfahren ist töricht und dumm. In Großbritannien kann man niemandem klarmachen, dass man zwei Stimmen braucht: eine für Labour und noch eine für die Konservativen. Das demokratische Grundprinzip „one man one vote“ verlässt man nicht ungestraft. Auch in Italien wird nach der jüngsten Wahlrechtsreform vom Sommer 2017 nach den Grundsätzen der Verhältniswahl mit zwei Stimmen gewählt. Man wird daher sehen, wie weit die Italiener damit bei der Parlamentswahl kommen, die am 4. März abgehalten wird. Alle Prognosen weisen darauf hin, dass es keine voll handlungsfähige Regierung geben wird.

Wer gewohnt ist, den Dingen auf den Grund zu gehen, der will keine Neuwahlen, der will aber auch keine Minderheitsregierung, der will ein neues Wahlrecht, in dem Koalitionen selten sind, weil die Wähler das letzte Wort haben, welcher Person sie die Aufgabe anvertrauen, den Kanzler zu wählen. Und wer das Grundgesetz aufmerksam liest, der kann nicht übersehen, dass sich die Verfassung in Art. 38 Abs. 1 GG nicht für die Parteienwahl, sondern für die Personenwahl entschieden hat. Das Bun­deswahlgesetz gibt dagegen einem komplizierten Verfahren den Vorzug, das höchstrichterlich in sei­nem Grundcharakter als Verhältniswahl eingestuft wird. (BVerfG v. 25.7.2012, BVerfGE 131, 316).

Weil bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit der Mandate nur selten von einer Partei alleine erreicht wird, führt die Verhältniswahl in aller Regel zu Koalitionen. Kommen sie nicht zustande, dann entsteht ein anarchischer Zustand, in dem es „keine Macht für niemand“ gibt, weil sich die Volksvertreter im Parlament wechselseitig an der Machtausübung hindern. Die politischen Parteien schrecken nicht davor zurück, von außen her den Abgeordneten das imperative Mandat aufzuzwingen: also den Abgeordneten der Partei den Befehl zu geben, im Parlament dafür zu sorgen, dass es keine voll handlungsfähige oder gar keine Regierung gibt und dann immer wieder neu abgestimmt werden muss … bis zum Umfallen.

*) Der Autor lebt in München, ist als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist und Blogger hervorgetreten, auch hat er mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, zuletzt: „BWahlG – Gegen­kommentar“, 2017, ISBN 978-3-96138-018-3. Mehr zur Person des Autor und zum Wahlrecht auf seiner Internetseite unter: https://www.manfredhettlage.de/ .

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