Tichys Einblick
Die Klassengesellschaft der Herrschenden

Von der Freude, zur Moralbourgeoisie zu gehören

Die Klassengrenzen verlaufen neuerdings wieder schärfer: Nicht jeder kann und soll sich den Wohlstand leisten, der noch vor einer Generation selbstverständlich war. Über Oben und Unten entscheidet die richtige Anschauung. Wem es daran mangelt, muss sich begnügen.

IMAGO/IPON

In England entstand ab dem späten 18. Jahrhundert in den besseren sittenstrengen Kreisen eine Theorie über die Armen und die Gründe der Armut, die bei den Oberen binnen kurzer Zeit begeisterte Anhänger fand. Sie erklärte das Elend im Souterrain der Gesellschaft nämlich nicht mit geringen Löhnen, mangelnder Bildung und schlechten Wohnverhältnissen, sondern mit der moralischen Minderwertigkeit der niederen Klassenangehörigen, vor allem mit deren Unverständnis für höhere Ziele.

In seiner Betrachtung zum Armenrecht, der “Dissertation on the Poor Laws by a Well-Wisher to Mankind” erklärte einer der führenden Theoretiker, der Mediziner und calvinistische Geistliche Joseph Townsend 1786: “Die Armen wissen wenig von den Motiven, die Höherrangige zum Handeln bewegen – Stolz, Ehre und Ehrgeiz. Es ist im Allgemeinen nur der Hunger, der sie zur Arbeit anspornen und anstacheln kann.“ Diese Erklärung besaß gleich zwei Pointen. Erstens bewies sie schlüssig, dass eine Verbesserung der Lebenslage in den unteren Klassen, etwa Tariflöhne und Krankenversicherung, nur Schaden anrichten würden, weil dann nichts mehr die Armen zur Arbeit treiben würde. Und zweitens, dass die Oberen nicht nur über die besseren Einkommen verfügten – in vielen Fällen durch Adelstitel und Glück – sondern auch über die bessere Moral.
Wohlgesinnte, die sich um die Schöpfung ihres moralischen Kapitals vorsichtshalber gleich selbst kümmerten, gab es also auch damals schon.

Die Geschichte nahm dann einen etwas anderen Bogen; irgendwann setzte sich in England und anderswo die Ansicht durch, dass die Armut weder von der „Powerteh“ (Fritz Reuter) noch von der moralischen Niedrigkeit der Armen kommt, dass trocken Brot nicht die Wangen rot macht, und auskömmliche Gehälter nebst Grundabsicherung das Elend besser bekämpfen als eine Gardinenpredigt von Angehörigen besserer Kreise.

Zwar verschwand die relative Armut nie, aber irgendwann, um einmal ein Beispiel herauszugreifen, immerhin die öffentlichen Wärmestuben für Leute, die sich die Heizung daheim nicht mehr leisten konnten. In den besten Zeiten, wieder ein völlig zufällig aus dem Zusammenhang gerissenes Detail, mussten auch Arbeiter und Verkäuferinnen sich nicht vor der Stromrechnung fürchten und die Duschminuten zählen. Der Leser merkt, es handelt sich um eine stark geraffte Geschichtsschreibung. Wir überspringen zahlreiche Stationen.

Später nahm die gesellschaftliche Entwicklung jedenfalls wieder eine andere Kehre. Die Nachfahren des Calvinisten Joseph Townsend, die einen stringenten Zusammenhang zwischen Geld- und Moralmangel bei anderen Leuten feststellen, erleben im Deutschland des Jahres 2022 eine neue Blüte. So, wie übrigens auch die Fanciulli, die Kinderstoßtrupps, die der Endzeitprediger Savonarola weiland in Florenz in Marsch setzte. Nicht nur in der Mode kommt alles mindestens zweimal.

In einem Detail unterscheiden sich die Wohlgesinnten, die heute den Ärmeren ihren moralischen Unwert nachweisen, von ihren Vorgängern: Sie speien nach unten, um damit ihre besondere Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen.
Womit wir bei Martin Hundhausen wären, Träger des von einem Lobbyverein vergebenen Deutschen Solarpreises, Professor und Klimalisten-Stadtrat zu Erlangen, außerdem neben Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf Twitter einer der rührigsten Trommler für die Sonnen-und-Wind-Wende. Eben dort, auf Twitter (Sie wissen schon, die Plattform, auf der die Wohlgesinnten morgens ankündigen, wegen Elon Musk zu gehen, und mittags, dort zu bleiben, um dem Faschismus keinen Fußbreit zu gönnen), auf dem Kurznachrichtendienst jedenfalls erklärte Hundhausen kürzlich jeden zum Klimawandelleugner, der keine 15 000 Euro für ein Solardach erübrigt.

Wer über einen Lehrstuhl verfügt, ein Professorengehalt aus Steuermitteln bezieht und sich keine Gedanken über die Zukunft der gesetzlichen Rentenversicherung machen muss, weil er seine Altersversorgung nicht von dort bezieht, dem erscheint auch der Unterschied zwischen einer monatlichen Zahlung an den Energieversorger und einer Investition von 15 000 Euro, die jemand erst einmal haben oder borgen müsste, als nebensächlich. In diesem Milieu gelten materielle Erörterungen generell als unfein.

Etwa zehn Prozent der Beschäftigten in Deutschland verdienen bei Vollzeitarbeit weniger als 2000 Euro brutto, in Ostdeutschland gut 18 Prozent. Ein noch deutlich größerer Anteil liegt unter der Geringverdienergrenze, die bei zwei Dritteln des Medianlohns verläuft. Im Jahr 2021 galten 6,16 Millionen Bürger in Deutschland als überschuldet, damals allerdings noch zu Niedrigzinsen. Hauseigentümer, die über ein Solardach entscheiden können, gibt es in Deutschland verglichen mit den europäischen Nachbarn außerordentlich wenige. Und auch manche Eigentümer eines Hauses, denen nach Steuern und Abgaben mehr als der Durchschnitt bleibt, und deren Hausdach überhaupt so liegt, dass sich eine Solarmodulbestückung lohnt, können nicht ohne weiteres auf 15 000 Euro zurückgreifen oder einen entsprechenden Kredit aufnehmen. Beispielsweise deshalb, weil sie mit dem, was Staat und Sozialkassen ihnen übriglassen, schon einen Hauskredit bedienen. Aus Sicht von Martin Hundhausen haben sie nicht nur ihre materielle Existenz falsch gewählt, wenn es ihnen an zwei frei verfügbaren Professorengehältern in der Hinterhand mangelt. Sie gehören auch zu den moralisch Verkommenen, die durch ihre Entscheidung, sich nicht zusammenzureißen und einfach anderswo zu sparen, Mitschuld am globalen Unglück tragen. „Klimawandelleugner“ liegt sprachlich nicht umsonst in der Nähe von „Holocaustleugner“.

Natürlich reichen 15 000 Euro längst nicht aus, um sich wirklich weitgehend unabhängig von der externen Stromversorgung zu machen. Dazu wäre außerdem ein sehr leistungsfähiger und deshalb nicht gerade kostengünstiger Stromspeicher nötig. Es müssen schon mehrere Faktoren zusammenfallen, um hundhausengefällig zu leben: Ein eigenes Haus mit dem Dach auf der Sonnenseite, dazu das nötige Kapital für Solarmodul und Batterie. Kommt dann noch ein vom Steuerzahler bezuschusstes Elektromobil dazu, dann ist das Glück allerdings fast perfekt. Zu der materiellen Fortune kommt die Befriedigung, nicht nur zwischen saturiert und weniger gut gepolstert unterscheiden zu können, sondern auch zwischen gut und schlecht, und gleich zweimal auf der richtigen Seite zu stehen wie weiland Reverend Townsend.

Der Autor betont, um Einwänden vorzubeugen, dass er den Professor aus Erlangen nicht wegen seiner individuellen Bedeutung auswählt, sondern, weil er einen Typus verkörpert, der die Gesellschaft prägt. So wie auch der Grünen-Funktionär aus München, der meinte, die meisten, die mit dem Auto zur Arbeit pendeln, seien schlicht zu faul zum Radfahren. Und ganz ähnlich wie die auch für die steuergeldfinanzierte Plattform Correctiv tätige Journalistin, die vor einiger Zeit auf Twitter Autofahrern vorhielt, welchen Schaden sie beispielsweise durch ihre Arbeitspendelei anrichten, und ihnen als Alternative eine Bahncard 100 empfohlen hatte. Der Preis für eine Bahncard 100 zweiter Klasse liegt derzeit bei 4144 Euro. Die Journalistin weiß natürlich, dass es sich um ein Statussymbol für Leute handelt, die von Stadtzentrum zu Stadtzentrum im ICE reisen, dass sie einem Berufspendlern außerhalb der Metropolen gar nichts nützen würde, selbst wenn er das Geld übrighätte, und dass auch der Handwerker nicht mit dem Zug anreist, um ein verstopftes Rohr bei einer wohlgesinnten Medienmitarbeiterin wieder freizumachen. Sie möchte genauso wie ein anderer Professor, der ebenfalls unermüdlich für die Energietransformation trommelt, stolz die Bilder seines Tesla ins Netz stellt und sich über Leute lustig macht, die noch den teuren fossilen Treibstoff kaufen, etwas mitteilen.

Nämlich, dass einfacher steuergeldgespeister Wohlstand allein noch kein angenehmes Leben garantiert. Wirklichen Spaß macht es erst mit der Möglichkeit, sich selbst zur auch moralisch höherstehenden Klasse zu rechnen, und nach unten zu verachten.

Um noch einmal zu den Solardachleugnern ohne das nötige Kleingeld zurückzukommen: Voraussetzung für das Gutleben nach dieser Definition ist zwangsläufig ein eigenes Haus ausreichender Größe. Wir wissen zwar nichts über die Wohnverhältnisse von Professor Hundhausen, vermuten aber, dass er sich nicht selbst als Klimaleugner anklagen will. Stefan Rahmstorf postete kürzlich ein Foto, das ihn auf dem weitläufigen Gartengrundstück hinter einer eigenen Immobilie zeigte, die außerdem – auch darüber informierte er die Twittergemeinde – über eine Wärmepumpe verfügt. Die wiederum lohnt sich nur bei einem ausreichend großzügigen Raumangebot. Wir kommen gleich darauf zurück. Auch die Transformationsforscherin Maja Göpel verfügt offenbar über ein Eigenheim. Jedenfalls besuchte eine Spiegel-Mitarbeiterin vor einiger Zeit die rührige Medienfigur in ihrem, wie es hieß, idyllisch gelegenen Haus im Süden Berlins, dem Ort, an dem Ihr „Weltrettungsbuch“ (Spiegel) „Unsere Welt neu denken“ entstanden war. Beziehungsweise, wie sich später herausstellte, an dem Ort, an dem sie jedenfalls die Textlieferungen ihres nichtgenanntseinwollenden Ghostwriters entgegengenommen hatte.

Irgendwas muss dieser Lebensstil mit ausreichend großer Immobilie und Grundstück ja an sich haben, dass ihn viele für sich wünschen. Kommt dann noch die Absicherung durch eine Professur wie bei Göpel und ein demnächst, wie sie ankündigte, zu gründendes eigenes Institut dazu, das vermutlich auch wieder an das Verteilnetz für öffentliches Geld angekoppelt wird, lässt sich die Lebensqualität kaum noch steigern. Eigentlich nur noch dadurch, dass sie eine gewisse Exklusivität besitzt, ähnlich wie im vorrevolutionären Frankreich und im vor- und frühindustriellen England, wo die Klassengrenzen noch scharf gezogen waren.

Und dorthin kehrt die gesellschaftliche Entwicklung gerade wieder zurück. Diesmal unter der Fahne der Progressivität und unter Anleitung hochmoderner neuer well-wisher to mankind. Auf der Ebene der EU gibt es, angestoßen von Ursula von der Leyen persönlich, das Programm des „New European Bauhaus“, abgekürzt NEB, in das in den nächsten Jahren viel Geld, Mühe und Beratungstätigkeit fließen soll. Es setzt sich zum Ziel, das Bauen klimagerecht zu gestalten. Denn der Bau, die Erhaltung und das Bewohnen von Häusern selbst, so von der Leyen, trügen mit 40 Prozent zum weltweiten menschengemachten CO2-Ausstoß bei. Nicht die Häuser in der EU natürlich, deren Anteil fällt sehr viel kleiner aus. Aber nach der Ansicht von Gesellschaftslenkern aus Brüssel müssen die Staaten der Gemeinschaft der übrigen Welt als Vorbild dienen. Es läuft darauf hinaus, weniger zu bauen, die Bürger am Platzverschwenden zu hindern und ihnen überhaupt das Problematische daran deutlich zu machen, sich die Größe ihrer Wohnfläche nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen auszusuchen. Und auch die Art, wie sie wohnen.

In einem Text in der Süddeutschen, der das NEB lobte, stellte Hans Joachim Schellnhuber, der frühere Leiter des Potsdam-Instituts und ehemalige Vorgesetzte von Stefan Rahmstorf fest, es gelte, „Verirrungen wie freistehende Einfamilienhäuser“ auszumerzen. In einer solchen Verirrung mit Wiese ringsum wohnen, wie erwähnt, Rahmstorf, Göpel, Vizekanzler Robert Habeck und noch der eine oder andere Wohlgesinnte. Aber es sollen eben nicht mehr Hinz und Kunz so leben können.

Maja Göpel deutete in einem Interview mit der Plattform „Klimareporter“ kürzlich an, dass sich die von ihr gewünschten Ergebnisse möglicherweise nicht ganz freiwillig erreichen lassen, sondern eine „politische und wirtschaftliche Neuordnung“ mit strenger Hand herbeigeführt werden müssen. Das klingt dann so:

„Maja Göpel: Wir merken, dass die Art und Weise, wie wir zentrale Bereiche der Gesellschaft organisiert haben, zum Beispiel bei der Energieversorgung, Landnutzung oder der Stadtplanung, nicht mehr die gewünschten Ergebnisse erzielt und wir mit kleinen Veränderungen innerhalb der bisherigen Denklogiken keine Besserung verzeichnen.

Klimareporter: Das bedeutet?

Göpel: Wir brauchen eine strukturelle und damit politische und wirtschaftliche Neuordnung. Das besagen Begriffe wie Energiewende, Verkehrswende, Ernährungswende, Ressourcenwende.“

Das besagen Begriffe. (Bei dem Zwiegespräch stand ihr kein Formulierungshelfer zur Seite, weshalb es sich dann eben anhört wie die unbearbeitete Maja Göpel, aber das nur nebenbei).

Wo die EU-Kommission, Schellnhuber und Göpel neuordnen, kann „Quarks“, das Weißkittelmagazin des WDR, nicht abseits stehen. In einem längeren Beitrag („Darum brauchen wir die Bauwende“) erklären die Mitarbeiter des Gebührensenders, wie die Zukunft des Wohnens aussehen soll. Das hauptsächliche Ziel besteht darin, anderen vorzurechnen, dass sie zu viel Fläche verbrauchen, ob in der freistehenden Verirrung oder überhaupt. Wie immer geht es nicht ohne Expertise. Was Claudia Kemfert auf dem Gebiet der Energieversorgung und Katja Diehl im Feld der Mobilität leisten, liefert ein Wohnforscher namens Daniel Fuhrhop für „Quarks“:

„Der Wohnforscher Daniel Fuhrhop von der Universität Oldenburg“, heißt es dort, „beschäftigt sich damit, wie wir existierenden Wohnraum besser nutzen könnten. Möglichkeiten gibt es viele. Ein Beispiel sind Wohnungstauschbörsen. Sie könnten dabei helfen, dass Menschen, die allein in großen Wohnungen leben, kleinere Apartments finden. Weil es häufig ältere Menschen sind, die alleine in einem Haus oder in einer großen Wohnung leben, könnte auch geförderte Hilfe bei Umzügen einen Beitrag leisten, um diesen Wohnraum ‘zu erschließen‘.“

Wer hätte gedacht, dass der Satz „na, so allein?“ demnächst nicht mehr unbedingt in der Nachtbar fällt, sondern an der Wohnungstür, und seine Fortsetzung lautet: „…auf so viel Quadratmetern?“ Am Ende, das wusste schon ein Transformationspraktiker und Neuordner aus Russland, läuft alles auf die Frage zu: что делать? Was tun?
„Quarks“ gibt auch darauf eine Antwort.

„Was können wir so lange tun? […] Wie viel Wohnraum brauchen wir eigentlich zum Leben? Haben wir nicht vielleicht doch noch ein Zimmer frei, das wir vermieten können? […] Und vielleicht lohnt sich ja auch ein Gespräch mit den Eltern oder Großeltern, um sie davon zu überzeugen, dass sie auch mit deutlich weniger Wohnraum auskommen können.“

Es lohnt sich natürlich allemal für Gesellschaftsmitglieder, die bisher nicht beim WDR oder anderen Gemeinwohlsendern zum Tarif untergekommen sind, also dort, wo man Ratten in ihre Löcher zurückprügelt, nicht im akademischen Festanstellungsbetrieb und nicht im steuerfinanzierten Zivilgesellschaftsverein. Sie können Großelter und Elter 1 & 2 jetzt auffordern, ihre Pflicht zu tun, nämlich die, sich subito einen schlanken CO2-Fuß und Platz zu machen.

Allerdings betrifft die Neuordnung auch sogenannte bisher normale Leute, also diejenigen, die Steuern und Abgaben liefern, aber eben nicht über die bekömmliche Moral verfügen, die künftig über den Platz in der Gesellschaft bestimmt.

Die erwähnte gesellschaftliche Neuordnung läuft auf die Wiedererrichtung der einzelnen Stände hinaus, also einer Gliederung, die beispielsweise in Frankreich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als alternativlos galt. Zum neuen ersten Stand der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts gehören also Eigentümer weitläufiger Anwesen, wenn sie auch über das Kapital verfügen, das Dach mit Solarzellen zu bestücken, sich idealerweise mit dem Elektrowagen oder dem Rad zum nahegelegenen Arbeitsplatz in einer öffentlichen Institution bewegen und es außerdem nicht versäumen, die Öffentlichkeit mit Traktaten zur korrekten Lebensführung zu versorgen. Dann, aber nur dann gilt der Flächen- und der sonstige Verbrauch als gerechtfertigt. Den Anschluss der Solaranlage an das Stromnetz bezahlt die Allgemeinheit über die Netzgebühr, bei der Anschaffung des Batterieautos hilft die steuerfinanzierte Kaufprämie, für Gehalt und Altersvorsorge kommen die Steuerzahler ebenfalls auf, denn irgendeine Wertschöpfung wird bei deren fossiler Arbeitsplatzpendelei der anderen ja herausspringen.

Im zweiten Stand reicht es zumindest zu einem optimierten kleinen Schachtelhaus mit Schießschartenfenster und winzigem Grünstreifen ringsum, das dem ressourcenschonenden und deshalb allenthalben empfohlenen tiny home mit kleinem Fußabdruck schon sehr nahe kommt. Die übrigen resp. noch niederen Stände müssen sich darauf vorbereiten, ihre Zukunft in einem wesentlich stärker regulierten Zustand zu verbringen als jetzt. Dazu gehört vor allem die Problematisierung ihres Überkonsums. Was die Frage der Wohnfläche angeht: Da trifft es sich gut, dass die Entwicklung der Steuerbelastung einerseits und der Währung andererseits Normalverdienern kaum noch die Chance lässt, eine Immobilie in einem Ballungszentrum zu erwerben. Ein Teil des Degrowth, der von neocalvinistischen Predigern in moralkompensierten Häusern erdacht wird, läuft also eh „wie am Schnürchen“ (Ochs auf Lerchenau).

Auf FFF-Demonstrationen tragen Kinder ab und zu von Erwachsenen angeregte Plakate spazieren, auf denen es heißt: „Oma, was ist ein Schneemann?“ Den wird das Kind noch erleben; viel wahrscheinlicher ist es, dass es Oma später einmal fragt, ob es wirklich eine Zeit gab, in der sich auch ein Facharbeiter ein Einfamilienhaus leisten konnte. Die nächste Generation fragt möglicherwiese schon, jedenfalls in manchen Gegenden, wenn von früher erzählt wird: „Was war ein Facharbeiter?“

Im Spiegel teilte ein Autor den Lesern mit, worum es in den neuen Zeiten – also diesen – geht: „Unsere Kleider, Autos, Waschmaschinen, Häuser, Straßen, Flugreisen, Schulen, Krankenhäuser, Kinos, Supermärkte und Hallenbäder haben wir mit dem Leid gegenwärtiger und künftiger Generationen vor allem im Globalen Süden bezahlt.“ Wieder gutzumachen sei das nur durch Bußgeldzahlungen.

Screenshot: spiegel.de

Erstaunlicherweise fehlen Zeitschriften in der Aufzählung der Konsumgüter, die mit südlichem Leid bezahlt werden. Jedenfalls begründet diese Argumentation auch, warum es moralisch geboten ist, den einen oder anderen Arbeitsplatz aus Deutschland zu verlagern, und Energie, Wohnen, bestimmte Konsumgüter und Lebensmittel durch Steuern und Abgaben so zu verteuern, dass Oben und Unten wieder sehr viel deutlicher hervortreten. Ein Redakteursgehalt beim WDR beispielsweise kann bei 100 000 Euro im Jahr liegen. Das erlaubt es dem einzelnen Mitarbeiter, gleichzeitig eine Buß- und Verteuerungspredigt zu halten, und mit seinen Fotos vom Tauchurlaub in Costa Rica zu signalisieren: Für mich und unsereins reicht’s.

Was natürlich auch für andere Medienschaffende gilt.

Statt Wohlstand für alle heißt die Zukunft: Wohlstand für die moralisch dafür Qualifizierten.

Dafür, womit sich diejenigen, für die sich der Wohlstand nicht so recht eignet, beispielsweise dann beschäftigen sollten, wenn der Arbeitsplatz in der Automobilindustrie oder in der Backstube wegfällt, weiß der weiter oben zitierte Professor mit dem Tesla auch schon Rat: Sie können in einem Pflichtjahr für Ältere endlich einmal etwas für die Gemeinschaft tun.

Volker Quaschning, Jahrgang 1969, ist zwar auch schon über 50. Aber er wird sicherlich darauf verweisen, dass er schon genug für das Land erübrigt, und an seiner Stelle sowieso unabkömmlich ist.

Es entsteht gerade ein neuer Erster Stand mit allem Drum und Dran. Und wir können sagen: Wir sind dabeigewesen. Nicht bei dem Stand natürlich, aber bei dem gesellschaftlichen Prozess. Wie sollte der neue Erste Stand am besten heißen? „Moralbourgeoisie“ wäre eine Möglichkeit, die ausdrückt, dass es in dieser neuen Zeit weniger auf materielle Meriten denn auf Weltanschauung ankommt. Je schärfer die Kasten- und Klassengrenzen ausfallen, je ungemütlicher das Unten sich gestaltet, desto stärker muss die Moral bemüht werden, um die Verhältnisse zu rechtfertigen. Das war schon immer so, in Zeiten von Marie Antoinette wie in den Jahren der calvinistischen Moraltheoretiker.

Noch nie in der Geschichte fand eine herrschende Klasse die Idee der Klassengesellschaft schlecht. In der DDR, also dort, wo die ebenfalls per selbstgeschöpfter Moral abgesicherten Oberen sich in Wandlitz mit Haus, Hausdienern, Lebensmittelieferservice aus Westberlin und grässlichen Schrankwänden eine Spezialmischung aus ostelbischem Rittergut (Herrschaftsform) und Gelsenkirchner Barock (Ästhetik) herstellten, dort hieß der einschlägige Satz dazu: „Arbeiter- und Bauernstaat ist prima. Man darf nur kein Arbeiter oder Bauer sein.“

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