Vor vielen Jahren publizierte der englischen Historiker Tony Judt ein Buch über die EU (A Grand Illusion?: An Essay on Europe, 1996).
Judt hob damals hervor, dass ihn dieses europäische Einigungsprojekt an den aufgeklärten Absolutismus erinnere. Die Eliten, die das Projekt trügen, seien überzeugt, für das Wohl des Volkes oder der Völker zu arbeiten, zugleich seien sie aber der Meinung, dass die Masse des Volkes unfähig sei, die eigenen Interessen in rationaler Form zu artikulieren. Die Leute müssten also durch sanften Druck, väterliche Bevormundung und manchmal auch durch die eine oder andere Märchenerzählung – Kindern erzählt man ja auch nicht immer die Wahrheit – auf den richtigen Weg gelenkt werden.
Dass die EU in dieser Form ein gespanntes Verhältnis zur Demokratie hat, ist ohne Zweifel richtig, wie gespannt dieses Verhältnis ist, hat uns in den vergangen Tagen noch einmal der Spitzenkandidat der europäischen Volkspartei für das Amt des Kommissionspräsidenten, Manfred Weber, vor Augen geführt. Er schlug vor, Parteien, die im EU-Parlament vertreten, aber „europafeindlich“ seien, oder gar die EU zerstören wollten, die finanzielle Unterstützung aus den Kassen der EU zu entziehen. Konkret dachte Weber hier an das französische Rassemblement National von Marine Le Pen oder an die deutsche AfD. Nun kann man zu diesen Parteien stehen, wie man will, und ob sie in irgendeiner Form ein realistisches Programm für die Reform der EU zu bieten haben, könnte man ja durchaus bezweifeln, aber der Vorschlag von Weber überrascht dann doch. Er begründet ihn auch damit – so die WELT – dass keine Institution ihre eigenen Feinde finanzieren müsse: „Aber es gibt keine Institution auf der Welt, die so naiv ist, ihre eigenen Gegner zu finanzieren. Diese europafeindlichen Parteien bezahlen mit den EU-Geldern der Steuerzahler Wahlkämpfe, Aktionen und Plakate, deren Ziel es ist, die EU abzuschaffen.“
Probleme mit dem demokratischem Pluralismus
Nun galt das Bundesland, aus dem Weber stammt, lange Zeit als eine Art Einparteienstaat. Ja es gab neben der CSU irgendwie schon noch andere Parteien, aber eine sonderlich wichtige Rolle, außer als loyale Opposition, ohne die geringste Chance jemals selber die Regierung stellen zu können, spielten sie in der bayerischen Politik eigentlich nicht. Diese allseitige Harmonie, die es in Bayern leider so nicht mehr gibt, wünscht sich Weber aber für die EU. Leider scheint er freilich nicht so recht begriffen zu haben, was Freiheit in einer Demokratie bedeutet. Sie schließt eben auch die Freiheit ein, unsinnige, unrealistische oder sogar destruktive politische Positionen zu vertreten, solange man sich grundsätzlich an die Spielregeln einer friedlichen Auseinandersetzung mit Argumenten hält und am Ende dann auch das Ergebnis demokratischer Wahlen als verbindlich akzeptiert.
Der Wähler entscheidet, was er für vernünftig hält, nicht irgendein „Wächterrat“. Würde man politische Parteien danach vorsortieren, ob ihre Programme konstruktiv und staatstragend sind, würden die Inhaber der politischen Macht das natürlich nutzen, um schon im Vorhinein alle Konkurrenten auszuschalten. Ein Beispiel dafür bietet z. B. Staatspräsident Erdogan in der Türkei. Bei den letzten Parlamentswahlen versuchte er die kurdische Partei HDP im Wahlkampf zu behindern, ohne die Partei freilich von den Wahlen dann wirklich auszuschließen. Erdogan stützte sich dabei auf die Begründung, die HDP unterhalte Verbindungen zur terroristischen PKK, die eine Sezession der Kurdengebiete mit Gewalt herbeiführen wolle. Trotzdem ließ er am Ende die HDP aber in das türkische Parlament einziehen. Mehrere Abgeordnete der HDP wurden allerdings zeitweilig in Haft genommen, nach Aufhebung ihrer Immunität.
Was die HDP für Erdogan ist, das sind für Weber offenbar die AfD und das Rassemblement National in der EU, obwohl eine Verbindung zu einer Bürgerkriegsmiliz wie der PKK diesen Parteien wohl kaum vorzuwerfen sein dürfte. Aber man kann die Liste europafeindlicher Parteien in der Weberschen Perspektive vermutlich beliebig verlängern. Wie sieht es z. B. mit der österreichische FPÖ aus, oder der italienischen Lega oder auch mit Fidesz, der ungarischen Regierungspartei? Ach nein, das geht ja doch nicht, denn Fidesz, gehört ja immer noch im EU-Parlament zur europäischen Volkspartei (obwohl ihre Rechte zur Zeit suspendiert sind), deren Spitzenkandidat Weber ist, und früher hat sich auch Innenminister Seehofer als damaliger bayerischer Ministerpräsident immer gerne mit Orban, dem Regierungschef von Ungarn getroffen. Müsste es dafür nicht eigentlich auch nachträgliche finanzielle Sanktionen geben, in diesem Fall dann für die CSU?
In einer Demokratie müssen Parteien nicht „systemkonform“ sein
Was Weber nicht zu wissen scheint: Es ist in demokratischen Staaten durchaus möglich, dass z. B. Regionalparteien die Auflösung des bestehenden Nationalstaates verlangen und dennoch ganz normal ihre Sitze im Parlament einnehmen und sogar staatliche Wahlkampfunterstützung erhalten können. Die Scottish National Party in Großbritannien ist dafür das beste Beispiel oder auch die katalanischen Nationalisten in Spanien, die ja nicht wegen ihres Programms Ärger mit der spanischen Justiz haben, sondern weil sie, wie man meint, versucht haben, auf eigene Faust die katalanische Unabhängigkeit auszurufen.
Was also auf nationaler Ebene legal ist, soll es in Brüssel nicht sein. Hier soll am Ende nur derjenige ein Recht haben, an der politischen Debatte mit allen Rechten und daher chancengleich teilzunehmen, der eine grundsätzlich positive oder doch jedenfalls keine vermeintlich destruktive Einstellung zur EU hat. Und in der Tat zeichnet sich das EU-Parlament ja dadurch aus, dass über die eigentlich wichtigste Frage der europäischen Politik – „Wieviel Zentralismus wollen wir eigentlich?“ – kaum je offen diskutiert wird. Wer den Trend zu immer mehr Zentralismus in Frage stellt, würde ja schon als Feind EU-Europas gelten, und ginge es nach Weber, der sicherlich nicht der einzige ist, der im EU-Parlament so denkt, würden ihm dann die finanziellen Mittel entzogen werden. Man sollte solche Vorschläge nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Wenn es um die Schaffung eines echten europäischen Bundesstaates geht, hat der EUGH es mit den Feinheiten des Rechtes noch nie so genau genommen; das hat ja auch die Eurokrise gezeigt. Würde also das EU-Parlament mit den Stimmen der Abgeordneten der „guten“ „europafreundlichen” Parteien, beschließen, den „bösen“ Parteien den Geldhahn zuzudrehen, könnte es durchaus sein, dass der EUGH eine Beschwerde gegen einen solchen Beschluss zurückweist, und ob Karlsruhe dann den Mut haben wird, dagegen vorzugehen, ist mehr als ungewiss.
Von daher ist der Vorschlag von Weber sicherlich zukunftsträchtig. Man fragt sich freilich, ob er je darüber nachdenkt, was er mit solchen Initiativen anrichtet. Es gibt jetzt schon viele Bürger in Europa, die diese europäische Einigung als eine Zwangsveranstaltung ansehen und das EU-Parlament nicht als ein echte demokratische Vertretung der Bürger betrachten. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es Weber mit seinen Vorschlägen gelingt, diese Skeptiker davon zu überzeugen, dass ihre Vorbehalte gegenstandslos sind.
Interessant wäre auch, wie der Vorschlag von Weber in Großbritannien ankommt, falls er dort zur Kenntnis genommen wird. Wie es jetzt aussieht, werden die Briten ja vielleicht doch noch einmal an der EU-Wahl im Mai teilnehmen. Wird dann den britischen Konservativen die EU-Finanzunterstützung entzogen, weil sie nicht „europafreundlich” genug seien? Im Sinne der Vorschläge von Weber müsste man das wohl wirklich tun. Das wird jenseits des Kanals die Liebe zur EU unter konservativen Wählern sicher enorm steigern. Von daher ist das eine blendende Idee, mit der Manfred Weber gezeigt hat, dass er wirklich ein würdiger Nachfolger für den großen luxemburgischen Staatsmann Jean Claude Juncker wäre.