Nachdem die Grünen zunächst den bürgerlichen Parlamentarismus ablehnten und bekämpften, begannen sie recht schnell, die Vorzüge dieses Systems schätzen zu lernen und für sich zu nutzen. Heute fürchten sie, daß die AfD es ihnen gleichtun könnte.
„Wenn sie Ämter kriegen, verändern sie erst die Haare, dann die Einstellung“ – mit diesen Worten zitiert die taz vom 10. Januar das aus Karlsruhe stammende Gründungsmitglied der Grünen, Harry Block. Er ist deswegen schon vor Jahren aus der Partei ausgetreten und Berufsschullehrer geworden, nachdem er für seine frühere Partei zunächst einige Zeit im Karlsruher Stadtrat saß.
Ähnlich äußerte sich einmal auch Joschka Fischer mit der Feststellung, die Veränderung des Menschen durch das Amt erfolge weit schneller und wirksamer als die Veränderung des Amtes durch den Menschen. Eine Bestätigung der alten Erkenntnis von Karl Marx, dass das Sein das Bewusstsein und nicht das Bewusstsein das Sein bestimmt.
Anders als Block und manch andere Kämpen der (links-)radikalen Sturm- und Drangphase der Grünen zog der Ober-Realo der Partei aus dieser Erkenntnis aber keineswegs den Schluss, die eigene politische Einstellung den Ämtern vorzuziehen. Vielmehr entschied er sich zusammen mit der Mehrheit seiner Parteifreunde und -freundinnen mit Haut und Haaren für die unbestreitbaren Vorzüge politischer Ämter.
Zu ihnen gehört keineswegs, wie Fischer und andere auf der Berliner Geburtstagsfeier ihrer Partei betonten, nur der Zugang zu politischer Gestaltungsmacht, sondern auch manche materiellen Vorzüge staatlicher Versorgung. Sie kamen dem ehemaligen Betreiber eines notleidenden Frankfurter Buchladens (Karl Marx Buchhandlung) und Taxifahrer Fischer wie auch manch anderen prekarisierten Achtundsechzigern recht gelegen, nachdem sich ihre Träume von der sozialistischen (Welt-)Revolution in Luft aufgelöst hatten.
Der Einzug der Grünen in die deutschen Parlamente bewahrte jedenfalls viele ihrer Funktionäre, die sich wie Fischer in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren für die Laufbahn des Berufsrevolutionärs entschieden hatten, vor dem endgültigen sozialen Abstieg und bescherte den einstigen Bürgerschrecks und Revoluzzern stattdessen ein höchst bürgerliches Dasein mit staatlicher Rundum-Versorgung.
Wer sich davon einen anschaulichen Eindruck verschaffen möchte, kann dies unter anderem bei einem Besuch der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg tun. Die Geschichte und der Aufstieg des Sattlerlehrlings Friedrich Ebert steht für viele frühe Sozialdemokraten, die aus der Arbeiterschaft kamen und gegen die herrschenden Verhältnisse und Klassen ihrer Zeit kämpften. Manche von ihnen zahlten hierfür einen hohen Preis, andere wurden nicht nur Abgeordnete und Minister, sondern Kanzler oder Präsidenten.
Derlei Karrieren waren ihnen meist nicht in die Wiege gelegt, was für die frühen Funktionäre der Grünen so nicht gilt. Als Kinder meist gut situierter, nicht selten sogar höchst arrivierter bürgerlicher Familien der Adenauer-Zeit und der Wirtschaftswunderjahre verweigerten sie sich den dadurch vorgegebenen persönlichen und beruflichen Entwicklungs- und Karrieremustern, rebellierten gegen die bürgerliche Lebensweise ihrer Eltern, die sie als spießig und autoritär brandmarkten und ablehnten. Der Aufstieg ins gesellschaftliche, politische oder gar wirtschaftliche Establishment galt ihnen als absolutes No-Go.
Das änderte sich allerdings schon drei Jahre nach Gründung der Partei im Jahr 1980 mit dem Einzug der Grünen in den deutschen Bundestag, nachdem ein Jahr zuvor die Bremer „Grüne Liste“ den Einzug in die dortige Bürgerschaft geschafft hatte. Die ersten Abgeordneten der Grünen begaben sich damit auf einen Weg, den manche von ihnen vielleicht auch beschritten hätten, wären sie nicht in den Strudel einer studentischen Rebellion geraten, der sie zunächst einmal auf linksradikalen Anti-Establishment-Kurs brachte. Sie säßen heute womöglich ebenso in Amt und Würden, freilich nicht für die grüne Partei, sondern für CDU, CSU oder FDP.
Die rebellischen Tage der Grünen sind inzwischen Geschichte, ihre Führungsfiguren aus dieser Zeit weitgehend ausgemustert, sieht man von dem ehemaligen Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Winfried Kretschmann, einmal ab. Ähnlich wie Fischer steht aber auch er als Person wie nur wenige andere für die Anpassung seiner Partei an die herrschenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland sowie für ihren Aufstieg in das gesellschaftliche und politische Establishment. Dort haben sie inzwischen in vielen Bereichen, wie etwa den Medien und den Hochschulen, eine Führungsrolle eingenommen.
Das verdankt die Partei unter anderem sicherlich auch ihrer Beharrlichkeit insbesondere in Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes und der Gleichstellung von Frauen; gleichzeitig hat sie aber wie kaum eine andere vor ihr das Darwinsche Prinzip des „Survival of the Fittest“ verinnerlicht, das fälschlicherweise gerne als das „Überleben des Stärkeren“ bezeichnet wird. Tatsächlich beschrieb Charles Darwin jedoch das in der Natur vorherrschende Prinzip des „Überlebens des Anpassungsfähigsten“. Ein Prinzip, das erstmals übrigens nicht von Darwin, sondern von seinem Zeitgenossen Herbert Spencer, einem englischen Soziologen, beschrieben worden ist, dessen Schriften Darwin kannte.
Tiere und Pflanzen, die sich ihren sich verändernden Umweltbedingungen nicht anzupassen vermögen, erweisen sich laut Darwin auf Dauer als nicht überlebensfähig. Die Anpassungsfähigsten wiederum setzen sich gegen andere allmählich durch. Ein Selektionsvorgang der Natur, den die Grünen, auf Gesellschaft, Politik und Wirtschaft übertragen, zwar gewiss als „rechts“ oder gar „nazistisch“ brandmarken würden, den sie aber gleichwohl für sich selbst höchst wirksam verwenden. Lehnten sie vor ihrer offiziellen Gründung noch allen „bürgerlichen Parlamentarismus“ rundweg ab, zogen sie dann vor knapp vierzig Jahren in die deutschen Parlamente ein, regierten danach in den Ländern und im Bund zunächst nur mit der SPD und der Linken, später auf Landesebene aber auch mit der Union. Inzwischen erklären sie sich für die kommende Bundestagswahl für alle Parteien, außer der AfD, als bündnisfähig.
Daraus spricht, nach mittlerweile mehr als fünfzehn Jahren Opposition im Bund, nicht nur ein bedingungsloser (Anpassungs-)Wille zur Rückkehr an die Macht, sondern auch die Angst, durch einen neuen politischen Konkurrenten genau an dieser Rückkehr gehindert zu werden. In Gestalt der AfD ist inzwischen nämlich in alle Landtage und in den Bundestag eine neue „Anti-Partei“ eingezogen, die den etablierten Parteien das Leben schwer macht. Die Grünen sind auf der einen Seite Profiteure des Erstarkens dieser Partei, das vor allen zu Lasten der Union und der SPD geht. Das spült die Grünen selbst dort in Koalitionen mit den darbenden Volksparteien, wo sie, wie etwa in Sachsen, im einstelligen Prozentbereich liegen.
In Anbetracht der Geschichte ihrer eigenen Partei wissen die strategischen Vordenker und Funktionäre der Grünen, wie schnell aus einer „Anti-Partei“ ein gefragter Koalitionspartner werden kann, sofern der gegenseitige Anpassungswille dazu vorhanden ist. Um den sieht es bei Union und AfD bislang allerdings denkbar schlecht aus. Da die AfD sowohl bei ihren Funktionären und Mitgliedern wie bei ihren Wählern über weite Strecken Fleisch von Fleische der Union ist, hofft die Union, diese Abtrünnigen wieder für sich gewinnen zu können, indem sie deren politische Anliegen innerhalb der eignen Parteien (CDU und CSU) etwas mehr Geltung verschafft und gleichzeitig gegenüber der AfD ein Koalitionsverbot erlassen hat.
Erfolgreich war dieses Vorgehen bislang nicht, da die Angebote an die AfD-Wähler zum einen bislang höchst vage geblieben und zum zweiten ihnen erst unterbreitet worden sind, nachdem die AfD ihre Wahlerfolge eingefahren hatte. Teile der Union, allen voran CSU-Chef Markus Söder, liebäugeln daher mit einem Verbotsverfahren gegen die AfD, die sie mittlerweile als „NPD 2.0“ betiteln.
Auf Seiten der AfD sieht es mit der Bereitschaft und dem Willen zur Zusammenarbeit mit der Union im Bund aber nicht viel besser, in Teilen sogar noch schlechter aus. Wer die Führung, Funktionäre und Mitglieder der Union zu „Volksverrätern“ erklärt, die die Bevölkerung systematisch belügen, in Deutschland einen geplanten „Bevölkerungsaustausch“ vorantreiben und das Land islamisieren wollen, kann wie die frühen Grünen für sich zwar in Anspruch nehmen, ein radikaler Systemgegner zu sein und zusammen mit Alexander Dobrindt von der CSU von der nahenden „konservativen Revolution“ träumen; dabei wird es aber auch bleiben, da in Deutschland zum Glück nicht nur linke, sondern auch rechte Revolutions-Phantastereien weder eine geschichtliche Berechtigung noch irgendeine Aussicht auf Erfolg haben. Das musste vor vierzig Jahren schon Joschka Fischer lernen. Wer in einer gefestigten Demokratie mit Verhältniswahlrecht politisch gestalten will, muss dafür nicht nur Wähler, sondern auch Partner gewinnen.
Diese strebte vor vierzig Jahren auch Joschka Fischer mit seinen „Realos“ für eine grüne Partei an, die zunächst weder etwas von Reformen noch von Bürgerlichkeit wissen wollte. Nachdem sich abzeichnete, dass er sich damit in der Partei allmählich durchsetzte, strichen die „Fundis“ Schritt für Schritt ihre Segel und verließen wie Harry Block die Partei. Ob sich die Dinge bei der AfD in dieselbe Richtung entwickeln werden, ist derzeit im innerparteilichen Machtkampf um die weitere Ausrichtung dieser Partei noch nicht ausgemacht. Die Segel streichen in ihr derzeit noch mindestens so viele „Realos“ wie „Fundis“. Fest steht allerdings, dass insbesondere die Grünen nichts mehr fürchten, als dass die AfD genau den Weg einschlagen könnte, den sie dieser neuen „Anti-Partei“ vorgezeichnet haben.