Nachdem inzwischen der Versuch, das Aufkommen und Erstarken national-konservativer Strömungen und Parteien in Europa als eine Wiederkehr des europäischen Faschismus der zwanziger und dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts zu bekämpfen, mehr oder weniger ins Leere läuft, haben die deutschen Protagonisten der global-liberalen Strömungen und Parteien im ersten Weltkrieg, der vor einhundert Jahren zu Ende ging, eine weitere Möglichkeit erkannt, durch fortgesetzte Panikmache jegliche national konnotierte Kritik am vorherrschenden Multilateralismus zu diskreditieren.
Unter dem Titel „Bittere Ernte“ ist in einem Beitrag zum Thema „Nationalismus“ etwa in der Stuttgarter Zeitung (StZ) vom 17. November zu lesen: „Erst wenn man das desaströse Ergebnis von 1918 mit den nationalistischen Träumen und Illusionen von 1914 kontrastiert, wird deutlich, wie schnell eine vermeintlich stabile internationale Ordnung kollabieren kann. Und dies zeigt, wie gefährlich der Wunsch nach dem Abschütteln von nationalen Fesseln und nach einer radikalen Veränderung einer vermeintlich krisenhaften Gegenwart sein kann. Und doch sind Menschen für solche Fantasien anfällig – auch heute. Ein Brexit oder ein Donald Trump wären ohne diesen Impuls nicht zu erklären.“
Auch die Forderung „Merkel muss weg“ ist laut dem StZ-Autor eine Art Vorbote eines drohenden neuen (europäischen) Weltkrieges, sei sie doch Ausdruck einer „ins Bröseln geratenen Weltordnung der Gegenwart.“ Nun ist die Forderung nach Merkels Ablösung inzwischen selbst in der CDU so weit verbreitet, dass sie sich entgegen ihrer Ankündigung, Kanzleramt und Parteivorsitz zwingend in einer Hand halten zu wollen, gezwungen sah, als Parteivorsitzende das Handtuch zu werfen. Und auch das Kanzleramt könnte bald neu besetzt sein, nachdem der oder die neue Parteivorsitzende im Amt ist. Wäre Europa damit dem dritten Weltkrieg ein Stück näher gerückt?
Mit dem letzten Halbsatz verdeutlicht der baden-württembergische Ministerpräsident, dass im global-liberalen Lager, das in Deutschland ideologisch von seiner eigenen grünen Partei angeführt wird, der ausgeprägte Wunsch verbreitet ist, jegliches Nationalbewusstsein auszumerzen, da es die Ausbreitung und Institutionalisierung des Multilateralismus in Gestalt der Europäischen Union (EU) und der Vereinten Nationen (UN) nur behindert. Die Befürworter einer zunehmenden Zentralisierung Europas verfolgen daher auch das Ziel einer schrittweisen Stärkung der Europäischen Kommission gegen den Europäischen Rat als vorrangiges Entscheidungsorgan der in der EU organisierten Nationalstaaten. Maßgebliche nationalstaatliche Entscheidungsbefugnisse sollen nach Brüssel verlagert und den nationalen Parlamenten auf diese Weise entzogen werden.
Der allmähliche Erosions- und Transformationsprozess (national-)staatlicher Souveränität hat, wie man unter anderem am Beispiel der europäischen Asyl- und Migrationspolitik erkennen kann, schon längst eingesetzt. Nationale Gesetze, wie zum Beispiel Artikel 16a des deutschen Grundgesetzes, der die Asylzuwanderung aus sicheren Drittstaaten verbietet, werden durch EU-Gesetze und -Verordnungen außer Kraft gesetzt. Einwanderungskontingente in die jeweiligen Mitgliedsstaaten werden nicht mehr national von den gewählten Regierungen, sondern von der EU vorgegeben.
Das beunruhigt notgedrungen nicht nur die Eurokraten in Brüssel, sondern das gesamte global-liberale Lager in allen Ländern. Seine Protagonisten versuchen deswegen, diese Entwicklung unter anderem dadurch zu stoppen, dass sie sie nicht als erwartbare, gleichsam natürliche Reaktion auf einen überzogenen Multilateralismus charakterisieren, sondern wahlweise als Schritt hin zu einem neuen Faschismus oder in den nächsten Weltkrieg brandmarken. Mit dieser Art von Panikmache sollen die Bürger davon abgehalten werden, zum Beispiel bei den anstehenden EU-Parlaments-Wahlen „populistisch” zu wählen. Zugleich sollen die Mitglieder, Anhänger und Wähler insbesondere der „rechts-populistischen” Parteien in der EU als „demokratie- und europafeindlich“ stigmatisiert und ausgegrenzt werden.
Diese Vorgehensweise zeugt nun allerdings selbst nicht nur von einem unterentwickelten Demokratieverständnis, sondern auch von einer ziemlichen Ahnungslosigkeit bezüglich der Gestaltung staatlicher wie aber auch nicht-staatlicher Organisationsformen. Staaten wie aber auch Unternehmen können zum Beispiel sowohl klein- wie aber auch großformatig, dezentral (föderal) oder auch zentral organisiert sein. Geprägt wird ihre organisatorische Ausgestaltung immer von gegensätzlichen Prinzipien, zwischen denen zu entscheiden ist, ob ein Staatengebilde oder ein Unternehmen sich eher in die eine oder eher in die andere Richtung entwickeln soll. In ihrer reinen (radikalen) Form sind die jeweiligen Organisationsprinzipien meist gar nicht praktikabel. In ihrer überzogenen Form erzeugen sie im Laufe der Zeit immer Widerstände durch das jeweilige Gegenprinzip, die sich an den offenkundig gewordenen Nachteilen des Ausgangsprinzips festmachen.
Sehr gut beobachten lässt sich diese in der Organisationssoziologie profund erforschte „Mythenspirale“ zum Beispiel an der organisatorischen Gestaltung von Großunternehmen, in denen auf einen überzogenen Zentralismus meist mit Maßnahmen der Dezentralisierung und auf einen überzogenen Dezentralismus mit Maßnahmen der Zentralisierung reagiert wird. Niemand käme in diesem Zusammenhang auf die Idee, das eine oder das andere Prinzip als Weg in den sicheren Untergang zu verteufeln. Vielmehr wurde im Laufe der Zeit gelernt, dass gegensätzliche Organisationsprinzipien nicht nur in einer guten Balance zueinander gehalten werden müssen, sondern dass es auch gefährlich ist, wenn ein Prinzip zu sehr dominiert und sein Gegenpart gänzlich aus dem Verkehr gezogen ist. Die nachteiligen Auswirkungen des vorherrschenden Prinzips nehmen im Laufe der Zeit überhand und gefährden Funktionsweise wie auch Bestand des gesamten Organisationssystems.
In diesem Zustand befindet sich inzwischen augenscheinlich auch die EU. Der von ihr praktizierte Multilateralismus ist derzeit weder in der Lage, tragfähige Entscheidungen in wichtigen Politikfeldern herbeizuführen, noch hat er bislang zu einer Beendigung der wirtschaftlichen Krise und einem besseren Zusammenspiel zwischen den einzelnen Mitgliedsländern beigetragen. Ganz im Gegenteil ist die EU nicht nur wirtschaftlich inzwischen mehr gespalten denn je. Darüber hinaus tritt mit Großbritannien eines der wirtschaftlich wichtigsten Mitglieder nächstes Jahr aus, ohne dass ausgeschlossen werden kann, dass weitere folgen. Die nachteiligen Folgen des bisherigen multilateralen Organisations- und Führungsprinzps sind somit nicht mehr von der Hand zu weisen. Der europäische Einigungsprozess bedarf dringend einer Korrektur.
In einer solchen Situation ist es nicht verwunderlich, sondern geradezu zwingend, dass das organisatorische Gegenprinzip des zentralistischen Multilateralismus, der dezentrale Nationalismus, wieder stärker ins Spiel kommt und sich einer weiteren Verlagerung politischer Entscheidungsbefugnisse nach Brüssel in den Weg stellt. Ob die EU dadurch, wie viele (Groß-)Unternehmen, zu einem lernenden System wird, steht noch nicht fest. Viele Protagonisten des global-liberalen Lagers in den EU-Institutionen sind jedenfalls wild entschlossen, sich allen national-konservativen Korrekturen des herrschenden Multilateralismus zu widersetzen und ihre Vorstellungen von einer Welt ohne Grenzen und Nationen, wie sie jüngst zum Beispiel im „Global Compact for Save, Orderly and Regular Migration“ zum Ausdruck gebracht worden sind, auf europäischem Boden – koste es, was es wolle – weiter durchzusetzen. Dafür muss im Kampf um die ideologische Lufthoheit inzwischen nicht nur der Faschismus, sondern auch noch der erste Weltkrieg herhalten.