Bislang hatten die Grünen in der Ampel eine vergleichbar komfortable Position: Die Politik der Bundesregierung war grün genug, um die eigene Stammklientel zu halten. Wenn die Regierungskoalition angreifbar war, dann war sie es von rechts. Darunter litten SPD und FDP zwar stark, doch die Grünen verloren nur ein paar Modefans, die vor der Regierungsübernahme zu verträumt auf die Partei Annalena Baerbocks geschaut hatten – auch dank der unkritischen Berichterstattung von ARD, ZDF, Süddeutsche und Co.
Doch die Machtstatik ist mit der Europawahl ins Wanken gekommen. Zwei Parteien haben sie ins Wanken gebracht. Die eine ist das Bündnis Sahra Wagenknecht. Entgegen falscher Analysen ist das kein Projekt, um der AfD Stimmen abzuholen. Vielmehr erreicht das Bündnis Sahra Wagenknecht Wähler, die sich in keiner Partei mehr wiederfinden konnten oder welche, die Janine Wissler für eine blasse und planlose Linken-Vorsitzende halten.
Die war und ist bisher das größte Problem von Volt. Ganz praktisch: weil sie den Einzug in Parlamente verhindert. Psychologisch: weil viele potenzielle Wähler sich sagen, dass ihre Stimme verschenkt sei, wenn Volt dann doch nicht ins Parlament einzieht. Das könnte sich nun ändern. Bei der Europawahl erreichte Volt 2,6 Prozent in Deutschland und gewann somit drei ihrer insgesamt fünf europäischen Sitze. Vor allem aber stand sie zum ersten Mal mit auf dem Board, anstatt wie bisher unter „Sonstige“ oder „Andere“ versteckt zu werden. Damit ist Lila, die Farbe Volts, offiziell in die Parteienlandschaft eingetreten.
Zu den gewählten Abgeordneten gehört Damian Freiherr von Boeselager. Der Bankierssohn war der erste Bundesvorsitzende der Partei. Vor seiner Politkarriere war er laut Wikipedia als Unternehmensberater tätig. Ein bei Volt beliebter Beruf. Ohnehin stammen ihre Mitglieder vorwiegend aus dem gehobenen Mittelstand. Der eigene Wohlstand ist gesichert. Dann lässt es sich leichter an die Gesellschaft appellieren, auf weiteren Wohlstand zu verzichten.
Mit ihren Themen spricht Volt eine städtische und auch wohlhabende Klientel an: vor allem ist das Klimaschutz. Vor der Wahl wies der WWF daraufhin, dass Volt ihrem Forderungskatalog noch eher entsprach als die Grünen. Auch gesellschaftspolitisch ist Volt grüner als die Grünen und feiert sich zum Beispiel dafür, dass die Partei mit der Lehrerin Nela Riehl die „erste deutsche Schwarze Spitzenkandidatin bei einer Europawahl“ gestellt habe.
Nicht nur inhaltlich lebt Volt vom Fleisch der Grünen. Deren Verlust in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen ist bereits berichtet worden. Genau in dieser Gruppe schneidet Volt mit 9 Prozent deutlich über dem eigenen Schnitt ab. Die hauptberufliche „Aktivistin“ Luisa Neubauer zählt in einem Beitrag in den sozialen Netzwerken schon mal zu einem Bündnis für Klimaschutz zusammen.
„Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch.“ Früher waren es die Grünen, die mit Bäh-Wörtern wie diesen demonstriert haben, dass sie rebellisch jung sind. Heute vertreten sie die Lehrer-Generation, die zu solchen Begriffen tss, tss, tss sagen muss. Während Volt plakatiert: „Sei kein Arschloch!“ Die Grünen haben das Momentum verloren. Vor allem bei denen, die außenpolitisch lieber idealistisch als realistisch sind. Die von einem Pazifismus träumen, bei dem Wladimir Putin von alleine verschwindet.
Eine Frauenbeauftragte hier, die den Grünen einen Denkzettel verpassen will, weil die dafür kämpfen, dass Penisse in Frauenschutzräume dürfen. Ein Friedensbewegter dort. Ein Vogelschützer, der von erneuerbaren Energien ohne Windräder träumt. Ein Fahrradbeauftragter, der meint, dass Wohlstand nicht erwirtschaftet werden muss, weil er ja so oder so monatlich aufs Konto kommt. Von dieser Klientel leben die Grünen. Das sind die 8,9 Prozent, die selbst dann noch die Partei wählen, wenn sie von Simone Peter geführt wird. Der harte Kern.
Genau an diesen harten Kern geht nun Volt. Jetzt, da sie auf dem Board sind. Jetzt, da sie im Bewusstsein der Frauenbeauftragten, Friedensbewegten, Radikalökologen und Fahrradbeauftragten sind, werden die Volt-Leute zur Gefahr für die Grünen. Bei Volt ist die Jugend, bei den Grünen Jürgen Trittin, Claudia Roth und Renate Künast. Bei Volt ist die Glaubwürdigkeit, bei den Grünen der Graichen-Clan. Modefans kommen und gehen. Wenn der Kern geht, wird es gefährlich für eine Partei. Wie sie dann niedergeht, das zu beschreiben, da wäre dann Janine Wissler zur Abwechslung mal die Richtige.