Klassiker sind Klassiker, nicht weil sie bereits mausetot sind, sondern weil sie kluge, zeitübergreifende Gedanken dokumentierten – mittenmang ins Leben. Ein moderner Klassiker der Sozialwissenschaft ist das schmale Bändchen „Vertrauen“ von Niklas Luhmann. Es feiert unbeachtet ein Jubiläum: Vor genau 50 Jahren erschienen, behandelt der verbeamtete Verwaltungswissenschaftler Luhmann im ernsten soziologischen Jargon auf 100 Seiten ein Verhältnis menschlichen Zusammenwirkens, das gerade in der strategischen politischen Diskussion immer und ständig und vehement eingefordert wird – umso stärker wie das Vertrauen in Politik, Politiker und Parteien schwindet. Es geht um Vertrauen als sozialen Vorgang. Das schmale Bändchen ist die auflagenstärkste Publikation des Bielefelders Systematikers (und systematischsten Kritikers von Jürgen Mabermas), der in der Unaufgeregtheit seiner Betrachtungen heute garantiert keine Chance auf öffentliche Aufmerksamkeit hätte. Tempi passati. Und gerade wegen ihrer strikten Sachbezogenheit lassen sich wertvolle Erkenntnisse für die Durchsetzungskraft politischer Strategien ablesen.
Vertrauen ist irrational
Was eigentlich ist Vertrauen? Eine banale Frage, aber bei näherer Betrachtung ist das gesamte Leben durchzogen von Vertrauenszusammenhängen: Wo die Sonntagsbrötchen kaufen? Welche Nachrichten schauen? Wem geben wir bei einer großen Urlaubsreise die Schlüssel zur Wohnung? Wen heiraten wir … oder nicht? Wer soll uns regieren? Jeder mag für sich diese Fragen beantworten und in der Vielfältigkeit der Antworten zeigt sich, dass es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt, sondern zunächst spezifische Ursachen und Erfahrungen, die zu eben dieser oder jener Entscheidung führen.
Dieser Gedanke ist bereits eine Affront, denn die Vorstellung des „rationalen Verbrauchers“, „mündigen Bürgers“ oder „homo oeconomicus“, kurzum des „rationalen Entscheiders“ ist so tief in der veröffentlichten Meinung vertreten, dass es ein Angriff auf die gesamte Zivilisation ist, wenn der Gedanke auftaucht, dass die allerwenigsten menschlichen Entscheidungen rational gefällt werden, ja nicht einmal rational gefällt werden können. Bei analytischer Betrachtung wird deutlich, dass wir uns von Voraus-Urteilen, also von Vorurteilen leiten lassen – je mehr, desto unübersichtlicher, vielfältiger und komplexer die Welt wird. Kein Wunder bei 3.000 Werbebotschaften, die tagtäglich einhämmern. Vorurteile sind „naive“ Formen der Wahrheit. Sie haben neben ihrer Orientierungsfunktion noch einen weiteren Zweck: Sie schweißen Gemeinschaften zusammen. So unterschiedlich sie sind, gründen sie alle auf bestimmten geschichtlichen Erfahrungen.
Vorurteile bündeln Vertrauen
Der Soziologe Karl Otto Hondrich schrieb vor vielen Jahren: „Warum lassen sich Menschen auch in Industriegesellschaften von Aurufen ihrer gemeinsamen Religion, Sprache, Herkunft, Glücks- und Leidenserfahrungen, Sitten und Bräuche, so viel tiefer und heftiger bwegen, als von Appellen an gemeinsame oder feindliche Klassenlagen, ökologische Interessen, Frauensolidarität et cetera?“ Er gibt ein simple Antwort: „Weil mit solchen Aufrufen an uralte Erfahrungen angeknüpft wird, die alles andere als abstrakt und fiktiv sind; sie erneuern sich in der Geschichte eines jeden von uns schon in frühester Kindheit. In den elementaren Übereinstimmungen zwischen Kindern und Eltern, Freunden und Nachbarn wird gemeinsame Herkunft als Wertgefühl erlebt, das sich jenseits von Nutzenerwägungen und Interessen einprägt. Dieses Werterlebnis setzt sich völlig unangestrengt in die Erfahrung um, dass man sich unter seinesgleichen nicht nur besser versteht, sondern auch wohler, sicherer und stärker fühlt.“ Hondrich war als Schüler des Soziologen René König weit davon entfernt auf der politischen Skala als „konservativ“ oder gar „rechts“ eingeordnet zu werden … eine analytische Wissenschaft schert sich wenig um politische Eingrenzungen. Hondrichs Gedanken vorausgeschickt wird deutlich, wie wichtig und sinnvoll Vorurteile sind. Selbst der tiefenrationale Luhmann ist hinsichtlich seiner Beurteilung des „naiven Vertrauens“ äußerst deutlich: „Demnach ist nicht zu erwarten, dass das Fortschreiten der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation die Ereignisse unter Kontrolle bringen und Vertrauen als sozialen Mechanismus durch Sachbeherrschung ersetzen und erübrigen werde. Eher wird man damit rechnen müssen, dass Vertrauen mehr und mehr in Anspruch genommen werden muss, damit technische erzeugte Komplexität der Zukunft ertragen werden kann.“
Vertrauen bedeutet Vertrautheit
Spannend wird die Betrachtung, wenn der Begriff „Vertrauen“ vor dem Hintergrund einer sozialen Orientierung verwendet wird. Denn das Wort beinhaltet bereits seinen entscheidenden Sinn, nämlich „vertraut“ und weiter zugespritzt „treu“ … Vertrauen entsteht, wenn sich ein Handelnder selbst treu ist. So sind Freundschaften meist gekennzeichnet von großem Vertrauen, was darauf beruht, dass Freunde sich über das zukünftige Verhalten des anderen relativ sicher sein können. Luhmann schreibt dazu in seinem Büchlein: „Vertrauen ist überzogene Information, beruht also darauf, dass der Vertrauende sich in gewissen Grundzügen schon auskennt, schon informiert ist, wenn auch nicht dicht genug, nicht vollständig, nicht zuverlässig.“
Vertrauen beruht also stets auf Vergangenem. Die Lebenserfahrung zeigt, dass wir gerade dem nicht vertrauen sollten, den wir nicht kennen und der gleich beim ersten Treffen Vertrauen einfordert. Vertrauen ist keine Entscheidung, sondern stets ein Prozess. Vertrauen beruht auf Bewährung und Erwartungseinlösung. In der Folge wird das Verhalten der Menschen miteinander geordnet und abgestimmt: „Im Akt des Vertrauens wird die Komplexität der zukünftigen Welt reduziert. Der vertrauensvoll Handelnde engagiert sich so, als ob es in der Zukunft nur bestimmte Möglichkeiten gäbe.“ Oder Luhmann noch deutlicher: „In vertrauten Welten dominiert die Vergangenheit über Gegenwart und Zukunft.“
Markentreue
Marken kennzeichnet eben dieser strukturgebende Charakter. Sie gliedern und fokussieren die Welt in Vorurteile, geben Sicherheit und erlauben Steuerung. An bestimmte Marken knüpfen sich Bündel spezifischer Erwartungen. Sie sind – markensoziologisch gewendet – positive Vorurteile einer Leistung gegenüber. Mit der zusageverlässlichen Erfüllung ebendieser Erwartung entsteht der Zustand der immer und immer wieder von Marken- und Parteistrategen heraufbeschworen wird: Vertrauen. Er ist nicht das Ergebnis hohen Werbedrucks oder einer kreativen Idee, sondern ganz simpel daran geknüpft, dass Anspruch und Wirklichkeit über längere Zeit miteinander korrespondieren. Damit werden Marken ein zeitlich stabiler Bezugspunkt in der Kommunikation. Und so weist Luhmann auf das höchst problematische Zusammenspiel von Vertrauen und Zeit hin: „Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg.“
Starke Marken komprimieren einen komplexen Leistungszusammenhang in einem einzigen Zeichen – einem Gedankenterritorium. Marke ist vor diesem Hintergrund immer mehr als individuelles Wissen. Ihr Sinn wird erst dann erfahrbar, wenn ihre Botschaft kollektiv geteilt wird. Eine ROLEX macht nur dann für den Träger Sinn, wenn das Gegenüber um die Besonderheiten dieser Uhr weiß („Teuer“). Diese Orientierung entsteht vor allem über Kommunikation besonders über die Kommunikation in Massenmedien. Massenmedien selbst funktionieren zu einem großen Teil über Wiederholung, denn sie informieren uns bei kleineren Variationen über das immer selbe: Politik, Fußball, Klatsch & Tratsch. In ihrer thematischen, inhaltlichen und stilistisch beschränkten Variationsbreite schaffen sie Vertrautheit und Orientierung in die „weite Welt“ und sind selbst Urheber eines übergreifenden sozialen Grundvertrauens.
Parteientreue
Ausgestattet mit diesen 50 Jahre alten Gedanken wird das Dilemma der Parteien deutlich: Das sauertöpfische Lamento der zunehmenden Wechselwählerschaft ist nicht Ursache, sondern Wirkung eines Verhaltens auf der argumentativen Leistungsebene, dass nicht in der Lage ist „Vertrautheit“ zu erzeugen: Statt Erwartbarkeit und Kontingenz steht Anpassung und Ausweitung. Klar ist aber, dass starke Parteien nicht als „Wahrnehmer“, sondern immer „Wahrgeber“ agierten. Eine Selbstauffassung die heute keine Partei mehr von sich postulieren würde.
Stattdessen orientieren sich Parteien am gleichen „Markt der Wählerschaft“, erarbeiten in einer Allianz stromlinienförmig gebildeter Akademiker die identischen Schlüsse und gleichen sich automatischerweise immer weiter an (kein Wunder, dass inzwischen jeder mit jedem koaliert). Langfristig wird allerdings das Vertrauen und die damit einhergehende gesellschaftliche Ordnungsfunktion nur bestehen bleiben, wenn Parteien gleich und verschieden agieren. Gleich, weil sie zuverlässig ihre spezifische Leistung bzw. Gestaltungswillen erfüllen, verschieden indem sie einzigartige Inhalte vertreten. Es bleibt ein Rätsel, wie Parteien emotional überzeugen sollen, wenn der sie bildende inhaltliche Kern vor allem eines ausstrahlt: Austauschbarkeit oder – wie Luhmann bezeichnet – Gleichheit.
Es ist das Paradoxon von Gleichheit bei gleichzeitiger Verschiedenheit, dass erst das systemische Vertrauen in Parteien aufrecht erhält – oder auch nicht. Luhmann machte in seiner Schrift auf die Gefahren einer Welt aufmerksam, die immer weniger vertrauen kann, wenn er schreibt: „Vertrauen ist nicht das einzige Fundament der Welt; aber eine sehr komplexe und doch strukturierte Weltvorstellung ist ohne eine ziemlich komplexe Gesellschaft und diese ohne Vertrauen nicht zu konstituieren.“