Große Teile der deutschen Öffentlichkeit scheinen immer noch geprägt von einem ideologischen Posthistorismus. Das heißt: Sie sind quasi nostalgisch im Jahr 1990 stehengeblieben und glauben an die These des US-Politologen Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ – ein Ende, das er 1989 in einem Aufsatz bzw. 1992 mit einem entsprechend betitelten Buch anlässlich der Auflösung des „Ostblocks“ und der Sowjetunion meinte diagnostizieren zu können. Denn so, Fukuyama, jetzt (also damals!) hätten sich Liberalismus, Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchgesetzt. Hegels „Weltgeist“ scheint Fukuyama geprägt zu haben.
Das Weitere ist bekannt. Putin hatte massiv hochrüsten lassen. Am 24. Februar 2022 ließ er die Ukraine überfallen, seither führt er einen blutigen, völkerrechtswidrigen Krieg gegen die vormalige, nach Bevölkerung zweitgrößte Sowjetrepublik, die Anfang 1994 als bis dahin drittstärkste Atommacht der Welt alle Atomwaffen an Russland abgeliefert hatte. Dieser Krieg, der demnächst ins dritte Jahr geht, hat den Westen denn doch aufgerüttelt. Das Jahr 2014 hatte als Weckruf nicht gereicht.
Militäranalysten prognostizieren in fünf bis acht Jahren russische Angriffe auf Europa
Nun geht die Sorge, nicht nur die Phantasie um, Putin könnte im Sinne seiner Ideologie der „russischen Erde“ nicht mit der Ukraine zufrieden sein, sondern sich eines nicht zu fernen Tages etwa die baltischen Staaten und andere Sowjetverbündete zurückholen wollen. Die getreuesten seiner Getreuen in Moskau drohen mit Angriffen auf die Nato, auf Berlin, auf Finnland (das eine 1.340 Kilometer lange Grenze zu Russland hat) und mit dem Einsatz von russischen Atomwaffen.
Tatsächlich prognostizieren einige nicht ganz namenlose Zeitgeschichtler und Politikwissenschaftler in fünf bis acht Jahren aggressive russische Akte gegen Nato-Länder. Im Cyberraum, der neuen Dimension neben den klassischen Kriegen zu Land, zu Wasser und aus der Luft, haben diese ohnehin längst begonnen.
Der seit recht exakt nun ein Jahr im Amt befindliche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist da sehr realistisch. Er hat dazu aufgerufen, sich auf eine Ausweitung des Ukrainekrieges einzustellen. „Wir hören fast jeden Tag Drohungen aus dem Kreml – zuletzt wieder gegen unsere Freunde im Baltikum“, sagte er dem Tagesspiegel. „Wir müssen also einkalkulieren, dass Wladimir Putin eines Tages sogar ein Nato-Land angreift.“
Außerdem sagt Pistorius: Es brauche auch ein „Programm für einen stärkeren Zivilschutz“. Zudem müsse man die Rüstungsindustrie leistungsfähiger machen. „Das müssen wir in Deutschland verfolgen und in Europa insgesamt – gemeinsam“, sagte er auch mit Blick darauf, dass die USA nach einer möglichen Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus die Unterstützung der Ukraine herunterfahren und aus der Nato austreten könnten.
Nicht wenige Militär- und Geheimdienstexperten der Nato warnen jedenfalls vor den Risiken eines weiteren möglichen russischen Angriffs in Europa. Militäranalysten rechnen mit einem erhöhten Kriegsrisiko für Europa. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) hatte das Thema mit einem Papier angesprochen, aber auch der britische Thinktank Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI).
Man schaue sich die Sorgen der Polen, der Finnen – der Balten an!
Es ist keine hysterische, rein deutsche Debatte. Es hat seinen Grund, warum Finnland und Schweden in die Nato drängen. Mehrere europäische Regierungen unterstreichen die Gefahr eines möglichen russischen Krieges gegen Mittel- und West-Europa: etwa der Chef des polnischen Nationalen Sicherheitsbüros oder der belgische Armeechef, aber auch die estnische Präsidentin Kallas. Schweden empfiehlt seinen Bürgern, Vorkehrungen für einen Krieg zu treffen. Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnt vor dem realen Risiko eines Angriffs durch Russland auf die Nato-Staaten.
Die Prognosen unterscheiden sich bei der Schätzung der Zeiträume. Einige Beiträge gehen davon aus, dass Russland zunächst wieder Kapazitäten aufbauen muss. Andere meinen, dass es diese Wiederaufbauphase vielleicht gar nicht braucht.
Diese Einschätzung ist bereits gemeinsame Politik: So sind sich alle 31 Nato-Staaten einig, dass Russland derzeit die größte greifbare Bedrohung für die Sicherheit Europas darstellt. Dementsprechend wurde das strategische Konzept der Nato von 2022 aktualisiert: Bis dahin war die Nato davon ausgegangen, dass von Russland keine Gefahr ausgehe. Diese Einschätzung ist ad acta gelegt.
Worum geht es jetzt – außer mitzuhelfen, dass die Ukraine Russland nicht unterliegt? Es geht im Sinne der alten lateinischen Sentenz „SI VIS PACEM PARA BELLUM“ („Wenn du Frieden willst, rüste dich für einen Krieg!“) darum, die europäischen Verteidigungsapparate so zu ertüchtigen, dass Europa sich effektiv verteidigen kann und ein Angriff auf ein europäisches Land für Russland zu einem großen Risiko wird. Mit anderen Worten: Europa muss auch ohne die USA abschreckungsfähig werden.
Pistorius als einsamer Rufer?
Die ohnehin öffentlich im freien Fall befindliche „Ampel“ weiß um die Unbeliebtheit des Themas. Das ist Putins Kalkül und Trumpf. Dennoch hat Pistorius die richtigen Perspektiven aufgezeigt. Bereits bei der Bundeswehrtagung vom 10. November 2023 hatte er gesagt: „Wir müssen kriegstüchtig werden.“ Diese Aussage mag manche wegen der handfesten Rhetorik aufgeschreckt haben. Über Schalmeienklänge aus dem Westen und Transparente zu „Diplomatie statt Krieg“ auf dem „Alex“ lächelt Putin nur müde – und zufrieden, denn sein Ziel der Spaltung des Westens trägt Früchte.
Dennoch: Blauäugigkeit beruhigt, aber macht blind. Ein westliches, europäisches Zögern verschärft die Bedrohung. Wenn man sich allein vergegenwärtigt, dass die Bundeswehr auch zwei Jahre nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, trotz vom Kanzler ausgerufener „Zeitenwende“ und trotz eines 100-Milliarden-Sondervermögens für die Bundeswehr Munition nach wie vor nur für wenige Tage einer größeren kriegerischen Auseinandersetzung hätte.
Insofern ist es richtig, dass Deutschland – wenn auch mit Mühen – eine 5.000-Mann- Brigade in Litauen stellen wird. Und auch die angekündigte Nato-Großübung mit 90.000 Soldaten ist ein starkes Zeichen. Diese im Februar 2024 startende Übung namens „Steadfast Defender“ wird die größte Nato-Übung seit dem Ende des Kalten Krieges sein.
Anmerkung des Autors: Eine ausführliche Darstellung des „Pflichtenheftes“ von Pistorius findet sich im aktuellen TICHYSEINBLICK-Heft >>>