Ein Römer hätte gesagt: „Sic transit gloria mundi“ Frei übersetzt: So schnell verfliegt der Ruhm der Welt. Das mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) zu tun. Denn er hat seinen bislang und wohl auf lange Zeit einzigen Ruhm vor rund einem halben Jahr eingeheimst. Aber der vermeintliche Ruhm blieb ephemer, also von der Lebensdauer einer Eintagsfliege.
Erinnern wir uns: Am Sonntag, 27. Februar, drei Tage nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hat Scholz im Bundestag eine Rede gehalten. Eine „Zeitwende“ sollte damit einläutet werden. Scholz hatte gesagt: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind … Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld. Wir werden dafür ein Sondervermögen Bundeswehr einrichten, und ich bin Bundesfinanzminister Lindner sehr dankbar für seine Unterstützung dabei. Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren … Lassen Sie uns das Sondervermögen im Grundgesetz absichern.“ Scholz fügte hinzu, dass das 2-Prozent-Ziel bis 2024 erreicht werden solle.
Klingt gut, klang zumindest am 27. Februar 2022 gut. Mittlerweile ist sehr viel Skepsis angebracht. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) soeben in einer 29-Seiten-Expertise dargelegt. Titel: „Zeitenwende für die Verteidigungswirtschaft? Sicherheitspolitik und Verteidigungsfähigkeit nach der russischen Invasion der Ukraine.“
Folgt man der IW-Analyse, so wird es für die Jahre 2026 und folgende zappenduster für die Bundeswehr. Denn ab dann ist die Finanzierung zur Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels völlig unklar. Bis dahin nämlich könnte das Sondervermögen, wenn es denn in den regulären und nicht für sich erhöhten Haushalt hineingebuttert werde, aufgebraucht sein. Mit anderen Worten: Falls der Verteidigungshaushalt nicht sofort deutlich erhöht wird und Erhöhungen nur aus dem 100-Milliarden-Sondervermögen gespeist werden, entsteht laut IW schnell eine jährliche Lücke von rund 35 Milliarden Euro. Wenn diese Lücke wiederum nicht geschlossen wird, würde der Anteil am BIP auf rund 1,2 Prozent zurückfallen. Angesichts der oft auf mehrere Jahre zu veranschlagenden Rüstungsprojekte wird in dem IW-Papier nicht zu Unrecht auch betont, dass die Rüstungsindustrie Planungssicherheit braucht und die Gelder „nur nachhaltig sicherheitspolitisch wirksam werden, wenn die Möglichkeiten der Industrie zur Lieferung neuer Waffensysteme und die Möglichkeiten der Bundeswehr zur Nutzung und Instandhaltung dieser Waffen in Einklang gebracht werden.“
100 Milliarden: Sondervermögen oder doch nur Lückenfüller?
Nun ist die Scholz’sche Ankündigung ein halbes Jahr alt. Aber wie sich die „Zeitenwende“ real auswirkt, darüber ist sich die „Ampel“ offenbar immer noch nicht so richtig im Klaren, auch wenn das „Sondervermögen“ mittlerweile – Anfang Juni 2022 – mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion immerhin verfassungsrechtlich „in trocken Tüchern“ ist. Grundgesetz Artikel 87a (1a) erlaubt es dem Bund jetzt, zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro zu errichten. Damit kann die geltende Schuldenbremse umgangen werden.
In der Praxis ist aber nichts in „trockenen Tüchern“. Vor allem nicht das Nato-Ziel, dass jedes Nato-Mitglied 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Rüstung und Verteidigung ausgeben soll und dass Deutschland dieses Ziel 2024 (siehe die Scholz-Rede) erreichen will. Vor allem müsste klar sein, dass die 100 Milliarden Sondervermögen bereits mit der laufenden Legislaturperiode 2021/2025 dahin wären. Zuletzt war man mit einem 45,65-Milliarden-Haushalt (2020) bzw. einem 46,93-Milliarden-Etat (2021) für die Bundeswehr – je nach Berechnung – zwischen 1,4 und 1,5 Prozent BIP-Anteil hängengeblieben. 2 Prozent aber ohne das Sondervermögen zu stemmen, würde heißen: Der Etat für die Bundeswehr müsste auf jährlich etwa 65 bis 70 Milliarden aufgestockt werden. Für 2022 hat man Anfang Juni 2022 nun 50,4 Milliarden eingeplant.
Die „Baustellen“
Die Bundeswehr ist seit Jahren nur bedingt einsatzfähig. Das ist im Moment nicht der „Ampel“, sondern den diversen Merkel-Kabinetten zuzurechnen. Manche Waffensysteme, etwa Hubschrauber, haben einen Klarstand von nur noch 40 Prozent. Nun geht es – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – konkret um folgende Optionen beziehungsweise Bedarfe:
- Einer der größten „Brocken“ sind die längst überfälligen Ausgaben für eine hinreichende Munitions- und Ersatzteilbevorratung; hier geht es um 20 Milliarden). Dass manches Flug- oder Fahrgerät nicht einsatzfähig ist, hat oft schlicht und einfach mit fehlenden Ersatzteilen zu tun. Und wie knapp etwa die Munitionslager gefüllt sind, erkennt man daran, dass die Bundeswehr nur wenig Munition an die Ukraine liefern kann.
- Für eine hinreichende Schutzausrüstung (Helme, Westen, Nachtsichtgeräte); sind 10 Milliarden zu veranschlagen.
- Für 35 Stück des US-Kampfjets F-35A (Stückpreis je rund 100 Millionen) sind 3,5 Milliarden zu veranschlagen. Der für ein gegnerisches Radar schwer auszumachende Tarnkappenbomber F-35 soll den „Tornado“ ablösen, der in die Jahre gekommen ist und bislang Teil der „atomaren Teilhabe“ Deutschlands war. (Am Rande: Als sich der damalige Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Karl Müller, 2018 öffentlich für den Kauf der F-35 ausgesprochen hatte, wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt.)
- Darüber hinaus wird überlegt, ob ein Teil der Eurofighter-Flotte atomwaffenfähig umgerüstet werden soll. Außerdem sollen 15 Eurofighter neu für ECR (Electronic Combat and Reconnaissance = Bekämpfung von Radarsystemen) angeschafft werden. Auch hier geht es vermutlich um einen 2- bis 3-Milliardenbetrag. Noch ungeklärt ist auch die Frage, ob die Luftwaffe für die F35-Boomer-Luftbetankung eigene Tankflugzeuge braucht. Schließlich hat eine F-35 nur eine Reichweite von wenig mehr als 2.000 Kilometer.
- Nicht eingerechnet sind die Kosten für das deutsch-französisch-spanische Kampfjetprojekt FCAS (Future Combat Air System). Hier handelt es sich um einen Kampfflieger, der 2040 (!) einsatzfähig sein soll. Wenn das Projekt nach vielerlei französischen Bedenken denn überhaupt kommt.
- Fünf gewünschte neue Korvetten K130 schlagen mit mindestens 2 Milliarden zu Buche. Notwendig wären zur Sicherung von Nord- und Ostsee zwei weitere U-Boote für rund 1,5 Milliarden.
- Überfällig ist ein neuer schwerer Transporthubschrauber; die Entscheidung hierfür ist immerhin gefallen: Es sollen 60 Stück des Typs CH-47F Chinook werden. Er wird rund 5 Milliarden kosten.
- 4 neue Tanker für die Marine kosten 2 Milliarden.
- Laut „Ampel“-Koalitionsvertrag sollen Drohnen angeschafft werden. Welche, wie viele und zu welchen Kosten, ist offen. Offen ist auch, ob die Bundeswehr „Schreit-Roboter“, menschenähnliche Bodendrohnen auf vier Beinen, bekommen soll.
- Die längst überfällige Digitalisierung der Kommunikationssysteme (bislang noch überwiegend analog arbeitend) kostet mindestens 3 Milliarden. Selbst diese Zahl scheint schöngerechnet, denn bereits im Jahr 2014 wurde der Umsatz für Verteidigungs- und Sicherheitselektronik in einer Untersuchung für das Bundeswirtschaftsministerium auf etwa 2,8 Milliarden geschätzt.
- Bislang recht unterschiedlich kalkuliert ist die Errichtung eines „Iron Dome“ (einer Eisernen Kugel) über Deutschland. Hier geht es um einen Raketenschutzschild gegen feindliche Raketen und Lenkflugkörper. Während die einen hier das israelische System „Arrow 3“ favorisieren und mit 2 Milliarden kalkulieren, sprechen andere für das US-System THAAD (Terminal High Altitude Area Defence). Letzteres System hatten die USA 2018 an die Saudis für 15 Milliarden Dollar verkauft. Was nichts anderes heißt, als dass 2 Milliarden viel zu eng bemessen sind. Schließlich ist die Fläche Deutschlands (357.022 km²) nicht mit der Fläche Israels (22.145 km²) vergleichbar.
- Noch keineswegs mitkalkuliert sind die Kosten, die für neue Kasernen (die Bundeswehr soll um 20.000 Mann wachsen) und für die Renovierung von Kasernen zu veranschlagen sind. Auch hier dürfte es um zweistellige Milliardenbeträge gehen.
- Ebenfalls nicht einkalkuliert ist der bis 2025 geplante Aufwuchs der Bundeswehr von einer Personalstärke von 183.000 auf 203.000. Hier geht es bestimmt auch um 3 Milliarden (jährlich!).
Kurz: All die genannten Optionen sind überfällige und notwendige Anschaffungen. Mit Kaufrausch oder viel gescholtenen „Goldrandlösungen“ hat das nichts zu tun. Denn im Grunde werden nur Löcher gestopft, die längst hätten gestopft werden sollen.
Oder mit anderen Worten: Die Bundesregierung darf sich nicht ausschließlich – und oft genug reichlich kapriziös – auf die Themen „Corona“, „Klima“ und „Energie“ konzentrieren, sondern sie muss Deutschlands Verteidigungsfähigkeit hochkonzentriert und über die laufende Legislaturperiode hinaus im Auge behalten.