Tichys Einblick
Junge westliche Zuwanderer

Vernachlässigte Aspekte der Migration: Das Land, in dem für immer Frühling ist

Zur Schulzeit von Autor Celyn Arden spielten deutsche Jugendliche amerikanische Folk- und Rocksongs mit deutschem Akzent nach, heute hört er in sozialen Medien junge Amerikanerinnen „Tausend mal berührt“ von Klaus Lage nachschmettern – schon aufgrund der Umlaute ein Ohrenschmaus.

IMAGO / Jürgen Held

Seit einigen Jahren fällt mir auf, dass die junge und beruflich dynamische Community von US-Amerikanern und Kanadiern in Berlin stetig wächst. Dazu kommt eine ebenso bundesweit zu beobachtende Zuwanderung von EU-Bürgern aus benachbarten Staaten, wie zum Beispiel Frankreich und Italien. Wir können viel mehr über unser Land aus den Anmerkungen eines jungen Italieners lernen, als wir uns in der aktuellen Debatte über Dinge wie „Pull-Faktoren“ selbst eingestehen wollen. Neben den in vielen Medien diskutierten bedürftigen Flüchtlingsgruppen sollten wir hier einmal genauer hinschauen:

Die Frage nach dem Warum hat mich als Soziologen schnell nicht mehr losgelassen. Welche Gemeinsamkeiten bringen die jungen Leute mit? Erstens, natürlich, dass sie jung sind – in der Regel Anfang 20. Dazu kommt jeweils eine gute Ausbildung, beziehungsweise abgeschlossenes Studium und eine große Affinität zur deutschen Sprache und Kultur. Julie, aus den amerikanischen Südstaaten, hat sich immer schon für die Sprache und die Kuchenrezepte ihrer deutschen Großmutter interessiert. Dazu kam, dass sie in der Schule die Möglichkeit hatte, Deutsch zu lernen – was in den USA durchaus auch in der Provinz häufig vorkommt.

Ein Blick in die sozialen Medien bestätigt dies – während zu meiner Schulzeit deutsche Jugendliche amerikanische Folk- und Rocksongs mit deutschem Akzent nachspielten, kann man heute junge Amerikanerinnen „Tausend mal berührt“ von Klaus Lage nachschmettern hören – schon aufgrund der Umlaute ein Ohrenschmaus.

Junge westliche Zuwanderer

Heute arbeitet Julie hier als Lehrerin und ist, ebenso wie die jungen Zuwanderer aus EU-Ländern, von der deutschen Mentalität und Offenheit, z.B. gegenüber LGBT-Personen und nicht zuletzt einem als gerecht empfundenen Steuersystem und damit einhergehender Kaufkraft überzeugt. Sie lobt die Infrastruktur, und dass man nicht ausschließlich aufs Auto angewiesen ist. In ihrer Kindheit habe sie viel Selbstständigkeit verpasst, da ihre Eltern sie überall hinbringen mussten und eigenständiges Unterwegssein in den USA für Jugendliche aus Gründen der Infrastruktur und der persönlichen Sicherheit kaum mehr möglich sei.
Zudem könne sie sich hier eine gesunde Ernährung erlauben, die in den USA theoretisch möglich ist – tatsächlich aber dem Slogan „Whole Foods – whole paycheck“ zum Opfer fällt – also, dass man für gesunde Nahrungsmittel gleich ein ganzes Monatsgehalt ausgeben müsse.

Dieser Kaufkraftdiskussion schließt sich Gino an. Er fühlte sich, wie viele in seiner Generation, im heimischen Italien finanziell ausgenutzt, sowohl vom Staat, als auch von den Lebenshaltungskosten. Das sagt ausgerechnet er in seinem muttersprachlichen Deutsch, der aus einem familiären Umfeld stammt, in dem Erwerbsarbeit, zumal in Deutschland, nicht unbedingt nötig wäre.
Er rechnet aber vor, wie man als junger Single in einem Job als Angestellter im Handel trotz der Kosten in einer deutschen Großstadt gut leben und noch Geld zurücklegen könne.
Überhaupt Italien: von Gino (alle Namen habe ich geändert) erhielt ich den detailliertesten und irgendwie auch emotionalsten Einblick in die Unterschiede zwischen Herkunftsland und dem Leben hier in Deutschland.

Er sagt: „Mein Herz ist zweigeteilt
Ein Teil ist in Italien […], wo ich geboren und aufgewachsen bin und das ich wie verrückt liebe.
Es folgen wortreiche Details zu Landschaft, Familie und Essen – kein Wort allerdings zu Staat, Gesellschaft oder Politik.

[…] Nach Hause zu Besuch zu kommen, besteht nicht nur aus den Nachspeisen und einer sensationellen Küche, dem Blick aufs offene Meer, meiner Familie, meiner Schwester – […] und meinen Freundinnen und Freunden.

ABER – die andere Hälfte ist gänzlich in Deutschland, dem Land, das mir alles gegeben hat, das mich jeden Tag staunend mit offenem Munde dastehen lässt, weil es so großartig ist. Das Land, wo ich mich sicher fühle. Das Land, das mich wertschätzt und [das] zu mir hält.  Wo ich meine Lieblingslieder hören kann. Die offene Mentalität, der Mix der Kulturen und der Diversität. Das Land, das mich noch nie hat spüren lassen, dass ich fehlerhaft, gehasst oder zweitklassig sei.

… im Hinblick auf Deutschland spricht er fast NUR über Staat und Gesellschaft …

Auf eine Rückfrage aus der Diskussionsrunde, ob er nach Italien zurückkehren würde, antwortet Gino mit Bitterkeit:
„Nein, nach Italien kehre ich niemals zurück, es fehlt mir, aber ich kehre nicht zurück, nicht einmal unter Folter.“

Eine ebenso spontane wie denkwürdige Reaktion.

„Das Land, in dem für immer Frühling ist.“

Was also haben diese Zuwanderer gemeinsam? Neben dem schon erwähnten sprachlichen Aspekt eine tiefe Wertschätzung für Deutschland. Bezeichnend dafür ist ihre im Internet oft anzutreffende, informelle – ich nenne sie mal gemeinsame Hymne. Der Text stammt von einer deutschen Liedermacherin und beginnt mit den Worten der Überschrift: „Das Land, in dem für immer Frühling ist.“ Als Einheimischer merkt man beim Zuhören, dass hier ein wenig ironisch ein möglicher Idealzustand beschrieben werden soll. Hört man den Text mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie die Zuwanderinnen und Zuwanderer, klingt er deutlich beschämend.

Und was machen alle andern? Was ist denn mit den Briten? Na ja, dazu eine kurze, persönliche Fußnote: Wenige Wochen, nachdem der Brexit-Beschluss herbeigeführt wurde, ist meine Schwester, von Beruf britische Regierungsbeamtin, zur deutschen Botschaft gegangen und hat dort als Deutsche erstmals Reisepässe für ihre beiden britischen Teenager beantragt. Am Ende geht es hier um die ganze EU, nicht nur um Deutschland: selbst ein Auslandsstudium im Erasmus-Programm, zum Beispiel in Spanien, wäre für meine Neffen als britische Staatsbürger in unerreichbare Ferne gerückt.

Währenddessen hat Jean, der Franzose, der vieles, wie etwa die Deutschkenntnisse mit den anderen teilt, nicht lange gefackelt und den Text der Hymne neu vertont ins Französische übersetzt und ins Internet gestellt – von einem Land, ou se serait toujour le printemps …


Celyn Arden ist ein deutsch-amerikanischer Publizist und Hochschullehrer. Er ist stellvertretender Leiter des Berlin Policy Instituts und lehrt Rechts- und Wirtschaftsenglisch an der Hochschule Bielefeld.


Nachwort Fritz Goergen: Mich erinnert Celyn Arden mit seinen Beobachtungen an meine frühen Jahre in der Bonner Republik. Damals versammelte sich ein breiter, politisch gleichfarbiger Strom von jungen Leuten in Westberlin, allen voran jene Jungmänner, die nicht zur Bundeswehr wollten und sich in Westberlin das Anerkennungsverfahren als „Kriegsdienstverweigerer“ ersparten. Ihre heutigen politischen Nachfahren sind kurz davor, ukrainische Wehrpflichtflüchtige an die Ukraine auszuliefern. Welcome in Wokistan.

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