Ganz unerwartet kam die Reaktion nicht: Der Bundesnachrichtendienst teilte dem Politikwissenschaftler Martin Wagener Ende Oktober mit, er dürfe seinen Arbeitsort, das „Zentrum für Nachrichtendienstliche Aus- und Fortbildung“ (ZNAF), vorerst nicht mehr betreten und auch nicht mehr über deren Lehrplattform mit seinen Studenten in Kontakt treten. Das ZNAF, in dem der Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung untergebracht ist, dient als Ausbildungsstätte für angehende Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes.
Die Begründung für Wageners faktische Suspendierung lautete, zu ihm lägen beim Bundesamt für Verfassungsschutz „sicherheitsrelevante Erkenntnisse“ vor. Was so klingt, als gebe es Hinweise, dass der Wissenschaftler unter Verdacht stünde, mit einer ausländischen Macht zu konspirieren, bezieht sich in Wirklichkeit auf die Arbeit des Professors, die sich in aller Öffentlichkeit vollzieht, und die – eigentlich – unter dem grundgesetzlichen Schutz für Lehre und Forschung steht. Schon in seinem Buch „Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“ beschäftigte sich Wagener mit der Frage, wieweit der Inlandsgeheimdienst heute Positionen, die sich im Grundgesetz finden und formal immer noch zum Staatsverständnis gehören – etwa der Volksbegriff – mittlerweile mit dem Stempel „rechtsradikal“ versieht, um die Beobachtung des konservativen und rechten Spektrums immer stärker auszuweiten. In mehreren Medienbeiträgen unter anderem für TE hatte Wagener die Ideen seines Buchs weiterentwickelt, um eine öffentliche Debatte anzustoßen. Den Vorwurf, er stünde nicht auf dem Boden des Grundgesetzes, weist er zurück.
Trotz des beruflichen Drucks auf ihn will er sich nicht zurückziehen. In der November-Printausgabe von „Tichys Einblick“ erscheint ein neuer Text Martin Wageners, den TE auch online dokumentiert. Darin schreibt der Politikwissenschaftler: „Rechter Aktivismus wird in der Tendenz als verfassungsfeindlich eingeordnet, weil zwischen ‚rechten‘ und ‚rechtsextremen‘ Positionen nicht mehr unterschieden wird.“
Auch in dem folgenden Beitrag stellt er die Frage, wo die Trennlinie zwischen diesen Begriffen verläuft.
Gegen den Wissenschaftler gab es schon einmal einen Disziplinierungsversuch, nachdem er das Buch „Deutschlands unsichere Grenze“ veröffentlicht hatte, in dem er konkrete Maßnahmen für einen effizienten Grenzschutz vorschlug. Damals setzte das Bundesinnenministerium ein Verfahren in Gang, mit dem die Publikation auf verfassungswidrige Inhalte abgeklopft wurde. Am Ende musste das BMI einräumen: keine von Wageners Thesen widersprach dem Grundgesetz.
Im Folgenden veröffentlichen wir Martin Wageners Text, so wie er auch in der Ausgabe 12/21 von „Tichys Einblick“ veröffentlicht ist:
Der Verfassungsschutz macht Politik
Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat sich festgelegt: Die Mitglieder der Identitären Bewegung sind rechtsextrem. Die Begründung der Einstufung durch die Behörde wirft jedoch viele Fragen auf. Einige Vorwürfe erscheinen sogar vollkommen abwegig
Die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) formierte sich vor einem knappen Jahrzehnt, im Oktober 2012, als Facebook-Gruppe. Im Mai 2014 folgte der Eintrag ins Vereinsregister. Zunächst trat sie nur im Internet auf, später machte sie mit zahlreichen, öffentlichkeitswirksamen Aktionen wie der Besetzung des Brandenburger Tors im August 2016 Schlagzeilen.
Sie soll in der Bundesrepublik über geschätzte 575 Mitglieder verfügen; genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Gruppierung agiert transnational und setzt sich insbesondere für den Erhalt der „ethnokulturellen Identität“ Europas ein. Im Selbstbild versteht sie sich als außerparlamentarisch agierende patriotische Jugendbewegung.
vorausgegangen, in dem bestätigt wurde, dass das BfV eine entsprechende Einstufung vornehmen dürfe.
Haldenwang meint mit „extremistisch“ zweifellos rechtsextremistisch, zumal die IBD im Verfassungsschutzbericht 2020 in der Rubrik „Rechtsextremistische Akteure der Neuen Rechten“ geführt wird. Demnach müssten gemäß der Definition der Behörde die folgenden politischen Einstellungen bei den Aktivisten zu finden sein: eine Ablehnung der „Gleichheit der Menschen“ und des „demokratischen Verfassungsstaates“, eine Befürwortung autoritärer Staatsstrukturen, Antisemitismus, die „Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit“, wobei die Auffassung vorherrscht, „die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder ‚Rasse‘ bestimme den Wert eines Menschen“.
Ist die Identitäre Bewegung vor diesem Hintergrund als rechtsextremistisch einzuordnen? Ein eindeutiges Urteil kann an dieser Stelle nicht formuliert werden. Dagegen erheben sich begründete Zweifel an der sehr einseitigen und darüber hinaus oberflächlichen Bewertung des BfV. Dies fängt bei Darstellungen im Verfassungsschutzbericht an.
Um die Vorwürfe zu erhärten, werden zahlreiche Handlungen und Forderungen zusammengetragen, über die in der Summe eine rechtsextreme Haltung belegt werden soll: Sperrung von Aktivisten auf Facebook, Instagram und Twitter, die Werte „Heimat“, „Freiheit“ und „Tradition“, Warnungen vor einer „Islamisierung“ und „Massenzuwanderung“, Kampagnen gegen den UN-Migrationspakt, Kritik an der Asylpolitik, die Forderung der „Remigration“, eine Neigung zu Verschwörungstheorien.
Nur überzogen oder extremistisch?
Aus solchen Aktionen und Positionen lassen sich gleichwohl nicht zwingend Hinweise auf eine verfassungsfeindliche Einstellung ableiten. Wer sich mit den Schriften einzelner Mitglieder der Identitären Bewegung auseinandersetzt, wird gleichwohl immer wieder auf überzogene Aussagen stoßen; viele, zum Teil neu kreierte Begriffe sind inhaltlich sehr angreifbar (zum Beispiel „sanfter Totalitarismus“, „DemokratieSimulation“, „Großer Austausch“, „Lügenpresse“, „Migrationswaffe“); zudem erfolgen Warnungen vor einer Islamisierung in einer Endlosschleife.
Einzelne Führungskader der IBD blicken auf eine Vergangenheit im Neonazi-Milieu zurück, was auch in den Verfassungsschutzberichten zur Sprache kommt. In den Fassungen von 2016 und 2017 wird zudem – in nicht konkretisierter Form – auf aktuelle Kontakte der Aktivisten zur rechtsextremen Szene verwiesen, um die Einstufung als Verdachtsfall zu begründen. In den Verfassungsschutzberichten 2018, 2019 und 2020 sieht es plötzlich ganz anders aus. Der bekannte Hinweis auf eine Zusammenarbeit mit Rechtsextremisten fehlt. Wie steht es also um die direkten Kontakte der Identitären zu diesem Milieu? Und wie werden Distanzierungen der Führungskader von ihrer Vergangenheit bewertet? In den Berichten ist dazu nichts zu finden, es bleibt bei uneinheitlichen Andeutungen.
Dagegen sieht das BfV vor allem im Konzept des Ethnopluralismus den entscheidenden Hinweis auf eine verfassungsfeindliche Haltung der Aktivisten. Angeblich folgen sie einem Volksbegriff, der sich an „ethnisch[en] und völkischabstammungsmäßigen Kriterien“ orientiert. Entsprechend erheben die Verfassungsschützer den Vorwurf eines die Menschenwürde verletzenden „exkludierenden Biologismus“ und unterstellen das politische Ziel einer Homogenisierung der Gesellschaft. Die Identitären setzten sich dafür ein, so die klare Andeutung, dass Deutsche mit Migrationshintergrund aus demokratischen Prozessen ausgeschlossen werden, womit der Beweis einer rechtsextremen Haltung erbracht sei. Sollte dies zutreffen, dann ist die Bewertung der Behörde korrekt.
Fraglich ist dabei gleichwohl, wie der Verfassungsschutz mit gegenläufiger Empirie umgeht. Die IBD schreibt zum Beispiel auf ihrer Internetseite: „Wir sind nicht gegen Einwanderung, denn diese gab es im geschichtlichen Kontext in geringem Maße immer. Wir treten für eine maßvolle und begrenzte Einwanderung ein, die die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft nicht übersteigt.“ Im Prozess gegen das BfV vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg haben die Aktivisten im November 2020 darauf hingewiesen, dass sie das „Verständnis eines ‚ethnisch reinen‘ Volkes“ ablehnen. Zudem erklärten sie, „dass der ‚Erhalt der ethnokulturellen Identität‘ eben kein biologistisches Konzept ist“.
Der Österreicher Martin Lichtmesz, einer der Vordenker der Identitären Bewegung, schreibt in seinem Buch von 2020: „So gesehen bedeutet Ethnopluralismus nichts anderes als das Selbstbestimmungsrecht aller Völker gegenüber Übergriffen und Machtansprüchen von außen.“ Er fügt hinzu: „Ethnopluralismus eignet sich weder als politisches Programm noch als geschlossenes philosophisches System. Man kann nicht jedem Volk ein klar abgegrenztes, in sich homogenes Heimatland geben.“ In einem Interview ergänzte er: „Den Behauptungen der ‚Rechtsextremismusexperten‘ zum Trotz spielt der Begriff der ‚Reinheit‘ im ethnopluralistischen Denken so gut wie keine Rolle.“
Sein Landsmann Martin Sellner, führender Kopf der Identitären Bewegung im deutschsprachigen Raum, erklärte im Interview mit dem Verfasser im Juli 2020: „Ich zähle zum Beispiel zur ethnokulturellen Identität einer jeden Nation auch ihre gewachsenen Minderheiten wie hierzulande etwa Burgenland-Kroaten und KärntnerSlowenen.“ Dies alles widerspricht vollständig dem Homogenitätsvorwurf des BfV.
Österreich bewertet anders
Die Behörde könnte die Aussagen der Vertreter aus Österreich schnell mit dem Hinweis abbügeln, sie sei für diese nicht zuständig. Beide, vor allem der im letzten deutschen Verfassungsschutzbericht erstmals erwähnte Sellner, beeinflussen aber ganz maßgeblich die inhaltliche Ausrichtung der IBD. Es lohnt daher ein Blick gen Süden, um zu schauen, wie die dortigen Behörden mit der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ) umgehen. Im Wiener Verfassungsschutzbericht 2019 wurde die Gruppierung nicht mehr als eindeutig rechtsextremistisch eingestuft. Die Gerichte blicken zudem kritisch auf vergangene Aktionen des Staates gegen die Aktivisten. Das Oberlandesgericht Graz beispielsweise urteilte im Dezember 2019, dass eine Hausdurchsuchung bei Martin Sellner rechtswidrig war. Im Dezember 2020 wurde das Terrorverfahren gegen die IBÖ eingestellt. Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat im Mai 2021 den Journalisten Michael Bonvalot zu einer Geldstrafe verurteilt. Anlass waren von diversen Medien ungeprüft übernommene Berichte Bonvalots über einzelne Aktivisten, in denen der Journalist nach Auffassung des Gerichts die Unwahrheit verbreitet hatte.
Richter korrigieren Exekutive
Der zuständige Richter bewertete die Handlungen der Identitären schließlich in einer Weise, die im Gegensatz zur Auffassung des BfV steht: „… eine strukturelle Ausrichtung der IBÖ … auf die Begehung von Verhetzungen nach den dazu getroffenen Feststellungen [ist] definitiv zu verneinen.“ Dies hat er wie folgt konkretisiert: „… die Erhaltung der ethnokulturellen Identität …, die durch den großen Austausch bedroht werde. … Probleme der Islamisierung, des Sozialmissbrauchs, der Überfremdung und der Migrantenkriminalität … Auch daraus lässt sich keine hetzerische Grundstruktur der IBÖ ableiten.“ Solche richterlichen Einlassungen sollten zumindest dazu führen, dass die Einschätzung, die Aktivisten seien eine „gesicherte extremistische Vereinigung“, infrage gestellt wird. Denn in inhaltlicher Hinsicht gibt es zwischen der IBD und der IBÖ kaum Unterschiede. Natürlich kann das BfV dennoch über hinreichend Beweise verfügen, die den Schluss zulassen, dass die Identitäre Bewegung verfassungsfeindlich ist – der Öffentlichkeit wird stets nur ein Ausschnitt des Lageberichts mitgeteilt. Auch ist es denkbar, dass sich viele Identitäre lediglich als Demokraten geben, de facto aber ganz andere Ziele verfolgen. Es liegt dann in der Verantwortung des Verfassungsschutzes, seine Bewertung zumindest mit einigen wenigen harten Beweisen anzureichern. Derzeit dominieren, wenigstens in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit, unbelegte Verdächtigungen, ein kruder Volksbegriff sowie die Weigerung, gegenläufige Empirie zur Kenntnis zu nehmen.
Mit der hier vorgetragenen Position dürfte der Verfasser einer sehr kleinen Minderheit in seiner Zunft angehören, die öffentlich Zweifel an der Einstufung der IBD in der erfolgten Form (!) äußert. Dafür sind vier Gründe zu nennen. Erstens gibt bei der Bewertung von Extremisten das BfV den Takt vor. Viele Wissenschaftler (wie auch Politiker und Journalisten) glauben, dass die Behörde über unumstößliche Beweise für ihre Aussagen verfüge. Ausgeblendet wird dabei, dass die Verfassungsschützer hin und wieder politisch motivierte Elaborate vorlegen („intelligence to please“). So ist nachweisbar, dass Thomas Haldenwang den Kurs der Bundesregierung zur Schaffung einer multikulturellen Willensnation stützt. Akteure wie die Identitäre Bewegung stören diesen Prozess.
Zweitens können auch Professoren und Doktoren den Mechanismen des Bestätigungsfehlers, des sogenannten „confirmation bias“, unterliegen. Dies bedeutet, dass sie bei der Betrachtung eines Gegenstands jene Empirie zusammentragen, die das eigene Bild untermauert. Drittens gilt, was der Rechtsextremismusforscher Richard Stöss schon vor über 20 Jahren festgestellt hat: „Der Begriff Rechtsextremismus ist aus historischen Gründen stark politisiert, die Diskussionen um seine Ursachen, seine Bedeutung und um die Methoden für seine Bekämpfung sind hochgradig durch Werturteile geprägt. Selbst der wissenschaftlichen Forschung gelingt es nicht immer, sich der Problematik unbefangen zu nähern.“
Ausgrenzung statt Argumente
Die vierte Erklärung dürfte am weitesten reichen, da sie auf einen intradisziplinären Abschreckungseffekt abstellt. Im neuen Buch des Verfassers („Kulturkampf um das Volk. Der Verfassungsschutz und die nationale Identität der Deutschen“) findet sich eine ausführliche Analyse der Bewegung um Martin Sellner. Da dabei die Vorgehensweise des BfV kritisiert wird, verstieg sich ein Kollege des Fachbereichs Nachrichtendienste zu der Behauptung, der Verfasser habe eine „Apologie der Identitären“ vorgelegt. Argumente fehlten, es kam allein auf die Botschaft an die Kolleginnen und Kollegen an: Wer die offizielle Sicht des BfV nicht teilt respektive von den üblichen Einordnungen innerhalb der Zunft abweicht, ist selbst de facto ein Rechtsextremist. Man möge also bitte in der Spur bleiben – auch als Wissenschaftler.
Dabei wird jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses unterdrückt: die Hinterfragung offensichtlicher Widersprüche. Und davon gibt es einige: Erst werden angebliche Kontakte in die rechtsextreme Szene zur Begründung der Einstufung aufgeführt, dann fallen diese plötzlich weg. Ersatzweise ist zur Aufrechterhaltung der Vorwürfe das Konzept des Ethnopluralismus herangezogen worden. Der Inlandsnachrichtendienst hat den Ansatz einseitig aufgearbeitet, um ihn für die neue Argumentationslinie passgenau nutzen zu können.
Zu den wohl interessantesten Beobachtungen gehört, dass der Begriff „Ethnopluralismus“ bereits im Verfassungsschutzbericht von 2016 Erwähnung gefunden, aber noch keine Kritik erfahren hat. Warum nicht? Alten, wiederherstellbaren Internetauftritten der Aktivisten sind schon in Fassungen von Ende November/Anfang Dezember 2012 Überlegungen zur „ethnokulturellen Identität“ und zu „Ethnopluralisten“ zu entnehmen. Warum war dies alles, die konstante Weltsicht der IBD, über Jahre für das BfV unproblematisch? Das muss einen Wissenschaftler neugierig machen. Es sei denn, er ist bereit, als Wasserträger offizieller Stellen gesehen zu werden.
Wie sollten nun Politik und Gesellschaft mit der Identitären Bewegung umgehen? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Wenn tatsächlich nachweisbar ist, dass die Gruppierung die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen versucht, Gewaltakte vorbereitet oder verdeckt mit Neonazis zusammenarbeitet, muss sie verboten werden. Befinden sich solche harten Beweise nicht in den „Verschlusssache“-Mappen der Behörde, wird man sich mit der Existenz der Identitären Bewegung als Akteur des vorpolitischen Raums abfinden müssen.
Damit wiederum ist ein Thema angesprochen, das im bundesrepublikanischen Diskurs derzeit noch als Tabu gilt. Linker Aktivismus (wie Greenpeace, Menschenrechtsgruppen, Amadeu Antonio Stiftung) wird als legitime Ausdrucksform der politischen Auseinandersetzung betrachtet. Im Sinne der Gleichberechtigung verfassungskonformer Meinungen muss dies dann aber auch für den rechten Aktivismus gelten, wobei an dieser Stelle „rechts“ als Synonym von „konservativ“ verstanden wird. Die Gretchenfrage lautet daher: Welche Themen dürfen rechte Aktivisten mit welchen Instrumenten bearbeiten? Die Antwort des deutschen Mainstreams ist eindeutig: Rechter Aktivismus wird in der Tendenz als verfassungsfeindlich eingeordnet, weil zwischen „rechten“ und „rechtsextremen“ Positionen nicht unterschieden wird.
Radikalisierung durch Isolierung
Dabei unterschätzen die Vertreter des Mainstreams, dass sie eventuell jene Bedrohungen provozieren, die sie eigentlich doch verhindern wollen. Wenn rechte Aktivisten im Gegensatz zu ihren linken Pendants dauerhaft ausgegrenzt werden, kann dies dazu führen, dass die gemäßigten Kräfte die Gruppierungen verlassen und dass dann nur noch der harte Kern übrig bleibt. Im Falle der Identitären Bewegung könnte dies bedeuten, dass sie irgendwann vollständig jene Erscheinungsform annimmt, die ihr bereits jetzt unterstellt wird.
Ein zweites Entwicklungsszenario hat Martin Sellner im Interview mit dem Verfasser angesprochen. Auf die Frage, ob er bei einzelnen Aktivisten Radikalisierungsprozesse feststelle, antwortete er: „Die IB wird trotz des Drucks Kurs halten. Allerdings führen staatliche sowie mediale Formen der Einflussnahme bei Beobachtern und anderen Personen im rechten Umfeld durchaus zu einer Radikalisierung und zu der Behauptung, dass ein friedlicher, metapolitischer und demokratischer Weg, wie ihn die IB einschlagen möchte, nicht gangbar sei.“ In der Szene wird diskutiert, ob die Gruppierung ihre Arbeit einstellen soll; einige Identitäre betrachten die eigene Bewegung politisch als „verbrannt“.
Sollte die deutlich sichtbare Verbitterung einzelner Aktivisten zu einer Radikalisierung führen, kann ein solcher Prozess ganz unterschiedliche Ergebnisse zeitigen. Im schlimmsten Fall spaltet sich eine Art „Braune Armee Fraktion“ von der Identitären Bewegung ab. Wer dann die Schuldfrage einseitig stellt, würde die Vorgeschichte der Entstehung einer neuen Terrorgruppe ausblenden.
Denn gegenwärtig sind es auch Vertreter des Mainstreams, die rechts der Mitte dazu beitragen, Radikalisierungsprozesse in Gang zu setzen. Eine gleichberechtigte Teilhabe aller demokratischen Lager am politischen Leben könnte hingegen der gesellschaftlichen Polarisierung entgegenwirken.
Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. In der Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz hat er sich auch über seinen Podcast geäußert.