Über den Anteil von Vegetariern in der deutschen Bevölkerung streiten sich die Statistiker. Ein bis zehn Prozent sollen es sein, je nach Studie, wobei die jeweils konkrete genannte Zahl wohl eher die Interessen der Autoren verrät als die Wahrheit.
Die Universität Göttingen fand in einer Studie rund vier Prozent Vegetarier, zwölf Prozent sogenannte Flexitarier (verzichten nicht ganz auf Fleisch) und zehn Prozent Fleischesser, die aber künftig weniger Fleisch essen wollen. Veganer ließen sich nicht in statistisch relevantem Ausmaß nachweisen, und unter den „Vegetariern“ gab die Hälfte an, Fisch zu essen. Ein Viertel der Bevölkerung, so die Forscher, stehe somit dem Fleischkonsum kritisch gegenüber.
Der neue „Fleischatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung zeichnet ein ganz anderes Bild. Wie schon vor zehn Jahren konsumiert der Durchschnittsdeutsche aktuell pro Kopf und Jahr knapp 60 kg Fleisch, was zuzüglich der Schlachtabfälle einer Ausgangsmenge von etwa 87 Kilogramm Tier entspricht. Die Differenz landet im Hundefutter, in der Seife oder gleich im Müll. Säuglinge und Vegetarier sind bei der Durchschnittsbildung übrigens eingerechnet. Zumindest halbieren solle der durchschnittliche Deutsche seinen Fleischkonsum, empfiehlt die Heinrich-Böll-Stiftung.
Überlebt der typische Veganer nur zwölf Jahre?
Denn Fleischverzicht rettet Leben. Laut Internetportal „vegan world“ erspart jeder Veganer im Jahr bis zu 95 Tieren den Schlachthof. Wenn aber laut Fleischatlas jeder Mensch in Deutschland im Lauf seines Lebens „nur“ knapp 1.100 Tiere isst, passt das rechnerisch ganz offensichtlich nicht zusammen. Entweder (über)lebt der typische Veganer nur knapp zwölf Jahre vegan, oder die Zahl ist schlicht falsch.
Gleichwohl sorgt der Vorschlag eines Fleischverzichts für Irritationen. Betrachtet man die Kommentare zu entsprechenden Facebook-Beiträgen, so scheinen die meisten schon jetzt nur „ganz wenig Fleisch“ zu essen. Auch diese scheinbar verschwindend geringen Mengen mussten eine äußerst kritische Qualitätskontrolle durchlaufen, bevor sie auf den deutschen Tellern landeten: „Ich will wissen, wo meine
Wurst herkommt!“, „Fleisch nur zu besonderen Anlässen, wie früher!“, „Fleisch, wenn überhaupt, vom Bauern nebenan!“.
Bei all diesen bewussten, ethisch korrekten Konsumenten fragt man sich verwundert, wer denn überhaupt Fleisch vom Gewicht einer schlanken Frau (oder, glaubt man „vegan world“, eines gut genährten Mannes) pro Jahr vertilgt und wo genau in den Zentren deutscher Metropolen die zahlreichen Landwirte mit ihren Ökofarmen zu finden sind.
Dabei hat doch der letzte „Fleischatlas“ im Jahr 2016 berichtet, dass immer mehr bäuerliche Betriebe in Deutschland schließen, während die Produktionsmenge an Fleisch konstant bleibt. Mit Fleisch aus Intensivtierhaltung scheint es also wie mit der Musik von Modern Talking zu sein: Millionenfach verkauft, niemand will’s gewesen sein.
Unter dem Motto „Guter Wille, wenig Wissen“ präsentiert der „Fleischatlas“ eine Umfrage zu den Kaufgewohnheiten in Bezug auf Fleisch. Dort sollten die Befragten ihren Grad der Zustimmung zu verschiedenen Aussagen angeben. Man war sich einig: Wenn Tiere schon für Essen sterben müssen, sollen sie auch gut gelebt haben; über 85 Prozent stimmen hierbei zu, etwa die Hälfte darunter sogar voll und ganz. Knapp zwei Drittel der Befragten gaben an, sie seien bereit, mehr Geld für Fleisch aus besserer Tierhaltung auszugeben, ein weiteres knappes Viertel würde das zumindest teilweise tun.
Allerdings nur jeder fünfte Befragte weiß, woran Fleisch aus artgerechter Haltung zu erkennen ist. Und das, wo es doch zum Bauern ums Eck, der sein Vieh an den Metzger des Vertrauens vermittelt, nur ein Katzensprung wäre. „Auch wenn viele Verbraucher behaupten, dass ihnen Tierschutz wichtig ist – beim Einkaufen achten sie doch nur auf den Preis.“ Fast 99 Prozent aller von der Heinrich-Böll-Stiftung befragten Teilnehmer stimmen dieser Aussage zu. Des Rätsels Lösung ist also gefunden: Billigfleisch kaufen immer die anderen.
Falsche Zahlen für eine schönere Welt
Wer ernsthaft mit dem Gedanken spielt, weniger Fleisch zu essen, aber noch nicht weiß, wie er die Fleischeslust bekämpfen soll, dem sei ein Blick auf die Internetseite „Worst of Chefkoch“ empfohlen. Diese Ansammlung an kulinarischen Schwerverbrechen des World Wide Web bringt eindrucksvoll ans Tageslicht, wie die Statistiken des „Fleischatlas“ wohl zustande gekommen sind. Die „Weihnachtslasagne“ besteht im Wesentlichen aus einem knappen Kilogramm Hackfleisch und einem Viertelliter Glühwein. Die „Aldi-Cheeseburger-Pizza“, das eigens für die Tupperdose kreierte „Flaschenfleisch“ und der „Milchreis mit Bratwurst“ lassen vermuten, dass so mancher Bundesbürger gar nicht genug Anlässe findet, möglichst alles zu verwursten, was sich im Kühlregal des Supermarkts findet und weniger als fünf Euro pro Kilo kostet.
Auf „Chefkoch.de“ selbst finden sich übrigens 16.091 Hackfleischgerichte und 1.771 Zubereitungsarten für Fleischwurst. 16.125 Rezepte sind mit dem Schlagwort „vegan“ versehen. „Grünkohl“ bringt es auf schlappe 503 Einträge, „Tofu“ immerhin auf 1.418. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen pürierten Schlachtabfällen und gegrilltem Kompost? Belastbare Trendprognosen lassen sich daraus kaum ableiten, aber die Rezept-Statistiken zusammen mit der Vielzahl der Vier- und Fünf-Sterne-Bewertungen zeigen, dass sich bis heute allein fast 15.000 Leser für das „Fleischwurst-Gyros“ interessiert haben.
Fleisch, und zwar solches von geringer Qualität, steht auf dem täglichen Speiseplan der meisten Deutschen. Die Zahlen belegen dies ohne jeden Zweifel, auch wenn es keiner zugeben mag. Ob es deshalb besser ist, sich durch falsche Zahlen eine schönere Welt dank Fleischverzicht zurechtzulügen? Wohl kaum. Alternative Fakten werden nicht besser, wenn sie im Dienste einer guten Sache auf den Tisch gebracht werden.