Wenn Regisseure präzise sind, wenn sie die Physik und Abfolge der Realität realistisch abbilden wollen – so sehr sie die Psychologie und Belastbarkeit der Charaktere auch dehnen mögen – wenn auf ein Ziel schießenlassen wollen, und wenn die Kamera an der Einschussstelle steht, also da, wo die Kugel einschlägt, dann erlebt man oft zunächst den Einschlag einer Pistolenkugel, noch bevor man den Schuss der Waffe hört. (Korrekt macht das etwa Breaking Bad in der Sniper-Szene mit Gus – nur bei YouTube gucken, wenn Sie Filmblut vertragen.)
Es ist ja auch logisch: Eine Kugel fliegt schneller als der Schall durch die Luft. Natürlich wird die Kugel einschlagen, bevor ihr Ziel sie hört. Wenn die Kugel einschlägt, dann ist es vorbei, und du bekommst es nicht einmal mehr mit.
»Sehr genau beobachtet«
Es ist (einiges) vorbei – und doch geht es weiter.
Es ist vorbei, dass Politiker auch nur »den Anschein wahren«. Das Weltbild von Linken mag auf Lügen gebaut sein, doch dieser Tage machen sie sich immer wieder in ihren Absichten erstaunlich ehrlich. In Rheinland-Pfalz wird der SPD-Gesundheitsminister zitiert: »Alle, die sich immer noch nicht impfen lassen möchten, müssen damit rechnen, dass man sie sehr genau beobachtet.« (zeit.de, 30.8.2021 verkauft das ernsthaft so: »Gesundheitsminister lehnt Impfpflicht für Berufsgruppen ab«). Die Geschichte wiederholt sich, so heißt es, erst als Tragödie und dann als Farce – und wir fragen wieder: Warum nicht als tragische Farce?
Bei den Demonstrationen für Grundrechte und Grundgesetz in Berlin werden die Berichte über Polizeigewalt bald »neues Normal«. Dass die Berliner Polizei die Pro-Grundrechte-Demonstranten zu Boden wirft oder sogar mit dem Knie ins Gesicht tritt, während diese von den Polizeikollegen brutal gehalten und gezerrt werden, es wirkt wie ein »neues Normal«, wie auch andere »spannende« Polizeimaßnahmen (schauen Sie selbst). Dass dies aber das neue Normal ist, es bedeutet zwingend, dass etwas anderes vorbei ist. (Notiz am Rande: In Berlin wurden jüngst die Rechtschreib-Anforderungen an Polizeibewerber gesenkt, so welt.de, 20.1.2020. Jeder fünfte Bewerber sei am ohnehin nicht besonders schweren Sprachtest gescheitert. Wir ahnen jetzt, was die Berliner Polizisten machen könnten, die keinen geraden Satz formulieren können. Fürs Knie-ins-Gesicht muss man kein Thomas Mann sein, nur ein »harter Mann«, solange man sich mit Querdenker-Omas und nicht mit »jungen Männern« anlegen soll.)
Vieles ist heute vorbei, vor allem die Zeit, in der man gerechtfertigt an offizielle Zahlen glauben durfte. Jetzt sickert sogar im »Mainstream« durch, dass die deutschen Corona-Todeszahlen womöglich nochmal niedriger sind, als RKI und Propaganda sie behaupten, nämlich um locker 80 Prozent niedriger (welt.de, 30.8.2021). Wer heute noch dieser Regierung glaubt, bei dem ist noch so einiges mehr »vorbei«, das aber gründlich.
Diese Meldungen sind nicht »nur« ein Skandal, von dem es ein Skandal ist, dass es keiner ist. – Jede von denen vorgelebte Lüge ist wie eine Kugel, die in das Herz unserer Werte einschlägt, doch der Debattenlärm ist wie der Klang der Explosion, der an unser Ohr gelangt, nachdem die Kugel eingeschlagen hat.
Ja, es ist vorbei – so manches! Im grün-regierten Baden-Württemberg wenden sie sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zu; pardon, ich meine: was denen wichtig ist: Das Finanzministerium schaltete ein Denunziationsportal frei, mit dem man seine Nachbarn einfacher beim Finanzamt verpfeifen kann (fm.baden-wuerttemberg.de) – das Märchen, man habe aus seiner Geschichte gelernt, es ist auserzählt.
Um Details kann sich Merkel leider nicht kümmern, die hat keine Zeit, die ist aktuell mal nicht im Kino, sondern bei Greenpeace (welt.de, 31.8.2021) – wir dürfen gespannt sein, welche neuen Anschläge auf das Wohl und Leben der deutschen Bürger sich Greenpeace wieder ausdenkt (zwei davon sind im Essay »Hört auf die Wissenschaft!« erwähnt).
Nachdem es längst geschah
Die Dinge, die heute um uns her passieren, sie sind die Folge von Ereignissen, die früher passierten, auch wenn ihr sie damals nicht mitbekommen habt.
Der Polizist, der lustvoll dem Demonstranten ins Gesicht tritt. Der Politiker, für den die Frage unverschämt und »rechts« ist, warum die Politik sich nicht an die Regeln hält, die sie für andere beschließt. Eine (Landes-) Regierung, die ihre Bürger zum Denunziantentum auffordert. Die einst vielbeschworene »Weltgemeinschaft«, die sich damit abfindet, dass 20 Jahre nach »9/11« wieder Taliban, al-Qaida & Co. stark werden.
Die Kugel schlägt ein, bevor du den Schuss hörst. Wenn du Glück hast, schlägt die Kugel neben dir ein, dann hast du Zeit, zu schauen, wo der Schütze sitzt, und wie du ihm aus dem Weg gehen kannst.
Unsere großen Illusionen von Werten und das große Schauspiel von Anständigkeit – es ist vorbei. Der Lärm, den wir heute noch hören, das Händeringen, die panischen, nachgeschobenen Debatten – es sind Schallwellen des Schusses, die an unsere Ohren dringen, aber erst den entscheidenden Moment nachdem die Kugel einschlug und ihr Opfer erwischte. Der Lärm will uns die Ohren zerreißen, doch das, was er ankündigen sollte, ist längst und unwiderruflich geschehen.
Nichts ist schneller als das Licht
Jedoch, nicht in jedem Fall bekommt man den Schuss erst nach dem Einschlag mit.
Eine generelle Ausnahme gibt es: Wer zum Zeitpunkt des Schusses auf den Schützen schaut, der sieht immerhin das Mündungsfeuer, denn das Licht wandert noch immer schneller als die Kugel (nichts ist, wie wir seit Einstein wissen, schneller als das Licht).
Ich will meine bisherigen 1.180 Texte (Stand 31.8.2021 vor diesem) als den Versuch deuten, so vielen Menschen wie möglich zu sagen: »Schaut mal, da ist Mündungsfeuer! Das heißt also, dass die metaphorischen Kugeln einschlagen werden – und sie werden alle unsere sogenannten ›Werte‹ zu Trümmern schlagen.« (Ich könnte viele Essays zum Beleg zitieren, doch nehmen wir den Text, den einige Leser damals »programmatisch« nannten: »Die Freiheit nehm’ ich mir« (2016).)
Selbstredend dabei
Was ist nun die rationale Reaktion, wenn eine Kugel neben einem einschlägt? Wie soll man reagieren, wenn die Werte, die wir für unser Fundament hielten, uns zwischen den Fingern zerrinnen und außer der Erinnerung nichts mehr bleibt?
Ich schloss »Die Freiheit nehm‘ ich mir« damals mit diesen Worten: »Was mir wichtig ist, entscheide ich selbst. Das nenne ich Freiheit. Das ist mir wichtig.« (Essay vom 8.7.2016).
Heute, ein halbes Jahrzehnt später, bleibe ich ohne Zweifel dabei, doch ich gebe demselben Satz einen neuen Zungenschlag, ich bringe eine neue Prämisse hinein. Es ist vorbei, dass »die« auch nur so tun, als hätten sie Werte, also nehme ich die Betonung auf »selbst« heraus und lege einen neuenZungenschlag hinein.
Ich entscheide noch immer, was mir wichtig ist. In Zeiten der universellen Lügen an irgendetwas zu glauben, das über den unmittelbarsten inneren Kreis und die Schlagworte des Tages hinausgeht, das ist echte innere Arbeit.
Die unmetaphorischen Polizisten schlagen zu und die metaphorischen Kugeln schlagen neben uns ein. Unsere Illusionen von Werten gehen zu Bruch. In den Scherben spiegelt sich in nostalgischem Licht eine alte Hoffnung auf klügere Zeiten.
Wohl dem, der weiß, wofür er steht. Wohl dem, der seine relevanten Strukturen kennt. Wohl dem, der ohne Angst sagen kann, was ihm wirklich wichtig ist!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.