Die Deutschen schweigen. Dort, wo sie eigentlich diskutieren müssten, verfallen sie in ein absurdes Schauspiel.
Cyber-Lärm und zwischenmenschliche Stille
Es ist still geworden im Land. Damit meine ich gewiss nicht die Talkshows oder die öffentlichen Facebook-Kommentarbereiche, denn dort ist es lauter denn je zuvor (was nicht bedeutet, dass man auch miteinander redet). Ich meine dagegen die ganz alltägliche Begegnung mit den Mitmenschen, also gerade den Raum, in dem die Zusammenkunft abseits der Enthemmung von Fernsehen und Internet stattfinden und gestaltet werden kann. Noch vor wenigen Monaten hätte ich nicht im Traum daran gedacht, Themen von gesellschaftspolitischer Relevanz bewusst nicht in einem solchen Rahmen anzusprechen, denn dafür diskutiere ich zu gerne und begegne zu vielen Leuten, die eine Diskussion zu bereichern wissen. Aber mittlerweile ist etwas anders geworden.
Das, was gemeinhin „Flüchtlingskrise“ genannt wird, ist aus den Streitgesprächen vieler Deutscher verschwunden. Damit will ich nicht sagen, dass gar nicht mehr darüber geredet wird – aber man sucht sich mittlerweile sehr genau aus, mit wem man darüber redet. Ist man sich halbwegs sicher, dass die Meinungen der übrigen Anwesenden nicht allzu weit von der eigenen entfernt liegen, gibt es kaum Zurückhaltung. Aber sobald alle Anwesenden wissen, oder auch nur erahnen, dass bei einer Diskussion unterschiedliche Meinungen im Raum stehen würden, zieht sich die gesamte Runde auf eine ungeschriebene Übereinkunft zurück, das Thema Flüchtlinge nicht zur Sprache zu bringen.
Die offensichtliche Frage, warum die Deutschen, bisweilen auch ich, dabei mitspielen, ist nicht einfach zu beantworten, denn es spricht ja niemand darüber. Am schwersten zu erklären ist immer das Offensichtliche, welches jeder zu ignorieren beschlossen hat.
Ayn Rand: “The hardest thing to explain is the glaringly evident which everybody has decided not to see.”
Viele sind vermutlich des Streitens einfach müde. Denn der Streit über die Flüchtlingskrise hat Vertrauen zwischen Menschen zermürbt und Freundschaften gekostet. Wir haben keine Lust mehr, uns verbal blutig zu schlagen. Das überlassen wir jetzt ganz den Politikern, die diesen Auftrag mit Freuden angenommen haben. Das ein oder andere Ekelpaket scheint dort sogar endlich in seinem eigentlichen Element angekommen zu sein. Wir dagegen verstummen.
Gelegentlich, wenn mir aufgefallen ist, dass man von dem ein oder anderen nichts mehr hört, erhalte ich immerhin noch die Mitteilung, dass man keine Kommunikation mehr wünsche, da die von mir vertretenden Meinungen „nerven“ würden. Ich ersuche dann immer darum, mir zu erklären, warum meine Meinungen nerven und wo ich mich womöglich auf Unwahrheiten, Verschwörungstheorien, oder Hetzreden berufen haben könnte, denn diese würden immerhin einen triftigen Grund für eine menschliche Distanzierung darstellen. Die Tatsache, dass ich auf diese Ersuchen nie eine Antwort erhalten habe, stellt natürlich auch schon eine Antwort dar.
Zudem: Was würde passieren, wenn die erwähnte stille Übereinkunft durchbrochen würde? Um Neujahr herum rückte ein Teil der neugeschaffenen Realität den Befürwortern der Flüchtlingspolitik zum ersten Mal so eng auf die Pelle, dass sie nicht nur von ihr genervt sein konnten, sondern sich öffentlich mit ihr auseinandersetzen mussten. Ihre Reaktionen waren die altbekannten: Verleugnen, kleinreden, schimpfen, ein Hauen und Stechen, hinter dem nur der Gedanke stand: „Aber es war doch richtig!“ – verbunden mit der Aggression gegen alle, die ihn ihnen streitig machen wollten.
Schweigen aus Angst vor den Folgen von Streit
Im Grunde unterbleiben die Diskussionen also, weil beide Seiten jeweils für sich nachvollziehbare Ängste in sich tragen: Die einen haben panische Furcht davor, dass ihr moralisch reines Gewissen angekratzt werden könnte und die anderen sind mittlerweile entweder zu eingeschüchtert, um dies noch zu wagen, oder sie haben Angst vor der Erkenntnis, dass der Wunsch der Gegenseite, sich selbst als die guten Menschen zu sehen, ihre Zugänglichkeit für rationale, auf Fakten basierende Argumentationen wirklich komplett verbaut hat.
Diese vergangene Lust am Streitgespräch bedeutet übrigens nicht, dass den Menschen das Thema nicht unter den Nägeln brennt. Wenn man sonst eher zurückhaltenden Zeitgenossen unter vier Augen mal vorsichtig zu verstehen gibt, dass man keine Absichten hegt, mit der großen Moralkeule auf sie einzudreschen, wird man überrascht sein, wie viele gut begründete Sorgen und Einschätzungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik ohne weiteres Zutun aus den Leuten heraussprudeln, welche sie schon lange im Stillen für sich gehegt haben.
Auch bedeutet die Abtötung der Diskussion natürlich nicht, dass mit ihr auch die Krise verschwunden ist, oder dass sie sich schon irgendwie von selbst lösen wird, worauf eine beachtliche Zahl an Mitmenschen anscheinend ihre Hoffnungen setzt. Beobachtet man im Augenblick die Menschen dieses Landes mit einer gewissen aufmerksamen Distanz dabei, wie sie krampfhaft bemüht sind, den Elefanten in der Mitte des Raumes zu übersehen, dann kann man dabei manchmal die unterschwellige Angst auf ihren Gesichtern erkennen. Sie benehmen sich wie die Darsteller in einer gigantischen Farce, bei der jeder weiß, dass es sich um eine Farce handelt, die aber niemand als solche benennen will. Es ist die Vorstellung, dass jeden Moment jemand, der nicht über die Stillhaltevereinbarung informiert ist, hereinplatzen und ihr Theater als das entlarven könnte, was es ist, bei der ihnen das Grausen kommt. Dabei ist das Monströse, dem ihre Blicke ausweichen, schlicht die Frage nach dem Grund ihrer Furcht und nach ihrer Pflicht, sie zu ertragen.
Solange die Darbietung aber noch Woche für Woche verlängert wird, warten wir weiter wie die Figuren in einem stummen Theaterstück, das Samuel Beckett nicht absurder hätte niederschreiben können. Wir wissen nicht, wer Godot ist, oder warum wir auf ihn warten. Wir wissen nur, dass der Gedanke, Godot könnte nicht erscheinen, uns schlimmer erscheint, als alles, was wir durch unser Nichtstun anrichten.
Andreas Backhaus arbeitet in München an seiner Promotion zu den Themen Entwicklungsökonomie und internationale Wirtschaftsbeziehungen.