Tichys Einblick
Am Nasenring durch die Manege

Die Union hat sich sehenden Auges in diese Falle manövriert

Friedrich Merz stellt unter Beweis: Wer mutlos Positionen aufgibt, wer sich mehrmals in klar durchschaubare Fallen begibt, wer sich bereitwillig in das Maul eines Krokodils legt und dann wundert, dass ihm die Gliedmaßen abgebissen werden, wer schon im Eröffnungszug des Politik-Schachs heillos überfordert ist, der kann ganz gewiss nicht Kanzler.

IMAGO

Der 6. November 2024 hätte der Tag der Befreiung von der Ampel, der Befreiung von rot-grün, vor allem von der grünen Suprematie, die Deutschland ins Elend führt, werden können, der Anfang des Siegeszuges der Union, bis bin zu Wahlergebnissen um die 35 bis 36 %, die Stunde des Oppositionsführers und informellen Bundeskanzlers Friedrich Merz, allein der 6. November 2024 wurde nichts von all dem – und das hat Deutschland einzig und allein, Friedrich Merz zu verdanken.

Weder Konrad Adenauer, noch Helmut Schmidt, noch Franz Josef Strauß, auch nicht Helmut Kohl, nicht einmal die junge Angela Merkel hätten diese Chance ungenutzt verstreichen lassen. Sie hätten sich bewegt, und nicht nur in Eitelkeit. Sie hätten nicht nach dem Aussehen von Politik gefragt, sondern nach der Politik selbst. Doch Merz hat gehandelt wie ein Advokat, nicht wie ein Politiker. Ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende der Union hat das Kunststück fertiggebracht, die strategisch und taktisch komfortable Situation der Union gründlich zu verspielen, die Initiative der SPD und jetzt dem BSW zu überlassen, und das nur aus Gründen der Borniertheit.

„Schöner verlieren mit Friedrich Merz“ oder „Schneller Sterben in politischer Schönheit“ heißt das Stück, das die Union gerade aufführt. Friedrich Merz aus dem Sauerland gleicht dem Mann, der in seiner Jugend einmal in einer Schüleraufführung mitgespielt hat und deshalb glaubt, die Hauptrolle in einem Shakespeare-Stück übernehmen zu können, nur weil er zufällig Technischer Leiter des Theaters geworden ist.

Vollmundig erklärte der Oppositionsführer in einem talmihaften Pathos, das er für staatsmännisch hält, dass er einige Gesetze mit der SPD mittragen würde, aber erst wenn Scholz die Vertrauensfrage gestellt hat. Mit dem Spiel um den Zeitpunkt, wann die Vertrauensfrage gestellt wird, hat sich Merz von Scholz auf einen Nebenkriegsschauplatz locken lassen, wo er sich getrost verkämpfen konnte. Man kann sich über Scholzens Schachzug entrüsten und das verschlagen nennen, doch es ist Politik, auch wenn nicht von ihrer schönsten Seite.

Dass es Scholz da nicht um irgendwelche Gesetze ging, die er noch durchbekommen möchte, sondern er sich schon im Wahlkampf befand, hatte Merz nicht begriffen. Der Oppositionsführer suchte, die große Staatsbühne zu erklimmen, sich dort mit der Regierung mit dem Florett zu duellieren, da hatte Scholz diese Staatsbühne bereits abgebaut und war im Strauchkampf, in den Niederungen des Wahlkampfes angekommen, die er schon deshalb als Kampfplatz ausgesucht hat, weil Merz sich dort nicht entfalten kann.

Jetzt mussten Scholz und sein Berater Wolfgang Schmidt nur darauf warten, dass sich Merz und die Union in den Hinterhalt locken lassen, indem sie auf die parlamentarische Mehrheit aus Union, FDP, teils BSW und vor allem AfD verzichteten, um brav mit Olaf Scholz zu verhandeln. Haben Friedrich Merz, Carsten Linnemann, Thorsten Frei – und wie die Helden der Union alle heißen mögen, nichts aus dem Debakel nach Solingen gelernt, als die Union staatspolitisch mit der SPD überparteilich einen Weg aus der Migrationskrise suchte und jämmerlich an Tricky Scholz scheiterte? Hat Friedrich Merz, hat Carsten Linnemann, hat Thorsten Frei nichts aus der Schmierenkomödie gelernt, die Scholz mit der FDP aufführte?

Lernen die Chefs der Unionsfraktion, die lieber ihr Spiegelbild als den politischen Gegner ins Auge fassen, nichts daraus, wie journalistischen Aktivisten der Roten und Grünen in der Süddeutschen, in der ZEIT Pasquills gegen die FDP verfassen, der FDP die Schuld zuschieben wollen am Scheitern der Ampel, weil sie die Wahrheit fürchten wie der Teufel das Weihwasser, dass Olaf Scholz als Kanzler eine Fehlbesetzung ist und Deutschlands außenpolitische Geisterfahrt einer Politikerin, die geistig nie Pattensen verlassen hat, und der Niedergang der deutschen Wirtschaft, für die ein Politiker verantwortlich ist, für den die Realität nichts und die Kommunikation, auf gut deutsch: Geschwätz, alles ist, die wahren Gründe für das Scheitern der Ampel sind. Anstatt, dass Friedrich Merz genau das anprangert, geht er auf Kuschelkurs mit den Roten, mit den Grünen – und das auch noch in einem Moment, in dem den roten und grünen Bankrotteuren die Felle wegschwimmen, versucht er, sie für die roten und grünen Bankrotteure auch noch einzusammeln.

Es dürfte Scholz und Schmidt eine große Freude gewesen sein, den Antrag gegen den Paragraphen 218, den Schwangerschaftsabbruch auszufüllen. Scholz dürfte es kaum erwartet haben, seinen Namen unter diesen Antrag zu setzen und dabei bei der Vorstellung des dummen Gesichts, das Merz machen würde, vergnügt gelächelt haben. Hatte Merz nicht einmal einkalkuliert, dass Olaf Scholz so Politik macht, dass das sein Stil ist? Dann stellt sich schon die Frage, wo Friedrich Merz die letzten drei Jahre war. Der Kompromiss zum Paragraphen 218 ist der SPD schnurzegal, doch für die Union gehört er zum Tafelsilber. Entweder wirft jetzt Merz Merkel hierin folgend auch noch das letzte Stück des Tafelsilbers der Union weg und ersetzt das „Christlich“ in Christlich Demokratische Union durch Chimärisch, oder die CDU verteidigt den Paragraphen, das kann sie ab er nur mit den Stimmen der AfD. In dem Fall hat Scholz sie dort, wo er sie haben will. Die öffentlich finanzierten, grünen Medien und die Kampagnepostillen der Roten und Grünen werden aufjaulen mit gespielter und bestellter Empörung, so echt wie Olaf Scholz: seht die Union macht doch gemeinsame Sache mit dem Klassenfeind, mit der AfD.

Dabei hätte Merz nicht über den Zeitpunkt der Vertrauensfrage diskutieren müssen, sondern er hätte in Absprache mit der AfD die Tagesordnung des Deutschen Bundestages bestimmen, zum Wohle und zur Rettung Deutschlands aus der Opposition heraus regieren können. Hätte er das gemacht, hätte Scholz im Stellen der Vertrauensfrage und beim Thema des Datums für Neuwahlen den Turbo eingelegt, weil jeder Tag, an dem die Opposition geführt von der Union regiert hätte, die SPD in heftige Bedrängnis geraten wäre. Um nicht mit der SPD in den Abgrund gerissen zu werden, wären die Grünen aus der Koalition geflohen. Und wie hoch auch die Wogen bestellter Empörung geschlagen hätten, würde Merz doch ein hartes Argument zur Verfügung stehen, nämlich die staatspolitische Verantwortung.

Es steht nämlich in der Verantwortung der Union, im Parlament für die deutschen Bürger zu wirken, dass sich dem andere anschließen, liegt nicht mehr in der Verantwortung der Union. Das Richtige zu unterlassen, nur weil aus einer bestimmten Sicht, die „Falschen“ das unterstützen, macht das Richtige nicht falsch, sondern verhindert nur das Richtige – und das ist falsch. Dieses Argument kann Merz nur aus der Offensive, nicht aber aus der Defensive, in die sich Merz manövriert hat, glaubhaft nutzen. Wer nicht im richtigen Moment in die Offensive geht, landet in der Defensive. Manchmal muss man eben Führung wagen, manchmal muss man eben springen.

Um es nur an einem Beispiel für viele konkret festzumachen: Die Ampel hatte im Jahr 2023, weil ihr die Turboeinwanderung in die deutschen Sozialsysteme und die Auflösung der inneren Sicherheit zu langsam gingen, als Ziel des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) die „Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern“ gestrichen. Zurecht stellte die Union fest: „Die Ampel-Koalition verabschiedete das Gesetz mitten in einer der schwersten Migrationskrisen in der Geschichte der Bundesrepublik“, dass zur Streichung des Passus der Begrenzung führte.

Die Union kritisierte: „Auf dem Höhepunkt der Migrationskrise wurde stattdessen durch das Gesetz zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung ein falsches Signal gesetzt: Bei potenziellen Asylmigranten im Ausland verfestigt sich der Eindruck, dass Deutschland die Hürden für unerlaubte Einwanderung weiter absenkt.“ Deshalb legte die Union im September 2024 das „Zustrombegrenzungsgesetz“ vor, dessen Ziel darin besteht, die „Begrenzung der Zuwanderungssteuerung wieder als ausdrückliche übergeordnete Vorgabe für die Anwendung des Aufenthaltsgesetzes“ festzulegen. Warum die Union dieses wichtige Gesetz, das nicht falsch dadurch wird, wenn die AfD ebenfalls dafür stimmt, nicht gleich nach dem 6. November auf die Tagesordnung setzte, illustriert das vollständige Versagen von Friedrich Merz. Der Mann kann nicht Bundeskanzler, ihm fehlt jede Standhaftigkeit dafür. Er badet gern lau, um ein Wort Herbert Wehners zu zitieren.

Hat Olaf Scholz Friedrich Merz gezeigt, wie Angriff ging, so belehrt ihn nun Sahra Wagenknecht, wie Opposition funktioniert: Sie will „die schädlichsten Gesetze der Ampel“ annullieren und mit Habecks GEG beginnen. Was wäre das für ein Gewinn für die deutschen Bürger! Doch warum kommt darauf nicht Friedrich Merz?

So hat Sahra Wagenknecht gegenüber RND erklärt: „Die Regierung ist handlungsunfähig, aber nicht der Bundestag. Das Heizungsgesetz ist eines der sinnlosesten und längerfristig für die Bürger teuersten Gesetze der letzten drei Jahre. Es schützt nicht das Klima, sondern steht für die Übergriffigkeit des Staates, bis in den Heizkeller der Bürger hineinregieren zu wollen.“ Wagenknechts Problem besteht nicht darin, wer mitstimmt, sondern sie will das falsche Gesetz kippen. Alle, die dabei helfen, sind willkommen: „Es gibt aktuell eine Mehrheit im Bundestag, das Heizungsgesetz wieder abzuschaffen. Diese Mehrheit sollte vor der Neuwahl genutzt werden, denn danach könnte es im schlechtesten Fall wieder eine Regierung mit den Grünen geben, was die Rücknahme unmöglich machen würde.“ Verweigert sich die Union dem, braucht sie niemand mehr, sie hat dann nur noch eine Aufgabe, den Tischler zu beauftragen, damit Robert Habeck endlich einen eigenen Küchentisch bekommt.

Friedrich Merz wollte so gern Staatsmann sein, doch vor dem Staatsmann kommt der Politiker, genauer der Machtpolitiker. In meiner Merkel-Biographie, die in wenigen Tagen erscheint, habe ich beschrieben, wie Friedrich Merz den Machtkampf gegen Angela Merkel 2004 verloren hatte, weil er politisch ein Drückeberger ist. Er hat die Ausbildung zum Politiker nie beendet, nie ein Gesellenstück vorgelegt, sondern ist geflohen. Er meinte in seiner Eitelkeit und Fehleinschätzung, noch Merkel zu schaden, indem er in einer für sie unangenehmen Situation seinen Rücktritt erklärte. Ja und? Er hinterließ eine Lücke, die Merkel noch im gleichen Moment durch zwei ihrer Leute füllte, durch Meister und Pofalla. Durch seinen Rücktritt wollte Merz Merkel politisch schaden und hat sie machtpolitisch gestärkt, eine wahre Meisterleistung.

Friedrich Merz hat seitdem offensichtlich nichts dazu gelernt.


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