Gemessen an den Umfragen der vergangenen Monate haben sich die Wählerpräferenzen inzwischen so sehr verschoben, dass am 26. September nicht mehr die Union, sondern die SPD zur stärksten Partei werden könnte. Fände die Wahl schon heute oder morgen statt, würden laut der jüngsten INSA-Umfrage 25 Prozent Wähler der SPD und nur noch zwanzig Prozent der Union ihre Stimme geben, nachdem sie bei der Wahl 2017 noch 32,9 Prozent erreichte und letztes Jahr in Umfragen sogar bei 38 Prozent lag. Für die Grünen, die in Umfragen unlängst noch 25 Prozent erreichten, würden gleichzeitig nur noch 16,5 Prozent der Wähler stimmen. Auf dem Niveau lag vor kurzem in den Umfragen noch die SPD.
Mit Blick auf die Wahl in knapp vier Wochen wurden die bisherigen Ausganspositionen der drei um das Kanzleramt buhlenden Parteien von den Befragten so gleichsam auf den Kopf gestellt. Möglich wurde dies offenkundig dadurch, dass zahlreiche Befragte, die bislang für die Grünen stimmen wollten, nun doch lieber für die SPD votieren wollen. Darüber hinaus scheinen aber auch Befragte, die bislang der Union mit Angela Merkel zuneigten, inzwischen (wieder) die SPD mit Olaf Scholz vorzuziehen. Sein Kalkül, sozialdemokratisch orientierte Merkel-Wähler, die bei den zurückliegenden Wahlen von der SPD zur CDU wanderten, (wieder) zu gewinnen, scheint teilweise aufzugehen. Der SPD ist es so gelungen, die Union von der bis vor kurzem noch als uneinnehmbar geltenden Pole-Position im Wahlkampf zu verdrängen.
Vor diesem Hintergrund stimmt die Aussage, dass sich die Umfragen bis zur Wahl erneut ändern können und die tatsächliche Stimmenverteilung zwischen Union, SPD und Grünen am 26. September anders ausfällt als die derzeitigen Umfrageergebnisse. Je näher ein Wahltermin allerdings rückt, desto näher liegen normalerweise die Umfragen am tatsächlichen Ergebnis und desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Präferenzen der Wähler noch einmal so unvermittelt ändern wie in den letzten Wochen. Sollten sie in etwa so bleiben wie in der aktuellen INSA-Umfrage, dann könnte die Union zwar mit den Grünen und der FDP rechnerisch noch eine mehrheitsfähige Koalition bilden; als, gemessen an der letzten Bundestagswahl, größter und vielleicht sogar einziger Wahlverlierer hätte sie ihren Anspruch auf das Kanzleramt aber definitiv an die SPD verloren. Olaf Scholz und nicht Armin Laschet könnte dann den Grünen und der FDP Sondierungsgespräche anbieten, die von beiden gewiss nicht abgelehnt werden (können). Auf der Ersatzbank säße die Partei die Linke für den Fall, dass es rechnerisch auch für eine rot-grün-rote Koalition reichen sollte und die anschließenden Sondierungsgespräche für eine von der SPD und den Grünen dominierte Ampel-Koalition an der FDP scheitern würden.
Die Union hingegen könnte nur für den Fall noch Koalitionsgespräche mit den Grünen und der FDP aufnehmen, wenn nicht nur die rot-grün-gelben, sondern auch die rot-grün-roten Sondierungen scheitern sollten. Da damit kaum zu rechnen ist, muss sich die Union wohl, wie schon 1998, mit der Rolle des Oppositionsführers zufriedengeben. Im Falle einer Ampel-Koalition wäre sie dann darauf angewiesen, fallweise mit der AfD und/oder der Linken, unter Umständen noch mit einigen direkt gewählten Freien Wählern (FW), Oppositionspolitik zu betreiben. Dies würde im besten Fall ihren Erneuerungsprozess, im schlechtesten aber ihren weiteren Verfall beschleunigen. Vielleicht ziehen es Armin Laschet und Markus Söder angesichts solcher Aussichten dann doch vor, Olaf Scholz die Union als Juniorpartner anzudienen, nachdem die CDU diese Rolle in Baden-Württemberg für Wilfried Kretschmann ja schon übernommen hat, um nicht zusammen mit der AfD Oppositionspolitik betreiben zu müssen. Wer von beiden dann Vizekanzler wird, müsste dann in dem gewohnt freundschaftlichen Wettstreit zwischen Laschet- und Söder-Anhängern bei CDU und CSU freilich erst noch geklärt werden.